Die Unschärfe der Welt (eBook)
224 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12000-4 (ISBN)
Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als auch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt wurde. Die Autorin lebt in Freiburg im Breisgau.
Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als auch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt wurde. Die Autorin lebt in Freiburg im Breisgau.
Lass mir das Kind.
Florentine dachte diesen Satz nicht, sie sprach ihn nicht aus. Sie überließ sich ihm. Er hatte sich ihr eingeschrieben, begleitete sie. Zunächst auf dem Pferdewagen, dann im Zug nach Arad, wo sie am Bahnhof ein Taxi zum Krankenhaus nahm. Lass mir das Kind, bitte. Der Satz tönte im Schnee, flog auf wie die Flocken am Straßenrand, rollte mit ihr auf den Schienen dahin, monoton, stoßweise. Ein dünnes, hohes Pfeifen klang wie eine Mahnung darin an. Im Taxi wurde der Satz knotig und fest, er saß ihr in der Speiseröhre, er saß ihr im Magen, in den Fäusten, im Mund. Lass, bitte.
Es schneite seit einer Woche. Zuerst kleine, unschuldig anmutende Flocken, die den Hof sprenkelten wie den Rücken eines Tieres. Sie bedeckten die Dächer der Häuser, nur am Kirchturm rutschten sie zunächst ab. Jede Flocke ein wie im Überfluss entworfenes Einzelstück, ausgeschickt, damit alles verschwand: umliegende Dörfer, Äcker, die Hügel am Horizont, schließlich der Horizont selbst. Hannes hatte aufgegeben, den Schnee im Hof zu schippen, sich darauf beschränkt, den Zugang zur Straße und den Weg zum nächsten Haus freizuhalten. Er ging dreimal täglich hinaus und nahm in Kauf, dass die Schneeberge zu beiden Seiten meterhoch anwuchsen.
Durch diese Hohlwege hatte er Florentine am Vormittag begleitet, aus dem Hof, über die Straße, an der Kirche vorbei. Ein einzelner Wagen stand an der Hauptstraße. Auf dem Kutschbock ein Mann in Pelzmantel und -mütze, eingesunken, als würde er schlafen. Florentine und Hannes tauschten einen Blick. Sie nickte. Als sie sich ihm näherten, richtete sich der Mann auf. Er stieg auf die Ladefläche, öffnete mehrere Holzfässer und pries, was sich darin befand. In einem Fass zeigten die Fischleiber alle in eine Richtung, die Bäuche silbrig, die Rücken grauschwarz, als wären sie ein Schwarm im Meer, bereit, in jedem Augenblick die Richtung zu wechseln. In einem anderen Fass waren sie sternförmig ausgerichtet, der Schwanz zur Mitte, der Kopf nach außen, Dutzende von Köpfen, Kiemen, Augen.
Hannes sagte, worum es ging, steckte dem Mann Geld zu, kaufte ihm schließlich sogar Fisch ab, damit er losfuhr. Der Fisch sollte im Müll landen. Florentine würde nach dieser Fahrt nie wieder gesalzenen Hering essen.
Der Mann gab dem Pferd die Peitsche. Hannes ging einige Schritte mit, als wollte er dem Wagen folgen. Florentine blickte zurück, bis er nach einer Wegbiegung nicht mehr zu sehen war. Kurz darauf war auch das Dorf verschwunden. Die Schlittenkufen glitten über den Schnee, das Geschirr knarrte, ein Glöckchen klingelte, hell, unablässig, und wenn sie ihren Unterleib berührte, meinte Florentine einen Ton zu hören, als bräche Glas entzwei. Jede Wegbiegung war eine Wiederkehr der vorangegangenen, jede Baumgruppe eine Wiederholung der anderen. Es gab keine Farben, keine festen Umrisse, nur das Dahingleiten des Wagens, den hellen Glockenton und den Geruch von gesalzenem Fisch. Auf offener Landstraße, wo weder Bäume noch Häuser den Wind bremsten, sah sie vor sich, wie der Schlitten vom Weg abkam. Fässer und Fische kippten, eine große Hand streute sie gleichgültig über den Schnee aus – ein grauschwarzes Muster im fortgesetzten Weiß.
Der Kutscher schwieg. Florentine bemerkte, dass er sie von der Seite musterte, längst zur Kenntnis genommen hatte, wie sie die Hände vor dem Bauch kreuzte und sich abstützte, wenn sie über holprige Stellen fuhren. Er lenkte das Pferd mitten auf die Straße, drosselte das Tempo in den Kurven – er hatte verstanden, worum es ging. Seine Augen zwischen Mantel und Fellmütze waren das Einzige, was sie sehen konnte. Weder sein Alter war zu bestimmen, noch ob sein Gesicht schön war oder ob es etwas von der Grobheit seiner Hände hatte. Florentine war ihm dankbar. Er kannte sich auf den Straßen aus, konnte sich an spärlichen Markierungen orientieren, an Sträuchern und Bäumen, die für sie bedeutungslos waren. Er wusste, an welchem Baum er abbiegen musste, wich aus, wenn sich Hindernisse andeuteten, die sie viel zu spät wahrnahm. Wahrscheinlich war er seit Jahren auf diesen Straßen unterwegs, sommers wie winters, mit gesalzenem Fisch, der ihm und seiner Familie den Lebensunterhalt sicherte.
Ausgerechnet ein Rumäne, würde ihr Vater sagen. Aber in diesem Augenblick war ihr der Mann näher als jeder andere Mensch.
Der Schnee hatte eine Helligkeit ausgesetzt, die Florentine über die Zeit schreckhaft gemacht, sie in den letzten Tagen unruhig von einem Zimmer des Hauses ins andere getrieben hatte – Zimmer, die ihr noch nicht vertraut waren. Es war, als beobachteten sie die Räume, als würden ihnen selbst geflüsterte Worte und kleine Gesten nicht entgehen, als hätte sich das Haus längst ein Bild von ihnen gemacht: eine Frau mit sommersprossiger Haut, dünn, fast schlaksig, in Schlaghosen und besticktem Leibchen. Ein Mann mit dunklem Vollbart und halblangen Haaren, der Fußball und Gitarre spielte und an die westliche Außengrenze des Landes entsandt worden war, um seine erste Pfarrstelle anzutreten. Ein Paar Mitte zwanzig, das die Abende beim Kartenspiel verbrachte. Das dem Haus mit seinen vielen Zimmern, dem Garten mit den Weinstöcken, Quitten-, Pfirsich- und Birnbäumen prüfend begegnete, ebenso wie die Dorfbewohner ihnen. Florentine war in der Stadt aufgewachsen und hatte nicht gewusst, was ein Leben auf dem Land mit sich brachte, was es ihr abverlangen würde – aber sie wollte alles daran setzen, dass dieses Experiment gelang.
Am gestrigen Nachmittag waren Jugendliche des Christkindspiels von Haus zu Haus gegangen. Alles geschah lautlos. Seit der Schnee fiel, gab es kein sich öffnendes oder schließendes Hoftor, Türenschlagen, Kinderschreien, keine Rufe über Höfe hinweg. Der Schnee hatte die Geräusche in die Häuser verbannt, selbst das Bellen der Hunde war abhandengekommen, das sich mehrmals am Tag, und jede einzelne Nacht, von einem Hund ausgehend fortsetzte, bis das Heulen das ganze Dorf erfasste. Es hörte immer von einem auf den anderen Augenblick auf, setzte eine Stille aus, die tiefer war als zuvor. Wenn Florentine etwas hätte benennen sollen, das ihr neues Leben ausmachte, so wäre es diese Stille.
Florentine hatte den Weg der Jugendlichen vom Küchenfenster aus verfolgt. Sechs in weiße Gewänder gehüllte Gestalten, zwischen den Schneebergen fast nicht zu bestimmen: Josef, Maria mit Brautschmuck, zwei Engel mit Zepter und Schwert, Ochs und Esel mit fratzenhaften Gesichtern und langen Hörnern. Als der zweite Engel Maria in den Flur des Pfarrhauses rief, hatte Florentine etwas Heißes zwischen ihren Beinen gespürt. Sie zog im Bad die Hose hinunter, Blut tropfte über ihre Schenkel auf den Kachelboden. Die Hebamme gab ihr ein blutstillendes Mittel. Als die Blutung am Morgen wiederkam, war Florentine kurzentschlossen aufgebrochen. Sie wollte ins Krankenhaus, auch wenn das Dorf durch den Schneefall vom Zugverkehr abgeschnitten war.
Auf der Fahrt zur Bahnstation dachte sie an das, was Hannes im heutigen Weihnachtsgottesdienst sagen würde: Unbesiegbar sei, wer nicht gewinnen wolle, seinen Willen dem Gottes anheim gab. Florentine war an diesem Tag nicht unbesiegbar. Sie kreuzte die Arme vor dem Bauch, presste die Oberschenkel zusammen und schloss die Augen. Aber sie fand keine Dunkelheit, nur anhaltendes Weiß.
Der Fischverkäufer wartete, bis der Zug kam. Erst später fiel ihr auf, dass sie den ganzen Weg kein Wort miteinander gewechselt hatten. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wischte sie ein Guckloch in die beschlagene Fensterscheibe. Er stand am Bahngleis, die Hände in den Manteltaschen, das Gesicht von Mütze und Kragen verhüllt. Sie nickte ihm zu und glaubte, dass auch er nickte, vielleicht aber auch nur die Hand hob; sie konnte sich, schon als der Zug den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, nicht mehr daran erinnern.
Auch jemand, dachte sie, der der einzige Mensch auf der Welt für einen gewesen war, kann verschwinden, als hätte es ihn nie gegeben.
Florentine konnte den Arzt am Fußende des Bettes zwischen den Klagen, dem Bitten und Weinen der anderen Frauen kaum verstehen.
Hatte er tatsächlich gefragt, was sie genommen hatte?
Der Arzt hatte einen kahlen Kopf und sehnige Hände, die er nur aus den Kitteltaschen zog, um sich die Nase zu putzen. Untersucht hatte sie bislang niemand.
»Nichts, ich habe nichts genommen. Ich bin hier, damit Sie das Kind retten.«
Florentine machte Anstalten aufzustehen. Eine Schwester, die neben ihrem Bett stand, drückte sie wieder zurück. Dann bequemte sich der Arzt, sie abzutasten. Er legte den Kopf auf ihren Bauch. Sie spürte sein großes, kaltes Ohr. Irgendetwas wurde gesagt, notiert, sie konnte es nicht verstehen. Der Arzt ging, ohne die anderen Frauen zu beachten....
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Baden-Württemberg • Banat • Buchhändler • DDR • Denis Scheck • Deutscher Buchpreis • Erinnerung • Erste Liebe • Familie • Flucht • Freiheit • Freundschaft • Glück • Grenzen • Grenzüberschreitung • Halt • Heimat • Herta Müller • Insel • Lebenslinie • Mauerfall • Migration • Monarchie • Norddeutschland • Obstbäume • Osteuropa • Pfarrer • Pfarrhof • Rumänien • schafhirten • Sechziger Jahre • Securitate • Siebenbürgen • Sprache • Stuttgart • Verbindung • Verlust • weinblätter • Zauberer • Zsuzsa Bánk • Zwanzigstes Jahrhundert |
ISBN-10 | 3-608-12000-9 / 3608120009 |
ISBN-13 | 978-3-608-12000-4 / 9783608120004 |
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