Tagebuch eines Verrückten (eBook)
256 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30989-0 (ISBN)
Lu Xun, geboren 1881 in Shaoxing, Provinz Zhejiang, gilt als einer der bedeutendsten modernen chinesischen Autoren. Er war Redakteur einer progressiven Zeitschrift und eine einflussreiche Persönlichkeit in der Bewegung des 4. Mai, die ab 1919 die geistige, politische und soziale Erneuerung Chinas und die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten anstrebte. Lu Xun starb 1936 in Shanghai.
Lu Xun, geboren 1881 in Shaoxing, Provinz Zhejiang, gilt als einer der bedeutendsten modernen chinesischen Autoren. Er war Redakteur einer progressiven Zeitschrift und eine einflussreiche Persönlichkeit in der Bewegung des 4. Mai, die ab 1919 die geistige, politische und soziale Erneuerung Chinas und die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten anstrebte. Lu Xun starb 1936 in Shanghai.
Das Tagebuch eines Verrückten
Die Herren X, zwei Brüder, deren Namen ich jetzt unerwähnt lasse, sind mir in früheren Tagen auf der Mittelschule gute Freunde gewesen. Doch mit den Jahren der Trennung waren die Nachrichten immer spärlicher geworden. Vor einigen Tagen hörte ich zufällig von der schweren Erkrankung des einen. Es traf sich nun, dass ich mich auf dem Weg in die Heimat befand, und so machte ich einen Umweg, um sie aufzusuchen. Ich fand jedoch nur einen von beiden vor, der mir erklärte, dass der jüngere Bruder der Kranke sei. »Sie sind«, sagte er, »von weit her gekommen, um uns mit Ihrem Besuch zu beehren. Doch mein Bruder ist nun schon seit Langem wieder genesen und hat sich nach X zur Übernahme eines Amtes begeben.« Daraufhin holte er unter großem Gelächter zwei Bände eines Tagebuches hervor, die er mir in die Hand drückte. Man könne darin Aufschluss über den damaligen Krankheitszustand gewinnen. Mir als einem alten Freunde vertraue er sie ohne Weiteres an. So nahm ich sie mit auf den Weg, und nach der Lektüre war mir klar, dass der betreffende Bruder an einer Art Verfolgungswahn gelitten haben musste.
Sprachlich waren die Tagebücher verworren und zusammenhanglos, vieles wirkte ganz einfach absurd. Auch hatte es ihr Verfasser versäumt, Daten anzugeben, sodass man nur aufgrund der Uneinheitlichkeit von Tusche und Zeichen auf unterschiedliche Zeiten der Abfassung schließen konnte. Es gab jedoch auch zusammenhängende Teile, die ich nun in einer Auswahl der medizinischen Fachwelt zum Studium vorlege. Fehler in den Aufzeichnungen habe ich grundsätzlich nicht verbessert. Lediglich die Personennamen habe ich geändert, obwohl es sich bei den Betreffenden um Leute vom Lande handelt, welche in der Öffentlichkeit unbekannt und ohne jeden Belang sind. Den Titel hat der Verfasser nach seiner Genesung gewählt, ich habe nichts daran geändert.
I
Ein schöner Mond heute Abend.
Mehr als dreißig Jahre habe ich ihn nicht gesehen. Sein Anblick heute ist ein seltenes Vergnügen. Nun erst weiß ich: Die letzten mehr als dreißig Jahre waren ausnahmslos eine Zeit der Finsternis. Aber ich muss auf der Hut sein. Wieso hätte sonst der Hund der Familie Zhao ein Auge auf mich geworfen?
Ich habe Grund zur Furcht.
II
Heute gibt es überhaupt kein Mondlicht, ich weiß, das ist ein schlechtes Zeichen. Als ich heute Morgen mit aller Vorsicht aus dem Haus trat, schaute mich Altwürden Zhao seltsam an: als wenn er mich fürchtete, als wenn er daran dächte, mir ein Leid anzutun. Da waren dann noch sieben oder acht, die steckten die Köpfe zusammen und tuschelten über mich, doch fürchteten sie, ich könnte es bemerken. Die Leute auf der Straße verhielten sich alle so. Der Bösartigste unter ihnen hatte sein Maul aufgesperrt und grinste mich an. Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. Mir war klar, sie hatten ihre Vorbereitungen bereits getroffen.
Doch ich hatte keine Angst und setzte meinen Weg gelassen fort. Ein paar kleine Kinder vor mir tuschelten ebenfalls über mich. Sie hatten denselben Blick wie Altwürden Zhao, und auch ihre Miene war von abweisender Kälte. Ich überlegte, was diese Kinder wohl gegen mich haben mochten, dass sie sich so benahmen. Ich konnte nicht mehr an mich halten und fuhr sie mit lauter Stimme an: »Sagt es mir!« Doch sie machten sich auf und davon.
Was mag Altwürden Zhao gegen mich haben, was erst recht die Leute auf der Straße?, frage ich mich. Dass ich vor zwanzig Jahren die Geschäftsbücher des Herrn Feudal mit Füßen getreten habe, scheint mir die einzig plausible Erklärung, denn Herr Feudal war darüber äußerst ungehalten. Wenn Altwürden Zhao mit ihm auch nicht bekannt war, so muss er dennoch von der Sache Wind bekommen und sie als persönliche Schmach empfunden haben, sodass er sich mit den Leuten auf der Straße gegen mich verschworen hat. Aber die kleinen Kinder? Sie waren doch noch gar nicht geboren, wieso schauen sie mich heute ebenfalls so seltsam an, als wenn sie mich fürchteten, als wenn sie mir ein Leid antun wollten? Das alles macht mir Angst, es schreckt mich und schmerzt.
Ich begreife. Die Eltern haben es ihnen beigebracht.
III
Ich kann nachts nicht schlafen. Alles muss erwogen werden, dann erst lässt sichs verstehen.
Sie haben sich vom Landrat ins Joch stecken lassen, sie haben sich von der Gentry ins Gesicht schlagen lassen, ihre Frauen wurden ein Opfer der Amtsbüttel, ihre Eltern wurden von den Gläubigern in den Tod getrieben, aber nie waren ihre Mienen so ängstlich und böse wie gestern. Am merkwürdigsten war die Frau gestern auf der Straße. Sie schlug ihren Sohn und schrie ihn an: »Du bist wie der Alte! Ich könnte dich zerfleischen, erst dann hätte ich Ruhe!« Dabei hielt sie jedoch ihre Augen auf mich gerichtet. Ich war bestürzt und unfähig, mich zu verstellen. Die Leute mit den schwarz-grünen Gesichtern und den Hauerzähnen grölten vor Lachen. Chen Laowu preschte nach vorn und begann, mich mit festem Griff heimwärts zu ziehen.
Nachdem er mich nach Hause gezerrt hatte, taten die daheim alle so, als würden sie mich nicht kennen. Ihr Blick unterschied sich in nichts von dem der anderen. Nachdem ich mich ins Studierzimmer begeben hatte, wurde hinter mir die Tür zugeschlossen, als sperrte man ein Huhn oder eine Ente ein. Das alles gab mir noch mehr Rätsel auf.
Vor ein paar Tagen ist der Pächter aus Wolfsjungendorf gekommen, um über die dortige Dürre Bericht zu erstatten. Meinem Bruder erzählte er bei der Gelegenheit, man habe einen äußerst üblen Kerl im Dorf zu Tode geprügelt. Einige hätten sein Herz und seine Leber herausgerissen, in Öl gebraten und aufgegessen, um so ihren Mut zu stärken. Als ich mir eine Bemerkung erlaubte, warfen mir der Pächter und mein Bruder ein paar Blicke zu. Heute erst weiß ich, ihre Augen waren genauso wie die der Leute auf der Straße.
Der bloße Gedanke daran jagt mir eiskalten Schauer über den Rücken. Sie sind in der Lage, Menschen zu fressen, warum dann nicht auch mich? Ganz offensichtlich handelt es sich bei den Worten jener Frau (»Ich könnte dich zerfleischen!«), bei dem Gelächter der Leute mit den schwarz-grünen Gesichtern und den Hauerzähnen und auch bei dem, was der Pächter sagte, um Geheimzeichen. Ja, ich habe es erkannt, ihre Worte sind nichts als Gift, in ihrem Lachen lauern die Messer, ihre Zähne, diese weiß blitzenden Reihen, sind nur dazu da, um Menschen zu fressen.
Wenn ich mich auch für keinen schlechten Menschen halte, so scheint mein Ruf doch angeschlagen zu sein, seit ich die Geschäftsbücher der Familie Feudal mit Füßen getreten habe. In den Leuten geht etwas vor, auf das ich mir einfach keinen Vers machen kann. Überdies ist in ihren Augen jeder, der ihnen nicht genehm ist, ein Übeltäter. Ich erinnere mich noch, wie mein Bruder, der mich im Aufsatz unterrichtete, immer die Passagen mit einem Kringel versah, in denen ich jemanden, und war er noch so gut, schlechtmachte. Fand ich jedoch für einen Tunichtgut Worte der Entschuldigung, dann sagte er: »Du stellst die Dinge auf den Kopf, das ist ungewöhnlich.« Wie kann ich wissen, was eigentlich in ihnen vorgeht, zumal sie Menschen fressen wollen?
Alles muss erwogen werden, erst dann lässt sichs verstehen. Dass man seit alters Menschen gefressen hat, war mir noch in Erinnerung, allerdings nur vage. Ich bin daher die Geschichtsbücher durchgegangen; sie waren ohne Jahresangaben, und auf jeder Seite standen krumm und schief die Worte »Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend« gekritzelt. Da ich ohnehin nicht schlafen konnte, las ich aufmerksam die halbe Nacht, bis ich zwischen den Zeilen die zwei Worte erkannte, aus denen jedes Buch bestand: »Menschen fressen«!
All die Zeichen in den Büchern, all die Worte des Pächters starren mich mit einem seltsamen Grinsen an.
Ich bin auch ein Mensch, sie wollen mich fressen!
IV
In der Frühe saß ich einen Moment still für mich da. Chen Laowu brachte das Essen herein, eine Schale Gemüse, eine Schale gedämpfter Fisch. Die Augen des Fisches waren weiß und hart. Mit seinem geöffneten Maul glich er Leuten, die Menschen zu fressen gedenken. Nach ein paar Bissen wusste ich nicht, ob das glitschige Zeug in meinem Mund Fisch oder Mensch war, so erbrach ich alles.
»Laowu, sag dem Bruder, mir fällt die Decke auf den Kopf, ich möchte im Garten ein wenig auf und ab gehen.« Laowu zeigte keinerlei Reaktion und ging weg. Nach einer Weile kam er jedoch wieder und öffnete die Tür. Doch ich machte keinerlei Anstalten, in den Garten zu gehen, sondern überlegte, welche Maßnahmen sie wohl für mich treffen würden, wusste ich doch, dass sie keinesfalls zur Nachgiebigkeit bereit waren. Tatsächlich! Mein Bruder kam behutsam mit einem alten Mann ins Studierzimmer. Aus Furcht, ich könnte den wölfischen Blick in seinen Augen sehen, hielt er den Kopf gesenkt und betrachtete mich heimlich über die Ränder seiner Brille. »Dir scheint es heute gut zu gehen«, meinte mein Bruder.
»Ja«, antwortete ich.
»Ich...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2020 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Asien • China • Denis Scheck Literaturkanon • Erzählungen • Klassiker • Menschenfresser • Moderne chinesische Literatur |
ISBN-10 | 3-293-30989-5 / 3293309895 |
ISBN-13 | 978-3-293-30989-0 / 9783293309890 |
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