»Meine geheimnisvolle Heimat« (eBook)
300 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-75203-5 (ISBN)
Nur zweimal besuchte Rainer Maria Rilke das Land, das ihm zeitlebens Heimat und Sehnsuchtsort zugleich bleiben sollte: 1899 gemeinsam mit Lou Andreas-Salomé für zwei Monate und 1900 für knapp vier Monate. Doch diese Reisen stellen eine der wirkmächtigsten Auslandserfahrungen der deutschen Literaturgeschichte dar und lösten einen bedeutenden Kulturtransfer zwischen Ost und West aus.
Die intensive Beschäftigung mit den »russischen Dingen« hat zu einer Vielzahl von Spuren im Werk Rilkes geführt, in seiner Prosa und den Gedichten ebenso wie in seinen Essays, Briefen und Tagebüchern. Die hier vorgelegte Auswahl dokumentiert das Erweckungserlebnis, das Russland für Rilke in persönlicher, künstlerischer und spiritueller Hinsicht bedeutete, auf eindrucksvolle Weise.
<p>Rainer Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Nach dem Abbruch der Militärschule studierte er Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie in Prag, München und Berlin und schrieb Gedichte. Nach einer Liaison mit der verheirateten Lou Andreas-Salomé und heiratete er 1901 Clara Westhoff, die Scheidung folgte schon im folgenden Jahr. Aus Geldnot nahm Rilke Auftragsarbeiten an und reiste 1902 nach Paris, wo das Gedicht<em> Der Panther</em> entstand. Rilke unternahm Reisen nach Nordafrika, Ägypten und Spanien. Rilkes Tagebuchroman <em>Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge</em> wurde 1910 veröffentlicht. 1919 siedelte er in die Schweiz über. In den 1920er Jahren erkrankte er an Leukämie und verstarb schließlich am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux in der Schweiz. </p> <p>Rainer Maria Rilke ist einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache. Seit dem Jahr 1900 ist er Autor des Insel Verlages, sein Werk wird hier geschlossen betreut.</p>
VI.
Die erste Reise hatte etwa sieben Wochen gedauert; den größten Teil verbrachte man in St. Petersburg. Die zweite Reise, die Rilke ein Jahr später mit Lou Andreas-Salomé allein unternehmen durfte, war mehr als doppelt so lang und führte auch in die Ukraine und an die Wolga. Durch Briefwechsel, Erinnerungen Dritter und vor allem durch Andreas-Salomés Reisetagebuch lässt sich diese Tour recht genau rekonstruieren. Bilder hingegen sind, obgleich eine Reihe von Briefen dafür spricht, dass Rilke fotografiert haben muss, nicht erhalten geblieben.
Ausgangspunkt war abermals Moskau, in dem das Paar am 9. Mai 1900 ankam. Sich selbst und seiner Begleiterin hatte Rilke in der »weißsteinernen Stadt« (S. 143) ein umfangreiches Kulturprogramm auferlegt, in dem die Galerien den Schwerpunkt bildeten. Unbedingt wollte man auch Lew Tolstoi wiedertreffen, der allerdings nicht in Moskau weilte. So brach man nach dreieinhalb Moskauer Wochen auf gut Glück in Richtung Tula auf, in dessen Nähe Tolstois Landgut Jasnaja Poljana lag. Auf dem Weg dahin kam es zu einem zufälligen, aber gleichwohl folgenschweren Wiedersehen mit Leonid Pasternak, der von seinem zehnjährigem Sohn Boris begleitet wurde. Diese Begegnung mit Rilke, die einzige, wird der spätere Literaturnobelpreisträger für sich selbst als richtungsweisend ansehen.
Lebenslang nachhallen wird auch Rilkes zweites Treffen mit Tolstoi am 1. Juni 1900. Gemeint ist jener legendäre Spaziergang in Jasnaja Poljana, der trotz aller Widersprüchlichkeiten in die Weltliteratur eingegangen ist und sich sogar als gelungener Akt internationaler Verständigung interpretieren ließ. So zählte Bundeskanzler Helmut Kohl, als er 1994 die russischen Streitkräfte nach fast 50 Jahren aus Deutschland verabschiedete, diese Dichter-Begegnung unter die guten Beispiele deutsch-russischer Beziehungen.
Auf dem Landgut, wo der »Graf im Arbeiterkittel« äußerlich noch stärker der Vorstellung vom ewigen Russen entsprochen haben muss als in Moskau, blieb Rilke erneut Randfigur. Der alte Dichter unterhielt sich vor allem mit Lou Andreas-Salomé. Als der junge Gast schließlich gefragt wurde, so die Freundin in ihren Erinnerungen, womit er sich denn eigentlich befasse, antwortete dieser schüchtern: »Mit Lyrik.« Daraufhin soll von Tolstois Seite eine »temperamentvolle Entwürdigung jeglicher Lyrik auf ihn niedergeprasselt« (S. 155) sein. Einige Jahre später behauptete Rilke jedoch, er habe sich mit seiner Antwort den Respekt des fast 50 Jahre Älteren erworben und dessen Blick standgehalten.
Der junge Dichter, für den das Künstlertum gerade in Russland ans Licht drängte, traf dort auf einen Tolstoi, der alles in Frage gestellt hatte, was er selbst unter Kunst verstand. Sein ewiger Russe hatte der Dichtung längst den Rücken gekehrt. In dem Essay ›Was ist Kunst?‹, von dem die Beunruhigung Rilkes ausging, hatte Tolstoi vom Künstler gefordert, er solle mit seinen Werken allein der moralischen Verbesserung der Menschen dienen. Rilke indes ging es nicht um die Wirkung, sondern um das Wesen der Kunst: Sie sei, schrieb er ganz im Geiste Nietzsches, »das Mittel Einzelner, Einsamer, sich selbst zu erfüllen«.34 Rilke wusste sehr wohl von diesem entscheidenden Abstand zwischen sich und dem großen Russen. Er kannte dessen Position und mutmaßte schon nach der ersten Reise, beim Verfassen der ›Auferstehung‹ müsse eine »übermenschliche Gewalt« am Werke gewesen sein; der Roman sei nämlich nicht durch den Einsatz von Tolstois »große[m] Künstlertum« entstanden, »sondern in einem steten Kampf gegen dasselbe« (S. 139).
Rilke wird das Gespräch mit dem alten Tolstoi bis kurz vor seinen Tod immer wieder aufnehmen, stand bei den beiden prekären Begegnungen in Moskau und Jasnaja Poljana für ihn doch jeweils das Höchste auf dem Spiel – bei der ersten seine Gottsuche und bei der zweiten sein Dichtertum. Tolstoi war für Rilke weit mehr als nur das »Eingangstor zu Rußland« (S. 155); – er zwang den jungen Dichter in eine Sohnesrolle. Um sich diesem Vater zu entziehen, kehrte Rilke in zwei bezeichnenderweise wieder gestrichenen Entwürfen für das Schlusskapitel seines einzigen Romans, ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, noch einmal nach Jasnaja Poljana zurück. Dort tritt ein Greis auf, der »seine innerste Aufgabe zu ersticken versucht« (S. 325) hat.35 Erst 1924 kritisierte Rilke dann offen Tolstois »unterdrückte[s] und verleugnete[s] Künstlertum« (S. 365).
Nach dem aufregenden Kurzaufenthalt bei Tolstoi führte die Reise weiter nach Kiew, wo das Paar etwas von den »ältesten russischen Stimmungen« zu entdecken hoffte. Enttäuscht notierte Andreas-Salomé: Man denke beim Anblick von Kiew »an Warschau, Petersburg, sogar an Wiesbaden, doch nicht an Rußland«,36 und Rilke befand in ähnlicher Weise, die einstige altrussische Hauptstadt sei »polnisch d.h. international geworden« (S. 156). Das Paar blieb dennoch gut zwei Wochen. Man besichtigte u.a. die Ausmalungen der Wladimir-Kathedrale durch den geschätzten Victor Wasnezow – »ein glänzendes Zeugnis [...] für die Lebendigkeit des russischen Gottes« (S. 122). Rilke hatte es jedoch insbesondere »das heiligste Kloster im ganzen Reiche« (S. 156) angetan, das Höhlenkloster mit seinen mumifizierten Mönchen und seinen vielen Pilgern, das er nicht nur einmal besuchte. Im zweiten Teil des ›Stunden-Buchs‹, im ›Buch von der Pilgerschaft‹, werden sich Rilkes Frömmigkeitserlebnisse am Dnjepr literarisch niederschlagen. Eine Differenz zum Russischen hat Rilke in der Ukraine nicht gesucht, sondern ausschließlich das Gemeinsame. Dennoch haben seine späteren Gedichte ›Karl der Zwölfte von Schweden reitet in der Ukraine‹ und ›Sturm‹ ebenso einen merklichen Bezug auf eine eigene ukrainische Tradition wie die Figur des blinden Sängers, des Kobzar, den Rilke als verlässliche Institution der mündlichen Überlieferung in einigen seiner Texte jener frühen Jahre auftreten lässt.
Auf Kiew folgte der Höhepunkt des zweiten Aufenthalts: die achttägige Wolgareise, die in Saratow startete und in den Norden bis nach Jaroslawl führte. Für Rilke muss diese Reise eine ungekannte, ja überwältigende Sinneserfahrung gewesen sein – ähnlich dem Urerlebnis im Kreml, als die Glocken von Iwan Weliki, dem größten der dortigen Glockentürme, ihn erschütterten. Angesichts der schier unbegrenzten, von der westlichen Zivilisation unberührten Wolga-Landschaft mit ihren fernen Horizonten und riesigen Wolkengebirgen notierte er, ihm sei gewesen, als hätte er Gott bei »der Schöpfung zugesehen« und »alle Dimensionen« (S. 172) neu lernen müssen. Und auch Rilkes Begleiterin, die sich ihr Herkunftsland jetzt erst eroberte, gingen beim Anblick der Wolga die Augen über.37 Sie erlebte Russland in jenen Tagen »so überwältigend wirklich«, dass sie »nie wieder – außer in individuellsten Einzelerlebnissen – etwas von ähnlicher Stärke der Eindrücke erfuhr«. Das Paar steigerte sich gegenseitig in einen Wahrnehmungsrausch: »Das Außerordentlichste der Wirkung an diesem Doppelerlebnis«, so Andreas-Salomé, »lag aber darin, daß uns in den gleichen Momenten und an den gleichen jeweiligen Gegenständen aufging, wessen jeder von uns bedurfte.«38 Ihr Bedürfnis hielt auch nach der Reise an, als sie am Neujahrstag 1901 in ihr Tagebuch schrieb: »Heut möcht ich Glocken, – den Иванъ Великій [Iwan Weliki] selber möcht ich vom Kreml läuten hören. Aller Neu-Anfang […] sollte wie unter Glockengeläut geboren werden.«39 Die beiden gemeinsamen Reisen nach Russland hätten in Rilke und ihr »die immer höher steigende Sehnsucht dorthin zustande gebracht«.40
Nach dem Ende der Wolgafahrt und um endlich das ersehnte »Stückchen Leben im russischen Dorf« (S. 160) am eigenen Leib zu erfahren, verbrachte das Paar einige Nächte in einer Isba – die Erfüllung eines Wunsches, die fast misslang. Diese schlichte Bauernhütte war für Rilke geradezu ein Sinnbild seines Russlands; und Andreas-Salomé phantasierte, man sehe in jeder Isba »unwillkührlich« ...
Erscheint lt. Verlag | 21.6.2020 |
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Co-Autor | Julia Maas |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 50plus • Anna Achmatowa • Ausstellung • Begleitbuch • Best Ager • Briefe • Erweckungserlebnis • Gedichte • Generation Gold • Geschichten • Geschichten vom lieben Gott • Golden Ager • Heimat • insel taschenbuch 4593 • IT 4593 • IT4593 • Leonid Pasternak • Lou Andreas-Salomé • Moskau • Rentner • Rentnerdasein • Ruhestand • Russland • russlandreise • Senioren • Sowjetunion • Tolstoi • Wolga |
ISBN-10 | 3-458-75203-X / 345875203X |
ISBN-13 | 978-3-458-75203-5 / 9783458752035 |
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