Kreuzberg Blues (eBook)
416 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31864-7 (ISBN)
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht - und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet.
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht – und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet.
Volta, Kalifornien
Susan Miller mag die Deutschen nicht. Diese steifen Assholes, die vor ihr sitzen und den Blick senken und hoffen, dass der Zorn des allmächtigen Gottes Blackhill sie nicht trifft. Hinter diesen gesenkten Blicken vermutet sie immer etwas Lauerndes, etwas Gefährliches, etwas unterdrückt Aggressives. Wahrscheinlich verspüren sie gerade wieder den Drang, in Polen einzumarschieren, denkt sie. Nichts Offenes ist an ihnen. Kein Rock’n’Roll. Keiner ist cool. Nur der Jüngste, der ist ihr aufgefallen. Er wirkt einerseits teigig aufgeschwemmt und gleichzeitig unangenehm brutal. Wenn er angespannt ist, werden seine beiden oberen Schneidezähne sichtbar und ruhen dann auf seiner dicken Unterlippe. Das sieht eklig aus. Alles an diesem Mann stößt sie ab. Trotzdem hat sie ihn ausgewählt. Seine Rücksichtslosigkeit, denkt sie, ist genau das Richtige, genau das, was Blackhill jetzt braucht, um die Deutsche Eigentum auf die nächste Stufe ihrer Entwicklung zu katapultieren. Michael Bertram soll der neue CEO in diesem Laden werden. Er muss dafür sorgen, dass in Berlin endlich der Rubel rollt. Susan Miller lächelt über diesen Gedanken. Der Dollar, verbessert sie sich selbst. Der Dollar muss endlich rollen in Berlin.
Große Änderungen sind erforderlich. Der Rücksichtlose hat es begriffen. Jetzt ist sie sicher: Bertram ist ihr Mann. Sie wird ihm ein paar Monate geben. Dann wird man weitersehen. Vorerst wird sie in dieser kalten Stadt bleiben. Sie schüttelt sich innerlich, und plötzlich muss sie an Volta denken, das gottverlassene Kaff in der kalifornischen Einöde, weit weg vom Pazifik, weit weg von Beach Boys, Strand, Surfen und weit weg vom California Dreaming, das sie nur aus Songs wie den von The Mamas & The Papas kannte. Ihr gottverlassenes Heimatdorf. Die größte Attraktion war der Highway 5, der in der Nähe verlief und mit dem konstanten Brummen der Trucks schon früh ihr Sehnsuchtsziel gewesen war. Sie wohnte mit ihrer Mutter in dem kleinen blau gestrichenen Holzhaus in der 2. Straße. Ihre Mutter hatte das Haus von ihrem Vater geerbt, der für einen Hersteller von Tomatensoße, dem einzigen größeren Arbeitgeber im Ort, die Trucks be- und entlud. Er hatte sein Leben lang hart geschuftet und war entsprechend früh gestorben. Sie erinnerte sich nur noch ungenau an ihn: einen dicken Mann mit rauen Händen und einem Schnauzbart, auf den jedes Walross stolz gewesen wäre. Ich habe ihn gemocht. Die Erinnerung an den Großvater ist undeutlich. Aber ich habe ihn gemocht, beschließt sie.
Die Mutter war Künstlerin. Sie malt noch heute. Doch weil sie selten ein Bild verkauft, übermalt sie die immer gleichen Leinwände wieder und wieder. Bis die getrockneten Farbbrocken abfallen. Malen – das war ihre Flucht. Weit ist sie nicht gekommen. Sie wohnt noch immer in dem blauen Holzhaus im kalifornischen Staub. Susans Vater floh aus Volta, vor ihrer Mutter und vielleicht auch vor ihr, als sie fünf Jahre alt war. Auch er ein Künstler. Seine Spezialität waren Mobiles, die er aus Treibholz zusammenfügte, das er bei langen Ausflügen zum Pazifik sammelte. Diese Ein-, manchmal Zweitagesreisen gehören zum Schatz ihrer Erinnerungen an die Kindheit. Sie liefen stundenlang über die leeren Strände, und sie rannte vor und zurück, suchte Holzstücke für seine Mobiles. Zwei hängen immer noch in Mutters Atelier. Der Vater verschwand nach Sausalito. Mit seinen monatlichen Schecks wurden die abblätternde blaue Farbe an den Außenwänden des Hauses erneuert, Susans Frühstücks-Kelloggs, ihre Schulbücher und Mutters italienische Espressomaschine bezahlt. Der Rest ihrer Kindheit war eine langweilige, sich endlos dehnende Zeit an der Elementary School in Volta und eine schlimme Zeit an der Los Banos Adventist School.
Ihre Unschuld verlor sie mit fünfzehn auf dem Rücksitz eines alten Fords. Joseph war ein cooler Junge aus Los Banos, mit engen schwarzen Jeans, schwarzen Cowboystiefeln aus Schlangenleder (angeblich: schwarze Mamba; in Wirklichkeit war es ein Imitat aus Kuhleder, aber das erfuhr sie erst später) und konkreten Fluchtideen nach San Francisco. Sie war ein antriebsloses, schwabbeliges Geschöpf, und sie konnte sich nicht erklären, was ein Typ von ihr wollte, dem die halbe Schule hinterherlechzte. Der erste Sex war nicht spektakulär, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Immerhin tat es weniger weh, als sie befürchtet hatte. Doch der Geruch in dem Ford war schrecklich. Als es vorbei war, kurbelte sie das Fenster herunter und fragte ihn, warum in Gottes Namen es in diesem Auto so fürchterlich stank. Joseph grinste verlegen und deutete auf die Decke auf dem Rücksitz. Da lägen sonst immer die beiden Terrier seines Vaters. Für einen Augenblick starrte sie ihn fassungslos an. Dann entdeckte sie die stinkenden kurzen, harten Haare der Hunde zwischen ihren eigenen. Etwas knetete ihren Magen, ihr wurde schlecht, sogar schwindelig, und heute noch denkt sie mit großer Genugtuung daran, dass sie ihm auf den nackten, schlappen Schwanz kotzte.
Die heilsamste Wirkung ihrer Entjungferung war jedoch, dass ihr unmissverständlich klar wurde: Sie musste weg aus Volta, sie musste weg aus Los Banos und all der schrecklichen Ödnis ihres Lebens. Am nächsten Tag schrieb sie ihrem Vater einen Brief, und nur drei Tage später fuhr er in einem schicken Honda vor und nahm sie mit nach Sausalito.
Sie hatte gedacht, ihr Vater sei ein hungernder Künstler, ein Hippieverschnitt wie ihre Mutter, dünn, mit langen, selten gewaschenen Haaren. So ähnlich hatte sie ihn jedenfalls in Erinnerung und so sah er auf den Fotos ihrer Mutter aus, die im Wohnzimmer hingen. Doch sie hatte sich getäuscht. Jeff Miller war immer noch im Strandgutbusiness, doch mittlerweile stellte er Särge her.
Ihr Vater wohnte in einem schicken kleinen Bungalow in der Turney Street. Wenn sie auf der leicht abschüssigen Straße stand, konnte sie das Meer sehen. In wenigen Minuten waren sie im Lighthouse Café, wo ihr Vater jeden Morgen frühstückte und einen Cappuccino trank.
»Ich habe in Sausalito mehr Mobiles verkauft als in Volta oder Los Banos«, erzählte er ihr auf der Fahrt. »Aber hier war alles so viel teurer, sodass ich genauso wenig Geld hatte wie vorher, nämlich keines. Eine Zeit lang versuchte ich es mit Schnitzereien und behauptete, das sei Navajo-Kunst. Indianische Kunst aus Treibholz. Das lief schon besser, und ich konnte einen kleinen Laden aufmachen. Eines Tages stand ein Mann in meinem Laden. Gut angezogen. Schon älter. Hellgelb gefärbte Brillengläser. Grauer Bart und so. Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher. Die Frau seines Freundes sei gestorben, und sie habe verfügt, dass sie in einem Sarg aus Treibholz begraben werden wollte. Ob ich so einen Sarg bauen könnte. Yes, Sir, sagte ich. Es ist nur eine Frage des Geldes. Und geht das auch schnell, fragte er. Auch das, antworte ich ihm, ist nur eine Frage des Geldes. Die Frau seines Freundes war in ihrer Jugend eine berühmte Schauspielerin gewesen, und ihr Mann hatte eine große Künstleragentur in Los Angeles. Ich mietete einen Pick-up, fuhr die Strände ab, sammelte angeschwemmte Bäume, ließ Bretter daraus schneiden, schuftete zwei Nächte und zwei Tage, baute den Sarg, so gut ich konnte, stopfte den Boden und die Lücken zwischen den Brettern mit Moos aus und verdiente zum ersten Mal in meinem Leben richtig viel Geld. Ich war stolz, deiner Mutter einen fetten Scheck schicken zu können.«
»Ich glaube, sie hat dann diese italienische Espressomaschine gekauft.«
»Das hat sie gut gemacht.«
»Und dann bist du ins Sarggeschäft eingestiegen?«
»Yep. Ich schaltete kleine Anzeigen. In der Bay City News, im California Crusader Newspaper und sogar im San Fransisco Chronicle. Es kam der zweite Auftrag von einem Künstlerpaar; der Vater der Frau war gestorben. Er hatte sie enterbt. Sie hassten ihn, und ihre Rache bestand darin, ihn in einem Treibholzsarg unter die Erde zu bringen.«
Sie lachten, und Susan griff nach der Hand ihres Vaters. Er war so lustig und so ganz anders, als wenn Mutter dabei war. Er roch gut, kein Vergleich mit Joseph und dessen stinkender Hundedecke.
»Dann schlug die Welle der Nachhaltigkeit unerbittlich zu, und reiche Leute fanden es schick, ihre Angehörigen in Särgen aus Treibholz zu begraben. Es kamen massenhaft Leute aus den neuen Computerfirmen, die ihre Eltern, die sich nichts mehr als einen glänzenden, lackierten Sarg aus Eiche gewünscht hätten, nun in coolem Treibholz begruben.«
Er lachte fröhlich.
»Weißt du, was dann das Problem war?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Überleg mal.«
Sie dachte angestrengt nach, doch ihr fiel nichts ein. Sie kam sich plötzlich dumm vor.
»Na, dann sag ich’s dir. Ich fand bald nicht mehr genug Treibholz für all die Aufträge.«
Susans Vater nahm sie mit in seine Werkstatt. Drei Mexikaner rührten in einem Kessel irgendeine Brühe an. Es roch nicht gut.
»Bleichmittel«, sagte ihr Vater. »Riechst du es?«
»Allerdings«, sagte sie und kräuselte die Nase.
»Wir legen neue Bretter hinein, und zwei Tage später sehen sie so aus, als hätte der Pazifik sie drei Jahre lang in der Mangel gehabt. Perfekt gebleicht.«
»Dad, betrügst du deine Kunden?!«
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Wasserstoffperoxid heißt das Wundermittel. Einfach anzuwenden, keine Rückstände. Nach zwei Tagen verwandeln sich die Rückstände in Sauerstoff. Alles öko und so weiter.«
»Dad, du...
Erscheint lt. Verlag | 8.10.2020 |
---|---|
Reihe/Serie | Dengler ermittelt |
Dengler ermittelt | Dengler ermittelt |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 10. Fall • Berlin • Dengler • Die schützende Hand • Finanzinvestor • Gentrifizierung • Immobilienhai • Immobilienmarkt • Mietpreisbremse • Privatdetektiv • Spekulant • SPIEGEL-Bestseller |
ISBN-10 | 3-462-31864-0 / 3462318640 |
ISBN-13 | 978-3-462-31864-7 / 9783462318647 |
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