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Die Expedition zu den Wächtern u. Sprengmeistern -  Botho Strauß

Die Expedition zu den Wächtern u. Sprengmeistern (eBook)

Kritische Prosa
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00142-8 (ISBN)
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Wovon dieses Buch auch erzählt, was es auch einkreist, fixiert und beschreibt, immer geht es um eine Neubewertung des uns Vertrauten. In der Literatur wie in der Malerei, auf der Bühne, in der Politik: Als der Theater-Avantgardismus sich selbst erst so richtig zu feiern begann, sah Botho Strauß in ihm nur noch verstaubten Akademismus. Als der literarische Kanon der Bundesrepublik endlich festzustehen schien, forderte er gleich einen neuen, der Rudolf Borchardt, Konrad Weiss und Ernst Jünger einschlösse. 'Man kann tun, was man will', schreibt er, 'irgendwann zerbricht jede Form, und die Zeit läuft aus ...' Das ist der Moment, den diese Aufsätze wieder und wieder festhalten. Von hier schauen sie nach vorn, in die kommende Unbestimmtheit hinein, gleichzeitig aber immer auch zurück in die Geschichte. So ist auch 'Anschwellender Bocksgesang' entstanden, der, wie es regelmäßig heißt, umstrittenste, folgenreichste und damit wichtigste Essay der letzten siebzig Jahre; das gleiche lässt sich von diesem essayistischen Werk aber auch im ganzen sagen. Für dieses Buch hat Botho Strauß es vollständig neu geordnet und überarbeitet.

Botho Strauß, geboren 1944 in Naumburg/Saale, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Essayisten unserer Zeit. Sein Werk wurde mit vielen Preisen gewürdigt, darunter auch mit dem Büchner-Preis. Er lebt in der Uckermark und in Berlin.

Botho Strauß, geboren 1944 in Naumburg/Saale, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Essayisten unserer Zeit. Sein Werk wurde mit vielen Preisen gewürdigt, darunter auch mit dem Büchner-Preis. Er lebt in der Uckermark und in Berlin.

Erster Teil Literatur


Der Aufstand gegen die sekundäre Welt Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit


1991

The prologues are over. It is a question, now,

Of final belief.

Wallace Stevens, ‹Asides on the Oboe›

Wir haben Reiche stürzen sehen binnen weniger Wochen. Menschen, Orte, Gesinnungen und Doktrinen, von einem Tag auf den anderen aufgegeben, gewandelt, widerrufen. Das Unvorhersehbare hatte sich sein Recht verschafft und zerschnitt das scheinbar undurchdringliche Geflecht von Programmen und Prognosen, Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten. Es belehrte alle, daß es der Geschichte sehr wohl beliebt, Sprünge zu machen, ebenso wie der Natur. Obgleich in diesem Zusammenhang keine Partikel häufiger verwendet wurde als das Präfix «wieder», ging es doch am allerwenigsten um Wiederherstellung oder Wiederkehr. Was geschah, besaß vielmehr etwas von jener Ereigniskraft, die man in den biologischen Wissenschaften mit dem Ausdruck «Emergenz» bezeichnet: etwas Neues, etwas, das sich aus bisheriger Erfahrung nicht ableiten ließ, trat plötzlich in Erscheinung und veränderte das «Systemganze», in diesem Fall: die Welt.

Die Revolution, die stattfand, oder eben: die emergence, die Summe von vielerlei Zerfalls-, Druck- und Widerstandsformen, mußte von Anfang an als ein Aufbruch ins Bestehende, in den Westen, gelten, und seine Dynamik wird sich in der Regulierung von Synchronisationen und Nachholbedarf erschöpfen. Doch über das Bewußtsein vieler Betroffener kam der letzte Herbst als ein Trugbrecher und beendete mit bitteren Einsichten einen langen, mehr oder weniger dornigen Dornröschenschlaf. Die letzte Rache des gestürzten totalitären Regimes war denn auch die totale Entlarvung, die negative Offenbarung einer verfehlten, weltlichen Soteriologie: Alles falsch von Anbeginn!

Die westliche Welt hatte vermutlich im Osten seit langem keine überzeugten Gegner mehr. Die uneingeschränkte Konkurrenzlosigkeit ihrer inneren und äußeren Lebensformen könnte sich in Zukunft gegen ihr eigenes Prinzip, ihre antagonistischen Bedürfnisse wenden und dazu führen, daß man die nötige Ersatzspannung zwischen anderen Polen schafft, oder aber, daß Polarität überhaupt nur in metapolitischen Dimensionen neue Bedeutung gewinnt.

 

Soziale Demokratien brauchen keinen Heilshorizont. Viel eher der einzelne Freie, das aufgerichtete Bewußtsein, wird seiner bedürfen. Viele werden erst lernen müssen, daß vom Reichtum an aufwärts die Not beginnt. Die Not, überzeugt zu sein, ohne Praxis und Lehre einer machtvollen Diesseits-Religion und vor allem: ohne die moralischen Sondervergütungen eines gläubigen Ketzertums. Schließlich erscheint es nicht mehr unmöglich, daß der Zusammenbruch von Weltanschauung auch die Entmischung der weltlichen von den verweltlichten heiligen Dingen vorantreibt und daß aus dieser Scheidung die endliche Säkularisierung des Säkularen einerseits und ein «geläutertes» Erwarten andererseits hervorgehen.

 

«Was würde geschehen, wenn wir unsere Schulden gegenüber der Theologie und der Metaphysik … bezahlen müßten? Was wäre, wenn die dem Glauben entnommenen Anleihen an Transzendenz, die wir seit Platon und Augustinus hinsichtlich bedeutungserfüllter Formen erhalten haben, fällig würden? Was wäre, wenn wir die Annahme explizit machten und konkretisieren müßten, daß alle ernstzunehmende Kunst und Literatur, und nicht nur die Musik, auf die Nietzsche diesen Begriff anwendet, ein opus metaphysicum ist?»

 

Die Lektion, die das Unerwartete als geschichtliche «Ankunft» dem skeptisch-verschlafenen Dahinwursteln erteilt hat, ist eine gute Voraussetzung, um sich auf George Steiners Versuch über das Unmittelbare einzulassen, den er in seinem Buch ‹Von realer Gegenwart› (‹Real Presences›) wagt. Ein Wagnis, ja, jetzt noch, ist diese Schrift, da der Autor fast allem, was auf dem Gebiet der ästhetischen Theorie gegenwärtig tonangebend ist, den Rücken kehrt. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse, es geht um die Wiederentdeckung nicht seiner Selbst-, sondern seiner theophanen Herrlichkeit, seiner transzendentalen Nachbarschaft.

 

Nach gutem Brauch stellt die Abhandlung gleich auf der ersten Seite ihre klare Absicht und ihre einzige These vor: Überall, wo in den schönen Künsten die Erfahrung von Sinn gemacht wird, handelt es sich zuletzt um einen zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn, der von realer Gegenwart, von der Gegenwart des Logos-Gottes zeugt.

 

Das Unbeweisbare in der Krone jenes Erkenntnisbaums, der durch den Roman, die Skulptur, die Fuge emporwächst, ist Zeugnis Seiner Anwesenheit. Wo kein Arkanum, dort kein Zeugnis, keine Realpräsenz.

 

In der Feier der Eucharistie wird die Begrenzung, das Ende des Zeichens (und seines Bedeutens) genau festgelegt: der geweihte Priester wandelt Weizenbrot und Rebenwein in die Substanz des Leibs und des Bluts Christi. Damit hört die Substanz der beiden Nahrungselemente auf, und nur ihre äußeren Formen bleiben. Im Gegensatz zur rationalen Sprachtheorie ersetzt das eine (das Zeichen, das Brot) nicht das fehlende andere (den realen Leib), sondern übernimmt seine Andersheit. Dementsprechend müßte es in einer sakralen Poetik heißen: Das Wort Baum ist der Baum, da jedes Wort wesensmäßig Gottes Wort ist und es mithin keinen pneumatischen Unterschied zwischen dem Schöpfer des Worts und dem Schöpfer des Dings geben kann.

 

Gegenwärtig beim Abendmahl ist der reale Leib des Christus passus (d.i. im Zustand seines Todesopfers) unter der Gestalt des Brots. Das Gedenken im Sinne des Stiftungsbefehls («Solches tuet aber zu meinem Gedächtnis») wird dann zur Feier der Gleichzeitigkeit, es ist nicht gemeint ein Sich-erinnern-an-Etwas.

Pascal wunderte sich, daß jemand nachts schlafen könne, wenn ihm einfiele, daß Christus für ihn am Kreuz gestorben sei. Für Kierkegaard war Christus so gegenwärtig, daß die 2000 Jahre seit seinem Tod wie ungültig daneben schienen. In der hebräischen Tradition führt der rituelle Nachvollzug eines einmaligen historischen Geschehens (die «Wachenacht») den Gläubigen in die Zeitraumvergessenheit: «In jedem Zeitalter ist jeder verpflichtet, sich so anzusehen, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen.»

 

Der englische Malerdichter David Jones, wie Pound und Eliot Schöpfer eines der großen epischen Gedichte des Jahrhunderts, der ‹Anathémata›, erlebte in jeder Messe Golgatha. Für ihn ist der Mensch ein sakramentales Wesen, ein Zeichensetzer in allen seinen Werken, gleich, ob es sich um die Kunst des Schiffsbaus oder eines walisischen Feenmärchens handelt. Alles, was er schafft, ist Darbringung, Opfergabe. Zuerst geben wir etwas ab, dann einander, dann weiter. Die erste Richtung des Werks ist die vertikale, seine Menhirgestalt. Die ‹Anathémata› sammeln und erbringen in tausend Benennungen und Anrufen Votive einer abendländischen Poiesis. Und der heutige Leser wiederum sammelt diese Benennungen selbst als kostbare Gedächtnisstücke (deren Bedeutung ihm oft nur des Dichters Kommentar erschlüsseln kann). Jedes Opus ist Opfer, alle Dichtkunst die Magd der anámnesis, im ursprünglichen Wortsinn des Alten und Neuen Testaments: «sich vor Gott ein Ereignis der Vergangenheit so in Erinnerung zu bringen oder zu repräsentieren, daß es hier und jetzt wirksam wird». Hierin feiern Gedicht und Eucharistie dasselbe; im Versklang tönt noch der «Brotbrechlaut» (Jones). Die Kunstlehre von der realen Gegenwart oder: die um die Kunst erweiterte Sakramentenlehre ist davon überzeugt, daß das Bildnis des Mädchens nicht ein Mädchen zeigt, sondern daß es das Mädchen ist unter der Gestalt von Farbe und Leinwand.

Diese Auffassung vertrat niemand inständiger und unerbittlicher als der russische Naturwissenschaftler, Philosoph und Priester Pavel Florenskij. In den frühen zwanziger Jahren (während er im übrigen als Elektrotechniker im Dienst der Leninschen Revolution arbeitete, ohne je sein Popengewand abzulegen) verfaßte er seine (damals unveröffentlichten) Betrachtungen zur Kunst der Ikonenmalerei und verteidigte sie gegen jede Idee der bloß abbildlichen oder bedeutungtragenden Darstellung. Die Ikone mit der Gottesmutter ist nicht einmal ein Bild, sondern vielmehr ein Fenster, durch das wir sie selbst erblicken. Der Maler wendet seine ganze Kunst an, um einen Vorhang zu öffnen, die Vision zu ermöglichen. Die Ikone wird mit Licht gemalt, und Licht meint keine Form der Beleuchtung und nicht das Eigenleuchten der Dinge: das Licht gründet überhaupt erst die Dinge, es ist ihre Ursache. (In Steiners Untersuchung entspräche dem die Logos-Quelle der Sprache und aller Kunst.) Die Ikone ist der Ort, wo das Antlitz, das Urlicht hervortritt, es bildet die Grenze zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Schaffen ist hier, wie bei jeder Ästhetik der Anwesenheit, nichts anderes als ein kunstvolles Enthüllen. Es ist daher nicht geistreich, sondern ein Ausdruck von Überwältigtsein und Demut, wenn diese Auffassung ihren lakonischen Schluß in einem ästhetischen Gottesbeweis findet: «Es gibt die Dreifaltigkeit Rublevs, folglich gibt es Gott.»

Obschon Steiner sie nicht erwähnt, gehören Pavel Florenskij und David Jones zu den wichtigsten Bekennern und praktizierenden Gläubigen der Realpräsenz. Ihre Werke entstanden freilich während der ersten Hälfte des...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2020
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte "Anschwellender Bocksgesang" • Gesellschaft • Literatur • Literaturkritik • Literaturkritik, Theaterkritik • Literatur, Theater, Politik, Gesellschaft, "Anschwellender Bocksgesang" • Politik • Theater • Theaterkritik
ISBN-10 3-644-00142-1 / 3644001421
ISBN-13 978-3-644-00142-8 / 9783644001428
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