Elbleuchten (eBook)
640 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00693-5 (ISBN)
MIRIAM GEORG, geboren 1987, ist die Autorin des Zweiteilers «Elbleuchten» und «Elbstürme». Beide Bände der hanseatischen Familiensaga wurden von Leserinnen und Lesern gefeiert, sie schafften auf Anhieb den Einstieg auf die Bestsellerliste und wurden zum Überraschungserfolg des Jahres. Die Autorin hat einen Studienabschluss in Europäischer Literatur sowie einen Master mit dem Schwerpunkt Native American Literature. Wenn sie nicht gerade reist, lebt sie mit ihrer gehörlosen kleinen Hündin Rosali und ihrer Büchersammlung in Berlin-Neukölln.
MIRIAM GEORG, geboren 1987, ist die Autorin des Zweiteilers «Elbleuchten» und «Elbstürme». Beide Bände der hanseatischen Familiensaga wurden von Leserinnen und Lesern gefeiert, sie schafften auf Anhieb den Einstieg auf die Bestsellerliste und wurden zum Überraschungserfolg des Jahres. Die Autorin hat einen Studienabschluss in Europäischer Literatur sowie einen Master mit dem Schwerpunkt Native American Literature. Wenn sie nicht gerade reist, lebt sie mit ihrer gehörlosen kleinen Hündin Rosali und ihrer Büchersammlung in Berlin-Neukölln.
2
Die Ratte war krank, daran gab es keinen Zweifel. Jo beobachtete sie schon eine ganze Weile. An die Wand des Hinterhofs gelehnt, sah er zu, wie das Tier vor sich hin taumelte und sich immer wieder wie im Fieberwahn schüttelte. Die schwarzen Augen waren von einem Schleier überzogen, an der Schnauze klebte Blut.
Jo hasste Ratten, sie erinnerten ihn an die Zeit im Gefängnis, als sie im Dunkeln angefangen hatten, an seinen Zehen zu nagen. Als er klein war, hatte sich einmal eine Ratte mit ins Bett geschlichen und das Ohr seines Bruders angefressen. Noch heute konnte man den Riss sehen, wo sie ein Stück aus ihm herausgebissen hatte. Wilhelm hatte eine schreckliche Entzündung bekommen. Ihr Vater hatte einen guten Teil seines Jahresgehaltes für seine Behandlung ausgeben müssen.
Das Tier zu seinen Füßen hatte sich offenbar an den fauligen Abfällen des Viertels mehr als gütlich getan. Es war so fett, dass sein Bauch im Dreck schleifte. Die Ratten sind hier nun mal die Einzigen, die sich satt fressen können, dachte Jo verbittert und spuckte einen Krümel Tabak auf den Boden. Aber das, was er erledigen musste, gab es eben nicht in der Bellevue.
Das gab es nur hier. Im schwarzen Herzen Hamburgs.
Auf seinem Weg zu dem Haus, dessen Adresse auf einem Zettel in seiner Westentasche stand, war er an mehr Prostituierten und Bettlern vorbeigekommen, als er zählen konnte. Der Verwesungsgestank aus den Fleeten mischte sich mit dem Qualm der unzähligen Schornsteine. Verwahrloste Kinder, die auf ihren durch Rachitis krumm gewordenen Beinen kaum richtig laufen konnten, rangelten um Stöcke und leere Konservendosen. Jo wusste, wie es war, hier aufzuwachsen. Die stinkenden Gassen des Altstädter Gängeviertels zwischen Stein-, Spitaler- und Niedernstraße waren auch sein Zuhause. Allerdings gab es einen Unterschied zwischen ihm und den Kindern. Er hatte Arbeit, verdiente Geld, konnte seine Familie zumindest so weit über Wasser halten, dass seine Geschwister nicht mehr nachts vor Hunger wachlagen.
Er konnte die Angst und die Wut der Frau, die heute auf die Karstens losgehen wollte, nur zu gut nachvollziehen. Als sein Vater damals den tödlichen Unfall hatte, war er eine Weile sicher gewesen, dass sie alle sterben würden. Wenn sie sich nachts zusammendrängten und das Knurren ihrer Mägen sie wachhielt, stellte er sich vor, wie sie am Morgen erfroren und verhungert dalagen. Leni war schließlich wirklich gestorben. Sie war zu klein gewesen, ihr Körper zu geschwächt. Als der Winter kam und die Wohnung so kalt wurde, dass morgens die Decken steif gefroren waren, reichte die erste Erkältung. Sie war in den Armen seiner Mutter eingeschlafen, kaum mehr als ein Skelett mit Haut überspannt, ihre großen blauen Augen fragend auf ihn geheftet, als wollte sie wissen, warum er zuließ, dass sie so leiden musste. Es war schrecklich gewesen, die dunkelste Stunde seines Lebens. Noch heute sah er sie in seinen Albträumen, schreckte schwitzend auf, wenn sie an seinem Bett stand, eine kleine verhungerte Gestalt, die ihn aus dem Dunkeln heraus vorwurfsvoll anstarrte. Er erwachte jedes Mal, wenn sich ihre knochigen Fingerchen um seinen Arm klammerten. Manchmal meinte er, ihre Berührung noch zu spüren, wenn er schon keuchend im Bett saß und versuchte, die Bilder zu vergessen.
Sie hatten kein Geld gehabt für eine richtige Beerdigung, und so war sie einfach in einem anonymen Massengrab verscharrt worden. Seine kleine Leni, das liebste, klügste Mädchen, das er je gekannt hatte. Es war sein Traum, ihr irgendwann ein würdiges Denkmal setzen zu lassen. Aber auch heute waren es immer noch schwere Zeiten. Sie waren einfach zu viele, das Leben in der Stadt war zu teuer, die Mieten in den Gängevierteln wurden mit jedem Jahr ungeheuerlicher. Trotzdem konnten sie nicht weg, hier war seine Arbeit. Immer brauchte jemand neue Schuhe. Seine Mutter hatte inzwischen zwei weitere Kinder bekommen, und Jos halbwüchsige Stiefbrüder waren nicht satt zu kriegen. Ihre Väter hatten sich beide bei Nacht und Nebel davongemacht. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Wer wollte schon für eine so große Familie verantwortlich sein?
Kurz nach Lenis Tod war Jo zwölf Jahre alt geworden. An seinem Geburtstag hatte seine Mutter ihn beiseitegenommen. «Du bist der Älteste. Dein Vater ist nicht mehr hier, es kann so nicht weitergehen. Ich brauche dich!» Sie schrieb einen Zettel, verbrachte den Vormittag damit, ihn so gut wie möglich zu säubern, und dann marschierten sie los. Er erinnerte sich an die schwitzende Hand seiner Mutter, die ihn durch das Gedränge der Stadt zog, und an das Druckgefühl der Angst in seinem Magen. Als sie schließlich zur Villa kamen, staunte er nicht schlecht. Noch nie zuvor hatte er ein solches Haus gesehen, der Prunk war unvorstellbar. Auch das Büro, in das ihn der Diener führte, nachdem er ihm naserümpfend seine Mütze abgenommen hatte, überstieg seine kühnste Vorstellungskraft. Niemals hätte man ihn unter normalen Umständen hier empfangen. Man hätte ihn nicht einmal in die Nähe gelassen, sondern mit Tritten davongejagt. Aber seine Mutter hatte an die Hintertür geklopft und eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, die er bis heute nicht richtig verstand. Sie schubste ihn in die Küche, versicherte sich, dass der Zettel in seiner Hand lag, flüsterte ihm ein letztes «Vermassel es nicht!» zu und verschwand. Der kleine Jo stand da und wartete, während ihn eine Reihe von Dienstboten missbilligend musterte und unverhohlen über ihn redete.
Schließlich war er erst in eine große Halle, dann in ein Vorzimmer geführt worden, wo er eine gefühlte Ewigkeit wartete und es nicht wagte, sich zu bewegen. Sie schickten auch hier einen Diener mit, der an die Wand gelehnt jede seiner Regungen beobachtete, um sicherzugehen, dass er nichts stahl. Das war auch besser so, denn Jo sah alleine zehn Gegenstände in seiner unmittelbaren Nähe, die er sofort eingesteckt hätte, wäre er alleine gewesen. Der Hunger der letzten Monate hatte ihn skrupellos werden lassen. Er kannte Ecken in Hamburg, wo er für die Uhr hinter sich sicher zwanzig Mark bekommen würde. Davon konnten sie einen ganzen Monat überleben.
Als er schließlich in das Büro geführt wurde, erschien ihm der Mann mit dem löwenartigen Haar wie Gott höchstpersönlich. Er thronte vor einer Fensterfront mit Blick auf die Binnenalster und das Rathaus. Das Licht schien von hinten in den Raum, schimmerte rotgolden in seinem Bart und ließ es wirken, als umgebe ihn ein Heiligenschein – was, im Nachhinein betrachtet, ironischer nicht hätte sein können. Der Schreibtisch war halb so groß wie das einzige Zimmer daheim, in dem Jo mit der ganzen Familie lebte.
Jo stand da, kratzte sich unsicher die Hände und wartete, dass er beachtet wurde. Als das nicht geschah und das Ticken der Uhr ihm irgendwann in seinen Ohren dröhnte, räusperte er sich schließlich. Zuerst leise, dann etwas lauter. «Ich soll Ihnen das geben!»
Und auch wenn er bis heute nicht wusste, wie es passiert war – seit diesem Tag arbeitete er für Ludwig Oolkert, den mächtigsten Kaufmann Hamburgs. Im Laufe der Jahre war er zu so etwas wie Oolkerts unsichtbarer rechter Hand geworden. Er war als Vize für das Anheuern der Männer zuständig, kannte jeden Werftarbeiter mit Namen und koordinierte zusätzlich die Abläufe in den Hafenschuppen. Aber er hatte auch andere Aufgaben. Geschäfte, über die niemand Bescheid wusste außer ihm, Oolkert und den Leuten, mit denen sie sie abwickelten.
Seit damals hatte sich so gut wie alles in seinem Leben grundlegend verändert. Zwar hatte er nie wieder eine Schule von innen gesehen. Aber wenigstens konnten sie von da an wieder essen und hatten eine anständige Wohnung. Als er älter wurde, konnte Jo sich sogar ein eigenes kleines Zimmer leisten und trotzdem weiter seine Familie versorgen. Manchmal war ihm, als habe er mit seinem alten Leben auch einen Teil seiner Identität abgelegt. Aber hier, in den Gassen seiner Kindheit, schien es ihm an jeder Ecke zuzurufen, dass er niemanden täuschen konnte. Hier kam er her, und hier würde er immer hingehören.
Er betrachtete den grünen Schaum, der sich auf der Urinpfütze neben ihm gebildet hatte. Ein letztes Mal trat er aus dem Hinterhof, blickte suchend in die kleine Gasse und beschloss, noch eine Zigarette lang zu warten und sich dann auf den Weg zurück zu machen. Der Besitz an sich war nicht strafbar, aber der Verkauf ohne Konzession schon. Es war immer ein unsicheres Geschäft. Vielleicht war etwas dazwischengekommen, vielleicht hatte man ihnen irgendwo aufgelauert. Jo selbst war schon zweimal bei einer Übergabe erwischt worden, aber Oolkert hatte ihn rausgehauen. Auch wenn es das letzte Mal ein paar Tage zu lang gedauert hatte und er schon dachte, er würde in der dunklen Gefängniszelle verrecken. Es hatte auf jeden Fall nicht mehr viel gefehlt. Jo hatte eisern geschwiegen. Jedes Mal wenn er bei den unzähligen Verhören von den Tritten in den Magen fast besinnungslos wurde, dachte er an seine Geschwister und seine Mutter. Wenn er nicht mehr da war, würden sie alle auf der Straße landen. Irgendwann war die Tür seiner Zelle aufgegangen, und man hatte ihn mehr tot als lebendig auf die Gasse gekippt.
Auch wenn er darauf vertraute, dass Oolkert ihn aus den meisten Schlamasseln irgendwie herausholen konnte – so schnell musste er das nicht noch einmal erleben. Wenn sie nicht bald kamen, würde er...
Erscheint lt. Verlag | 26.12.2020 |
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Reihe/Serie | Eine hanseatische Familiensaga | Eine hanseatische Familiensaga |
Zusatzinfo | Mit 1 4-farb. Karte |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Arbeiter • Elbe • Elbsaga • Elb-Saga • Emanzipation • Frauenrechte • Gängeviertel • Hamburg • historische liebesromane deutsch • Historische Romane • historische romane neuerscheinungen 2021 • Historischer Roman • Industrialisierung • Jahrhundertwende • Kleine Geschenke • Liebe • Liebesroman • Liebesroman Bestseller • Liebesromane deutsch • Liebesroman historisch • Liebesroman Taschenbuch • Muttertagsgeschenk • Reederei • Saga • spiegel bestseller 2021 • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Werft |
ISBN-10 | 3-644-00693-8 / 3644006938 |
ISBN-13 | 978-3-644-00693-5 / 9783644006935 |
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