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Vom Frühling und von der Einsamkeit (eBook)

Reportagen aus den Gerichten

(Autor)

Nicole Henneberg (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
368 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6186-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Frühling und von der Einsamkeit -  Gabriele Tergit
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Die Gerichtsreportagen, die Gabriele Tergit ab 1924 für den Berliner Börsen-Courier, ab 1925 für das Berliner Tageblatt und ab 1929 auch für die Weltbühne in der ihr eigenen literarischen Sprache schrieb, bilden das Herzstück ihrer journalistischen Arbeit. Tergit verstand den Gerichtssaal als Bühne, auf der sich bei jeder Verhandlung ein neues Stück abspielte. Dabei interessierte sie vorrangig der sonderbare Einzelfall, der interessante, merkwürdige, tragische Charakter des Tatbestands und der Angeklagten. Und doch beobachtete sie in jedem Fall, der bei Gericht verhandelt wurde, stets das Ringen der gesellschaftlichen Kräfte im Hintergrund, die soziale Misere, die die Menschen erst zu verbrecherischen Taten treibt. Kein historischer Bericht, keine Chronik zeigen die Weimarer Republik und die Zwischenkriegszeit klarer, hellsichtiger und vielschichtiger als Tergits journalistische Arbeiten, aus denen Nicole Henneberg - Herausgeberin der bisherigen Neuausgaben von Tergits Werk bei Schöffling & Co. - eine üppige Auswahl getroffen hat.

Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spa?t in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie, vor allem aufgrund ihres Erfolgsromans Effingers, als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.

"Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie mit ihrem Mann nach London. Von 1957 bis 1981 war sie Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.Nicole Henneberg, geboren 1955 in Hof, Studium der Komparatistik und Philosophie in Berlin und Paris, schreibt als freie Autorin und Literaturkritikerin, u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Berliner Tagesspiegel. Außerdem verfasste sie mit Fred Oberhauser den "Literarischen Führer Berlin"."

Die Sittlichkeit auf der Leiter

Ein junger Galizianer J., klein, schnodderig und tüchtig, hatte ein Wohn- und Schlafzimmer bei zwei Damen G., Beamten- oder Offizierstöchtern die in der Mitte der vierzig stehen, gemietet.

Die G.s wollten den J. aus der Wohnung haben, um anderweitig zu vermieten. Als Grund der Exmissionsklage gaben sie an, dass J. Damenbesuche erhalten habe, im Wesentlichen von Fräulein St., die seit fünf Jahren als seine Braut gilt. Vor dem Mieteinigungsamt wird sie gefragt, ob sie jemals die ganze Nacht über bei J. geblieben sei. »Nein, wohl bis 10, 11 Uhr«, sie habe ihm im Geschäft geholfen, aber nicht die Nacht über. Nur darum hatte es sich vor dem Mieteinigungsamt gehandelt. Was bis 11 Uhr geschehen, war gleich. Die Klage wurde abgewiesen. J. blieb wohnen. Fräulein G. aber hat sie beobachtet. Nun steht Fräulein St. des Meineids angeklagt vor dem großen Schwurgericht in Moabit. Sie ist 30 Jahre alt, das richtige süße Mädel, mit blonden Locken, unvorbestraft, eine fleißige Angestellte, eine treue Tochter.

Die Angeklagte, die voll Scham ihr Verhältnis zögernd zugibt, bleibt bei ihrer Aussage. Sie sei mit dem J. verlobt.

J. tritt auf. Vors.: »Sind Sie mit der Angeklagten verlobt?« J.: »Nein« – er verbessert sich, er habe die Absicht, sie zu heiraten. »Ja, ich hatte auch andere Damenbesuche.«

Nun kommen die Fräulein G. Die eine ist mager und groß, mit einer langen, dünnen Nase und kenntnislosen, erstaunten Augen. Mit dem Faltenrock, der bis zum Boden reicht, dem langen englischen Mantel, dem Stehkragen die Verkörperung der sittlichen Entrüstung. Die Schwester ist fett mit einem Mopsgesicht.

Die G. und der J. sind Angehörige zweier Planeten, gezwungen durch die Wohnungsnot, Tür an Tür zu hausen. Fräulein G. sah J. und seine Braut im Bett liegen.

Vors.: »Wie konnten Sie das beobachten?«

Zeugin: »Durch die Scheibe.« Vors. »War die so niedrig?«

In dem feinen Deutsch des gebildeten Bürgertums erzählt die Dame: Die Tür hatte Oberlicht. Sie nahm sich eine Leiter um Mitternacht, die Nachttischlampe brannte, und sie erkannte die St. Die andere G. ist dabei laut auf und ab gegangen, damit das Aufstellen der Leiter nicht gehört werde. Diese Beobachtung aber haben sie nicht dem Fräulein St. vorgehalten, nicht vor dem Mieteinigungsamt erwähnt. Sie haben davon geschwiegen. Dann aber sind die G. umhergegangen und haben Zeugen gesucht.

Einen Säufer, einen längst entlassenen Portier, suchen sie nach vier Jahren auf. Einem Arbeiter haben sie auf seine Antwort, er habe öfter früh eine Dame aus dem Haus kommen sehen, gesagt: »Sie können ruhig sagen, dass es die St. war, denn sie ist es gewesen.« Eine Portiersfrau sah die St. drei-, viermal im Jahre 1920 frühmorgens das Haus verlassen. Die vergrämte Mutter der Angeklagten tritt für ihr Kind ein, nie sei sie die Nacht weggewesen, sie »hofft«, der J. werde sie heiraten.

Die Lebenserfahrung spricht dagegen, so führt der Staatsanwalt aus, dass bei einem fünf Jahre dauernden Verhältnis die St. nie nachts da blieb. Das eidliche Zeugnis der G.s und der Portiersfrau zeigt sie des Meineids schuldig. Auf der Heiligkeit des Eids beruht die Rechtspflege. Er beantragt zwei Jahre Zuchthaus, den bürgerlichen Tod.

Die Geschworenen erkennen auf schuldig und sechs Monate Gefängnis. Die Verurteilte schreit auf. Die Mutter stürzt sich verzweifelt auf die Damen G. Der Geliebte, der offensichtlich Angst vor dem Standesamt hatte, will nun das Geschöpf, das aus Scham einen Meineid schwur und nun in hilfloser Angst vor dem Gefängnis schreit, stützen.

Die beiden Fräulein G. gehen, überzeugt von ihrer Tugend, erhobenen Hauptes davon. Wo aber steht in dieser Weibergeschichte das Erlebnis, das die Fräulein G. zu dem machte, was sie sind, das sie aufstehen hieß, die dürren Verwelkten, gegen das Leben?

(BBC, 3. Oktober 1924)

Der Mann, der die Zeit verstand

Der Hochstapler Oertel-Eggloffstein

Er wurde 1894 in Dresden geboren. Sein Vater, Freiherr von und zu Egloffstein, war völlig degeneriert, krank, hatte eine krankhafte Liebe zu Tieren, war leichtsinnig und füllte den kleinen Zollbeamtenposten mehr schlecht als recht aus. Er legte den Adel ab und nannte sich Oertel. Also von Blut entartet, wächst der Sohn heran, ein Sorgenkind von früh auf, versagt bereits auf dem Gymnasium, schwindelt, lügt und niemand hält ihn, rings um ihn ein entarteter1 Stamm. Eine geisteskranke Tante überschüttet ihn mit Geschenken, mit Geld, da bricht er, ein halbes Kind noch, bei ihr ein, er soll in Fürsorgeerziehung kommen, der unvernünftige Vater verhindert es. Seine Zerfahrenheit, seine Unstetheit nimmt immer mehr zu, er hält es auf keiner Lehrstelle aus, ist Automobilbesitzer, Reitlehrling im Zirkus, er kennt kein Pflichtgefühl, verlässt sich auf die Tante, die immer wieder Geld gibt, bis der Siebzehnjährige 15000 Mark als Erbschaft erhält. Ein Vagabund, reist er umher, taucht überall im Reich auf, in Wien, auf dem Balkan. In München lernt er ein Barmädel kennen, völlig ohne Voraussicht, impulsiv und spontan fährt er mit ihr nach London, lässt sich dort trauen. Die Familie entzieht ihm mehr und mehr ihre Hilfe. Die Krankheit kommt hinzu. Im Kriege ist er Armierungssoldat. Dass man sich im Allgemeinen auch durch Arbeiten ernährt, scheint ihm unbekannt. Er lebt vom Schwindel.

Nicht wie wir begnügt er sich mit einer Maske sein Leben lang, sondern trägt immer neue Gesichter, wandelt sich in immer neue Gestalten. Er ist der Fliegerleutnant Baron von Lüttichau für Bankdirektoren; Dollaramerikaner für Gräfinnen, die ihre Wohnung vor der Beschlagnahme retten wollen; amerikanischer Arzt für den Apotheker; Baron Egloffstein für kleine, liebende Mädchen; der drohende Beamte für Steuerhinterzieher; und so dicht ist die Haut, in die salamandergleich er schlüpft, dass er sie für angewachsen hält:

»Die beiden Brüder Eppstein haben mich, als preußischen Offizier, so geärgert, dass ich sie betrügen wollte«, sagt er. »Wie«, erwidert der Vorsitzende, »Sie sind doch gar kein preußischer Offizier. Sie sind doch nur Armierungssoldat gewesen.« Oertel stutzt, bis ihm einfällt, dass er wirklich nur Armierungssoldat gewesen ist. Es ist die Göttin, die Phantasie, die ihn begleitet und die auch noch in dieser kranken und verzerrten Gestalt das Interesse in Anspruch nimmt, denn die Zuneigung der Menschen gehört nicht dem Korrekten und Vernünftigen, sondern der Unvernunft und dem Wahn, seit es bei den Griechen einen göttlichen Lügner gegeben.

Oertel ist immer im Affekt, immer in Hochspannung, wie andere minder Nervöse vor seeligster Erwartung oder im Rausch. Er posiert, macht sich interessant, geht im Untersuchungsgefängnis auf Krücken, kein Mensch weiß, warum, ist gutmütig und hilfsbereit, schickt vom erbeuteten Geld spontan seiner Frau, dem kleinen Jungen vom Friedrichshagener Mord eine Tafel Schokolade, ist ritterlich gegen seine Mitangeklagten. Dabei besitzt der halt- und willenlose Schwindler eine große Suggestionskraft. Er war revolutionärer Generalkommandant von Dresden, konspirierte gegen Erzberger, ist jetzt völkisch; merkwürdig fast, dass er keine größere politische Rolle spielte. Blufft die skeptischen Pfleger in Herzberge, tritt mit vollendeter Dreistheit in das Zimmer eines Untersuchungsrichters, verbeugt sich, erklärt, dass der Landgerichtsdirektor die Akten fordere, erhält sie, verlässt mit ihnen den Raum und lässt sie verschwinden. Er springt von Handlung zu Handlung, immer in bedrängter Lage, hält er nur an einem fest, seinem Recht auf den Adelstitel. Wenn ihm dieser auch vielleicht unbilligerweise entzogen wurde, so ist er dennoch kein Michael Kohlhaas, der aus erlittenem Unrecht anarchisch geworden wäre. Es wäre kaum zu verstehen, warum über diesen Nervenschwächling, diesen unnützen Schelm, dieses durch und durch kranke, entartete Bündel Mensch so viel geschrieben wird, wenn es sich wahrhaft nur um Oertel handelte. Aber ein Hochstapler ist ja der Spiegel der Mentalität einer Zeit.

Man tritt als falscher Waldemar auf, wenn es sich lohnt, Markgraf von Brandenburg zu sein, und man ist Amerikaner, wenn die Jazzband zum Totentanz der Mark und zum Shimmy um den Dollar kreischt. Was herrschte in dieser Zeit von 1914 bis 1921? Angst vor den Spartakisten, also wieder Respekt und Kotau vor der Uniform, dem Schützer des Staates, Angst vor der Steuer, Angst vor der Wohnungsbeschlagnahme, Angst vor dem Vermögensschwund. Der Hochstapler benutzte also die kleinen Ängste der Menschen, sein gesteigertes Selbstbewusstsein konnte gegenüber der verbreiteten Krankheit, dem Minderwertigkeitskomplex, Erfolge erzielen.

Klein und dürftig erscheinen auf dem Hintergrund des ungeheuren Betrugs dieser Jahre die intellektuellen Urkundenfälschungen und Betrügereien des Oertel, die aufzuklären ein ungemein menschlicher und kluger Richter scharfsinnig sich mühte. Klein und dürftig, nicht wegen der Größe des Objekts, sondern weil dieser Oertel des Geistes dieser Zeit nicht zu spotten vermochte, nicht etwa kühn moralfrei unter Amoralischen sich bewegte, sondern das gute Leben, bestehend aus Genussmitteln und Frauen, sein Ziel wie das der Bekämpften war. Der große Betrüger der Betrügenden fehlt der Zeit, denn wir vergessen, dass nur die Dilettanten vor Gericht stehen, die Meister aber auf goldenen Thronen sitzen.

(BBC, 18. November 1924)

Jahrgang 1903

Unterschlagung, Betrug, Urkundenfälschung

Ein bleiches, ganz junges Bürschlein mit...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2020
Mitarbeit Cover Design: Jeanne Mammen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1920er Jahre • Egon Erwin Kisch • Feuilletons • Journalismus • Kurt Tucholsky • Reportage • Weimarer Republik
ISBN-10 3-7317-6186-6 / 3731761866
ISBN-13 978-3-7317-6186-0 / 9783731761860
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