Tief in der Erde (eBook)
384 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-26820-6 (ISBN)
Christa von Bernuth ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihre Romane »Die Stimmen«, »Untreu«, »Damals warst du still« und »Innere Sicherheit« wurden mit Mariele Millowitsch und Hannah Herzsprung in den jeweiligen Hauptrollen verfilmt und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit »Tief in der Erde« hat sie erstmals einen Kriminalroman veröffentlicht, der von einer wahren Begebenheit inspiriert wurde. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.
15. September 1981
Traubenhain, 6:05 Uhr
Die Täter
Die Kiste ruht im Waldboden, stabil, aber unsichtbar. Die Täter haben Mitte August Grassamen einer schnell wachsenden Sorte über die Stelle gesät, und tatsächlich spitzen schon viele zartgrüne Halme aus der dunklen, moosigen Erde. Niemandem ist dieser Ort aufgefallen, zumindest waren in den letzten Tagen keine Fußspuren sichtbar. Spaziergänger, selbst Pilzsammler kommen hier in der Regel nicht her, der Weg ist zu beschwerlich. Nach der Tat werden sie erneut Gras säen und noch weitere Vorkehrungen treffen, damit die Kiste so unauffindbar wie möglich bleibt.
Das ist der Plan.
Die Nacht war kurz, die Täter haben fast gar nicht geschlafen, bloß ein wenig gedöst. Nicht nur weil sie aufgeregt sind, sondern auch weil sie – jeder für sich – alle Arbeitsschritte noch einmal penibel durchgegangen sind. Alle notwendigen Requisiten, einschließlich der Waffe, der Tarnkleidung und dem Betäubungsmittel, liegen im Versteck bereit. Abends haben sie den Wetterbericht geschaut, der für heute gut aussieht, aber nicht für die nächsten Tage. Schon in der Nacht ist Regen angesagt, der sich von Norden aus bis zu den Alpen ausbreiten wird und über eine Woche anhalten soll. Und aus einer Regenwoche können leicht zwei werden, und dann … Aber das ist nicht der einzige Grund.
Sie wissen, dass es heute passieren muss, am ersten Schultag nach den großen Ferien. Das ist nicht ganz ideal. Am ersten Schultag ist alles immer etwas chaotisch, feste Termine können sich nach hinten oder vorn verschieben, doch abzuwarten ist auch keine echte Option. Wenn sie jetzt nicht handeln, tun sie es vielleicht überhaupt nicht mehr.
Sie sind auf alles vorbereitet. Sie können noch nicht recht glauben, was sie in den letzten Wochen und Monaten geschafft haben. Sie können, finden sie, wirklich stolz auf sich sein. Wenn die Sache funktioniert – und das wird sie! –, werden sie bald nicht nur reich, sondern auch berühmt sein. Presse und Fernsehen werden darüber berichten, es wird zahlreiche Artikel und mindestens eine Aktenzeichen XY … ungelöst-Sendung geben, vielleicht zeigen sogar internationale Medien Interesse! Sie lachen übermütig bei der Vorstellung, es klingt ein wenig atemlos, denn ein bisschen unheimlich ist ihnen die Sache schon. Das alles, dieser ganze Rattenschwanz an möglichen Konsequenzen, birgt natürlich Gefahren, es ist also besser, gar nicht so lange darüber nachzudenken, denn zu viel Denken macht nervös. Es fallen einem dann hundert Dinge ein, die nicht passen, viel zu viele Eventualitäten, die man nicht bedacht hatte, nicht bedenken konnte.
Ein Abenteuer erwartet sie mit allen Chancen und Risiken. Ein großes Spiel mit maximalem Einsatz. Danach, das ist ihnen klar, wird das Leben nie wieder so sein wie vorher. Sie werden andere Menschen sein. Stärker, selbstbewusster. Sie werden Kämpfer sein.
Die Täter sagen sich selbst, dass diese letzte Aktion nach all den Vorbereitungen nur noch das Tüpfelchen auf dem i ist, die Krönung ihrer Bemühungen. Wie Hochleistungssportler haben sie dennoch Angst, auf den allerletzten Metern zu versagen. Der Spurt am Ende eines Rennens: Darauf kommt es an. Das wissen sie und verdrängen es gleich wieder, denn diese Erkenntnis schwächt den Elan.
Nicht denken.
Handeln. Schritt für Schritt, wie sie es geübt haben.
In zwölf Stunden ist es so weit. Dann beginnt die Sache. Der erste Dominostein wird umgestoßen, die Kettenreaktion in Gang gesetzt. Es gibt keinen Weg zurück, der Geist ist dann aus der Flasche, und das heißt, dass sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr alle Entwicklungen in der Hand haben werden. Bis zur Stunde X muss ihr Tag deshalb so normal wie möglich verlaufen, denn das zumindest können sie beeinflussen. Menschen müssen sie sehen, mit ihnen sprechen, mit ihnen lachen, sich später an ihre Anwesenheit erinnern. Menschen, die keinen wie auch immer gearteten Verdacht schöpfen dürfen, sonst war alles umsonst.
Sie stehen auf, duschen wie jeden Morgen, spritzen sich kaltes Wasser ins Gesicht, damit sie frisch und munter wirken. Nicht übermüdet und aufgeregt.
Sei unauffällig. Das wird heute und in den nächsten Tagen ihr Mantra sein.
Salbrunn, 6:45 Uhr
Gabi Schön, Annikas Mutter
Der See ist an diesem Morgen so blau wie der Himmel. Im Radio laufen die Nachrichten von Bayern 3, in denen sonniges Wetter mit ein paar harmlosen Wolken angekündigt wird. Spätsommerlich warm, sagt der Moderator und klingt so vergnügt, als hätte er selbst gleich frei. Aus dem Küchenfenster kann Gabi zwischen den Bäumen hindurch einen kleinen Ausschnitt der glitzernden, von leichten Böen geriffelten Wasserfläche sehen. Sie zündet den Gasherd an und stellt den gusseisernen Kessel auf die Kochplatte, betrachtet die blauen Flämmchen, die an dem massiven Boden lecken, langt schließlich in das Schränkchen über der Spüle und holt den Porzellanfilter und die Kaffeedose heraus.
Gabi liebt den erdig-aromatischen Duft gemahlenen Kaffees, das bittere Gebräu selbst findet sie dagegen nur mit viel Milch und Zucker genießbar. Sie seufzt, ohne es zu merken und ohne zu wissen, dass sie das jeden Morgen tut. Immer beim Kaffeekochen.
Gabi hält sich selbst für eine zufriedene Frau, aber manchmal hat sie das Gefühl, dass das Schicksal ihr etwas Wesentliches vorenthält, das nämlich, was sie brauchen würde, um auch eine glückliche Frau zu werden. Und wenn sie in so einer Stimmung ist, vergisst sie ihre normale Fröhlichkeit und wird streitsüchtig, und dann hat ihr Mann Stephan nichts zu lachen, und ihre Kinder beschweren sich über ihre Ungerechtigkeit.
Dabei ist ihr Leben genau so, wie sie es sich immer gewünscht und vorgestellt hat. Stephan verdient gut. Sie sind nicht reich, aber sie haben ein hübsches Haus und vier durchaus wohlgeratene Kinder. Annika ist mit ihren zehn Jahren die Jüngste, es folgen der zwölfjährige Jo, der achtzehnjährige Martin und die zwanzigjährige Franzi. Wie die Orgelpfeifen, sagt Stephan manchmal, und er klingt so stolz, als ob er die Kinder selbst auf die Welt gebracht hätte. Gabi erklärt ihm dann gern, wie es sich wirklich verhält – ihr war in den ersten drei Monaten schlecht, sie hatte den dicken Bauch und die Schmerzen bei den Geburten. Woraufhin Stephan oft dreist erwidert, ob sie nicht ganz schnell noch ein fünftes Kind machen wollen, und Gaby lacht und antwortet: »Spinnst du, vier reichen ja wohl!«
Und das findet sie wirklich. Andererseits ist sie letztes Jahr vierzig geworden, weshalb sich die Frage nach einer weiteren Schwangerschaft bald komplett erübrigt haben würde, und das ist ihr dann ebenso wenig recht. Den Geburtstag hat sie jedenfalls als Einschnitt empfunden. Sie ist zwar noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Und immer wieder beschleicht sie das Gefühl, etwas versäumt zu haben, selbst wenn sie nicht weiß, was das genau sein soll.
In solchen Phasen liest sie sich weg von hier. Zum Beispiel nach England, wo die Wiesen so sattgrün sind und die Dörfer mit ihren blumenumrankten Cottages ganz alt und romantisch und die Bewohner auf witzige Weise schrullig. Manchmal sehnt sie sich auch nach Italien. Sie kennt zwar keine italienischen Bücher, aber einige Filme mit Sophia Loren und Adriano Celentano, und ihre Freundin Sybille hat ihr kürzlich erzählt, dass es dort immer warm ist, nicht nur an einzelnen Tagen wie an der Nordsee, wo sie die letzten zwei Ferienwochen verbracht haben. Italien ist mit dem Auto viel näher, trotzdem waren sie noch nie dort. Das Land stellt sie sich licht und leicht vor. Man kann dort bis in den späten Abend bunte Sommerkleider tragen, und die Menschen sind temperamentvoll und charmant.
Der nächste Urlaub, hat sie sich vorgenommen, soll dorthin gehen. Nicht mehr an die Nordsee wie dieses Jahr. Dort sind die Menschen zwar nett, aber wortkarg. Der Dialekt klingt streng, und an den Humor muss man sich gewöhnen. Außerdem war das Meer so kalt, dass die Kinder schon nach fünf Minuten Baden blaue Lippen und Gänsehaut bekamen und Jo sich in der Folge einen Schnupfen einfing. Dann gab es zwei Tage lang eine regelrechte Qualleninvasion – riesige glibberig-eklige Dinger waren das –, und zwei weitere Tage regnete es fast ununterbrochen. Dafür hat Annika den Aufenthalt genossen, und das ist das Wichtigste, denn Annika ist das Sorgenkind in der Familie, seitdem der Heilpraktiker erzählt hat, dass sie in seiner Praxis in Tränen ausgebrochen ist.
Sie hat geweint?
Ja.
Warum denn?
Haben Sie häufiger Streit mit Ihrer ältesten Tochter?
Mit der Franzi?
Ja, wenn das Ihre ältere Tochter ist. Streiten Sie oft mit ihr?
Das kommt schon mal vor, aber die Franzi lebt gerade gar nicht bei uns, sie ist ja schon zwanzig.
Dann hat das wohl bei Annika einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wie auch immer – Annika leidet, wenn Sie sich streiten, Frau Schön. Nur dass Sie das wissen.
Aber …
In Ihrer Familie ist sonst alles in Ordnung, oder?
Ja! Warum weint sie? Ich versteh’s nicht!
Nun …
Was hat sie denn?
Es gibt wohl noch einen weiteren Grund … Annika findet offenbar keine Freundinnen in der Schule.
Keine Freundinnen? Das kann nicht sein!
Wussten Sie das nicht?
Sie sagt ja nie was!...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Achtzigerjahre • Aktenzeichen XY • Autorin ist involviert • Cold Case • eBooks • Echte Verbrechen • Entführung • Esching • Fall Ursula Herrmann • gut recherchiert • Heimatkrimi • Krimi • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimis • Schondorf • Stern Crime • True Crime • Ungeklärtes Verbrechen • unschuldig verurteilt • Ursula Herrmann |
ISBN-10 | 3-641-26820-6 / 3641268206 |
ISBN-13 | 978-3-641-26820-6 / 9783641268206 |
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