Die Frequenz des Todes (eBook)
400 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45738-2 (ISBN)
Vincent Kliesch wurde in Berlin-Zehlendorf geboren, wo er bis heute lebt. Im Jahre 2010 startete er mit dem Bestseller »Die Reinheit des Todes« seine erste erfolgreiche Thriller-Serie, weitere folgten. Die »Auris«-Reihe um den forensischen Phonetiker Matthias Hegel schreibt Vincent Kliesch nach einer Idee seines Freundes Sebastian Fitzek.
Vincent Kliesch wurde in Berlin-Zehlendorf geboren, wo er bis heute lebt. Im Jahre 2010 startete er mit dem Bestseller »Die Reinheit des Todes« seine erste erfolgreiche Thriller-Serie, weitere folgten. Die »Auris«-Reihe um den forensischen Phonetiker Matthias Hegel schreibt Vincent Kliesch nach einer Idee seines Freundes Sebastian Fitzek.
1
Cecile
Von allen Geräuschen, die es vermögen, das Grauen anzukündigen, vernahm Cecile Dorm das vermutlich schlimmste. Es war kein heftiges Pochen an der Wohnungstür mitten in der Nacht. So wie letztens, als der Nachbar von schräg gegenüber im Pyjama vor ihrer Haustür gestanden hatte. Friedmann, der sonst nicht einmal grüßte, vermutlich, weil er sich für etwas Besseres hielt, hier in der Villengegend in Westend … die uns eigentlich eine Nummer zu groß ist, Schatz. Findest du nicht? Aber ihr Mann Jonathan mochte es, war hier groß geworden, wenn auch in einem Mietshaus ohne Garten. So gesehen hatten sie es nun in dem renovierungsbedürftigen, aber großzügigen Anwesen besser. Auch wenn es einsamer war als in ihrem Heimatdorf in Mahlow, wo Cecile früher nie schräg angeguckt worden war, wenn sie mal eilig im Jogginganzug, ungeschminkt und mit einem hastig gebundenen Verlegenheitszopf was fürs Frühstück holte. »Ist das nicht die Tante vom Jugendamt? Die Frau vom Nervenarzt? Der holt sich seine Irren nach Hause, heißt es. Ja, er hat jetzt sogar die Praxis vom Dachboden in den Keller verlegt. Ob er in der Klinik rausgeflogen ist? Und das Haus! Nicht mal einen Anstrich können die sich leisten.«
Das hatte ihr Friedmann, der sich seit seiner Pensionierung zu so etwas wie einem Nachbarschaftssheriff aufgeschwungen hatte, sogar einmal ins Gesicht gesagt: »Eine Schande, wie Sie die alte Villa verkommen lassen.« Damals jedoch, als er sie aus dem Schlaf gerissen hatte, war ihm die bröckelige Fassade nicht wichtig gewesen. Barfuß und mit einem nicht funktionierenden Telefon in der Hand stand er vor ihnen.
»Sie sind doch Arzt«, hatte er flehentlich zu Jonathan gesagt. »Bitte, mein Enkel erstickt!«
Der Vierjährige, den die Friedmanns für ihre Tochter babysitteten, hatte einen Pseudokrupp-Anfall erlitten. Cecile wickelte den Kleinen einfach in eine Decke und trug ihn nach draußen. Sein spastischer Hustenkrampf hatte sich schnell gelöst.
Jetzt hingegen war es kein ersticktes Röcheln, das Ceciles Herz dazu brachte, ihr gegen die Rippen zu schlagen wie ein Basketball aufs Turnhallenlinoleum. Auch kein Hupen, gefolgt von quietschenden Autoreifen, das sich rasend schnell auf sie zubewegte. Weder das Bersten von Fensterglas im Wohnzimmer, während sie nachts im Bett lag, noch das helle Knacken eines Knochens beim Aufprall nach einem Sturz. Das Geräusch, das sie so sehr ängstigte, war weit schlimmer als all das. Es kam direkt aus der Wiege, in die sie die kleine Selma zum Schlafen gelegt hatte. Das Geräusch war Stille. Nichts als absolute, erbarmungslose Stille.
Von dieser beängstigenden Ruhe war Cecile geweckt worden. Nur für einen kurzen Moment hatte ihre Erschöpfung die Oberhand gewonnen über das Beschützertier, das seit Neuestem in ihr wohnte. Die Bärenmama, die ihr Junges nicht für einen Augenblick aus den Augen lassen wollte, hatte versagt und war mit der Milchpumpe in der Hand auf dem Sofa eingeschlafen. Und das lag nicht einmal daran, dass Nachtruhe und Durchschlafen seit nunmehr sechs Wochen nicht mehr als entfernte Erinnerungen für sie waren. Nachts war sie alle zwei Stunden aufgestanden, um ein Fläschchen zuzubereiten, weil das wenige, das aus ihren Brüsten in die Pumpe tropfte, nicht einmal ein Mäusebaby hätte satt machen können. Einmal hatte Jonathan angeboten, ihr zu helfen, hatte mit schläfriger Hand und geschlossenen Augen müde nach ihr getastet, doch sie hatte abgewinkt. Er brauchte seinen Schlaf für die Patienten. Musste ausgeruht sein, durfte keine Fehler machen. Gerade jetzt, da er sich endlich – nach über einem Jahrzehnt als Arzt und Psychotherapeut in verschiedenen Berliner Kliniken – selbstständig gemacht hatte. Die Depressions-, Essstörungs- und Panikpatienten, die ihn hier zu Hause in seiner Praxis aufsuchten, hätten kein Verständnis dafür, wenn er es Cecile gleichtat und während einer der Therapiesitzungen einschlief. Wobei es aber gar nicht das Baby gewesen war, das Cecile in der vergangenen Nacht so beschäftigt hatte – in den zwei Stunden zwischen den Fläschchen, die sie Selma anreichte und während derer sie nur schwer zurück in den Schlaf finden konnte. Es war die Tatsache, dass sie nun schon seit Tagen ihre Mutter nicht erreichen konnte. Die beiden telefonierten regelmäßig miteinander, und es sah ihrer Mutter so gar nicht ähnlich, dass sie bereits seit einer Woche nicht mehr auf Ceciles Nachrichten reagierte, die sie ihr auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.
»Ruf mich bitte zurück, Mama, ich hab dir so viel zu erzählen. Meine Kollegin hat mir von einem Einsatz berichtet – in einer völlig verwahrlosten Familie, die bis zum Mutterschutz unter meiner Betreuung stand. Sie musste das Kind aus der Familie nehmen, dabei hatte ich bis zuletzt gehofft, dass es zu vermeiden wäre. Du kannst dir die Zustände nicht vorstellen. Gott, bin ich froh, dass Jonathan nicht trinkt oder Drogen nimmt. Wobei ich das Gefühl habe, dass er sich verändert hat, seit Selma da ist. Manchmal denke ich sogar, er ist eifersüchtig auf die Kleine. Aber vielleicht irre ich mich ja auch, ich meine, es ist schon alles etwas viel für ihn. Du weißt ja, wie überfordert er mit privaten Dingen manchmal ist. Erinnerst du dich an die Hochzeit? Gott, was war er nervös …« Cecile hatte kichernd aufgelegt.
Die Hochzeit! Was für ein wunderschöner Tag das gewesen war. Mindestens genauso schön wie der Moment, als Jonathan ihr den Antrag gemacht hatte. Er hatte so unglaublich aufrichtig geklungen, als er nach dem Besuch im Theater des Westens in dem kleinen Restaurant an der Hardenbergstraße ihre Hand ergriffen hatte. Als er sie angesehen hatte, wie er es nur dann tat, wenn er etwas Bedeutsames zu verkünden hatte. Mit diesem Funkeln in den grünen Augen, das Cecile immer nur dann an ihm bemerkte, wenn er mit ihr sprach.
»Könntest du dir vorstellen, einen Mann zu heiraten, der zwanzig Jahre älter ist als du, der seltsame Hobbys hat, jeden Tag mit psychisch Kranken arbeitet und der morgens nach dem Aufwachen immer erst mal mürrisch ist und aussieht wie ein Kobold?«
Cecile hatte gelacht, aber nicht wegen Jonathans selbstironischer Scherze. Immerhin war es auch ein solcher Scherz gewesen, mit dem er sie das erste Mal zu einem Rendezvous eingeladen hatte. »Würden Sie mit mir essen gehen, solange ich die Gabel noch selbst zum Mund führen kann?«, hatte er sie gefragt, nachdem sie ihn überraschend auf der Geriatrie besucht hatte. Eine Schwester reichte dort gerade fürsorglich einer alten Dame das Essen an, und Cecile und Jonathan hatten ihr für einen Augenblick dabei zugesehen. »Nur, wenn ich Ihnen danach nicht den Rücken mit Franzbranntwein einreiben muss«, hatte Cecile geantwortet und damit ihre Beziehung nach wochenlangem Austausch von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten auf eine neue Ebene gehoben.
Nein, Cecile hatte aus Verlegenheit über den Heiratsantrag gelacht. Aus Verlegenheit darüber, dass sie nicht sicher war, was sie Jonathan antworten sollte. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass es absolut richtig für sie wäre, ihn zu heiraten. Das Beste, was ihr jemals passieren könnte. Woran sie zweifelte, war, ob es auch das Beste für ihn sein würde, sie zur Frau zu nehmen. Eine kleine Inspektorin vom Jugendamt, die gern Daily Soaps sah, im Konzert an den falschen Stellen klatschte und mit ihrer Abstammung vom brandenburgischen Dorf auch sonst nicht eben von dem Kaliber war, das ein Dr. Jonathan Dorm aus dem feudalen Westend an seiner Seite erwarten durfte.
Zu Ceciles Freude war ihre Mutter stolz darauf, dass sie Jonathan an ihrer Seite hatte. Was hätten wohl andere Mütter gesagt? Er ist zu alt für dich, als Psychologe ist der garantiert selbst verrückt, wenn der sich eine andere sucht, sitzt du mit dem Kind auf der Straße. Doch so etwas hätte Ceciles Mutter nie gesagt. Im Gegenteil, es gab nichts Gutes, das sie ihrem einzigen Kind nicht gegönnt hätte. Und dann hatte ihre Tochter diese wahrhaft gute Partie gemacht, denn wenn Jonathan auch nicht reich war, so vermochte er ihr doch immerhin ein Leben in bürgerlichem Wohlstand zu ermöglichen. Einem Wohlstand, den ihre Mutter nie erlebt hatte und den sie ihrer kleinen Cecile allein deswegen von ganzem Herzen gönnte.
Es war eine unerträgliche Stille, die sich ihren Weg aus Selmas Wiege zu Cecile bahnte.
Hat Jonathan sie vielleicht woanders hingebracht? Cecile wagte es nicht, sich dem Babybett zu nähern. Wie versteinert blieb sie auf der Schwelle der Verbindungstür stehen, die das Kinderzimmer vom Schlafraum trennte. Die Tür war seit Selmas Ankunft niemals geschlossen gewesen, noch nie hatte die Kleine ein Geräusch von sich gegeben, das Cecile nicht gehört hätte. Warum sollte Jonathan sie aus der Wiege nehmen? Und warum sollte ich das nicht merken?
Als läge ein böser Fluch über dem Kinderzimmer, verweilte Cecile auf der Schwelle, während ihr Puls sich mit jedem Schlag ihres Herzens weiter und weiter beschleunigte. Das liebevoll eingerichtete Zimmer mit den niedlichen Bildern an der Wand, den Kuscheltieren auf den Möbeln und dem sanften Rosenduft erschien Cecile mit einem Mal so düster und unheimlich wie ein Grabgewölbe. In ihrem hellblauen Trainingsanzug stand sie mit zittrigen Knien da und hoffte entgegen aller Vernunft, dass sie sich nur in einem bösen Traum befand.
Es war erst wenige Wochen her, dass Cecile mit der kleinen Selma nach Hause gekommen war. Ein kerngesundes Mädchen, das jedem, der es zu Gesicht bekam, unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Auch wenn es nicht viele Menschen waren, die das Kind bislang zu sehen bekommen hatten. Cecile und Jonathan hatten Selma noch nicht herumgezeigt,...
Erscheint lt. Verlag | 28.4.2020 |
---|---|
Reihe/Serie | Ein Jula und Hegel-Thriller | Ein Jula und Hegel-Thriller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Akustik • akustischer Profiler • Auris • Baby • Bruder • Entführung • Fitzek Bücher • Forensik • forensischer Phonetiker • Jula Ansorge • Kindesentführung • Matthias Hegel • Mordverdacht • Notruf • Phonetik • Podcast • Profiler • Profiler Thriller • Sebastian Fitzek • Sebastian Fitzek Bestseller • Thriller Action • Thriller Berlin • Thriller deutsche Autoren • Thriller Deutschland • thriller entführung • Thriller Neuerscheinungen 2020 • thriller reihe • True Crime Podcast • Vermisst • verschwunden |
ISBN-10 | 3-426-45738-5 / 3426457385 |
ISBN-13 | 978-3-426-45738-2 / 9783426457382 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich