Die Jägerin (eBook)
416 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2559-7 (ISBN)
Die härteste Detektivin Sydneys.
1946: Die Journalistin Billie Walker ist nach Kriegsende in die Fußstapfen ihres verstorbenen Vaters getreten und hat dessen Agentur für Privatermittlungen wiedereröffnet. Eines Tages steht eine Frau, die aus Deutschland geflohen ist, vor ihrer Tür, sie sucht ihren verschwundenen Sohn. Der junge Mann wurde zuletzt in einem exklusiven Club gesehen, seitdem fehlt jede Spur von ihm - offenbar war er auf der Suche nach etwas. Doch was hätte einen Teenager hierher geführt? Billie setzt alles daran, den Jungen zu finden, doch plötzlich schwebt auch sie in höchster Gefahr ...
Atemberaubende Spannung um den ersten Fall für eine besondere Heldin. Von Australiens schillerndster Bestseller-Autorin.
Tara Moss arbeitete als Journalistin und Model; sie setzt sich für Feminismus und Diversität ein und gilt in Australien als Bestsellerautorin. Zurzeit lebt sie mit ihrer Familie in Vancouver. Tara Moss besitzt die kanadische und australische Staatsbürgerschaft. Mehr zur Autorin unter www.taramoss.com Wolfgang Thon studierte Sprachwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Berlin und Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und Autor und hat bereits etliche Thriller von u. a. Brad Meltzer, Steve Barry und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
Kapitel Eins
Billie Walker durchlebte jenen Moment erneut.
Die Sonne wärmte ihr Gesicht, und hinter ihren Lidern existierte eine Welt aus abstraktem Technicolor, als sie die Augen vor dem Windstoß schloss und um die Ecke auf den Stephansplatz bog. Jedes Detail war so klar, so präsent, selbst jetzt noch. In der Luft hing das Aroma von etwas Gebackenem. Ein Laden bot seine tagesfrischen Köstlichkeiten an, Sachertorte und Apfelstrudel. Sie hatte über etwas gelacht, was Jack gesagt hatte, und spürte seine große, beruhigende Hand in ihrer, als sie über die Straße gingen. Ihre Welt bestand aus einer Blase aus frischer Liebe, der Erregung, in einem fremden Land zu sein, und der Begeisterung über eine Geschichte. Keine Spur von Vorsicht. Keine Furcht. Ihre Lederschuhe klickten auf den Pflastersteinen, sie hörte Stimmen, dann einen Schrei, der sie aus ihrer Träumerei riss. Sofort hatte sie ihren Reporter-Notizblock in der Hand, löste sich von Jack und blickte hinunter, um den Bleistift aufzufangen, der auf den Boden zu fallen drohte.
Als sie den Kopf wieder hob, sah sie es. Sie blieb ebenso unvermittelt stehen wie Jack. Die Welt kollidierte mit ihrer Blase, zerschmetterte die Illusion von Sicherheit. Ein Dutzend Frauen knieten auf dem großen Platz, umzingelt von uniformierten Männern. Sie weinten leise, während ihnen die Köpfe rasiert wurden. Billie sah Blut und Haar, nackte Haut und Tränen. Ein Mann in Unterwäsche stand zusammengekauert neben ihnen, sein Rücken war blutig und sein Bart abrasiert, seine Jarmulke lag zertrampelt auf dem Boden neben ihm. Eine kleine Menschenmenge kam dazu. Einige Zuschauer schrien und schwangen die Fäuste. Billie konnte nicht hören, was sie sagten, weil ihr das Blut in den Ohren rauschte. Gerade als sie den Drang verspürte, loszurennen und sich einzumischen, drehte sich einer der Soldaten um und fing ihren Blick auf. Sie sah sofort zur Seite, als würde er sie verbrennen.
Sie schloss die Augen.
Was sie damals in Wien gesehen hatte, war immer da, schien nur darauf zu warten, dass sie unaufmerksam war. Eines Tages im Jahre 1938 hatte sie die Augen geöffnet und es war da, und jetzt tauchte es immer wieder hinter ihren geschlossenen Lidern auf – eine Art Umkehrung. Warum ausgerechnet diese Erinnerungen? Warum dieses Wochenende? Es hing alles mit Jack zusammen, mit dem Krieg, mit allem, was sie irgendwie jetzt hinter sich lassen musste, wie ihr Kopf ihr sagte, aber ihr Herz klammerte sich immer noch daran.
Billie schüttelte sich sanft und packte ihre Sachen zusammen. Es war sinnlos, in diesen Erinnerungen zu verharren, selbst wenn sie Billie einfach nicht loslassen wollten. Sie war nicht mehr in Europa, sie war wieder in Australien. Es war 1946, eine neue Welt, und in dieser musste sie sich ein Leben einrichten. Sie musste es, und sie würde es auch.
Die Straßenbahn wurde langsamer und hielt neben der Central Station. Sie nahm eine kleine, vergoldete Puderdose und einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und legte einen Hauch von Tussys Fighting Red auf. Das war ihre Haltestelle. Es wurde Zeit, aufzustehen.
***
»Guten Morgen, John!«, rief Billie, als sie in das Foyer des Daking House trat. Sie machte schnelle, große Schritte mit ihren langen, schlanken Beinen, und trotzdem ging sie so leise wie eine Katze. Ihre Oxfords hatten Kreppsohlen und waren auf dem Hartholzboden annähernd lautlos.
Als der Fahrstuhlführer Billies Stimme hörte, nahm er Haltung an, aufgescheucht vom Eintreffen seines, wie er oft betonte, »Lieblingsfahrgastes«. Es gab keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. Billie kam morgens stets nach zehn Uhr an, lange nachdem die Lieferanten die Geschäfte im Erdgeschoss versorgt hatten und mit ihren Lastwagen wieder abgezogen waren, nachdem die grauhaarigen Geschäftsleute durch die Lobby geströmt und in ihren jeweiligen Büros verschwunden waren, stirnrunzelnd und schlurfend. Etliche von ihnen stanken bereits um neun nach Zigarre. Billie schlurfte nie und zog den Duft von französischem Parfüm vor. Wenn sie auch nur einen Funken von der Körpersprache zurückhaltender Menschen verstand, ging das dem Fahrstuhlführer auch so. Andere Mieter hier im Haus, wie Roberts Dancing School oder die Spieler, die das Billardzimmer im Untergeschoss besuchten, und dergleichen, nun, sie kamen und gingen zu sonderbaren Zeiten, wie Billie selbst auch häufig. Aber die Buchhalter und Anwaltstypen hielten sich penibel an ihre Arbeitszeiten, hockten jetzt bereits an ihren Schreibtischen in ihren jeweiligen Kanzleien und widmeten sich der Art von Arbeit, die Billie einfach nicht im Blut lag. Allerdings klopften in ihrem Gewerbe auch nur sehr wenige Klienten um neun Uhr vormittags an ihre Tür. Mitternacht dagegen – das war durchaus schon vorgekommen. Ihr Metier mochte vielleicht keinen schillernden Ruf haben, aber die Welt verlangte nun einmal danach. Ebenso wie ihre Geldbörse.
»Guten Morgen, Ms Walker. Ist wie immer ein Vergnügen, Sie zu sehen«, begrüßte sie der Fahrstuhlführer.
Als er im August seine Arbeit im Gebäude aufgenommen hatte, als Ersatz für eine freundliche, grauhaarige Frau, die die Position während der Kriegsjahre innegehabt hatte, hatte der neue Fahrstuhlführer darauf bestanden, dass sie ihn beim Vornamen nannte: John. Wie er Billie ansprechen sollte, war dagegen in dieser Zeit keine einfache Frage. Die Leute in seinem Beruf benutzten für gewöhnlich formelle Titel, und John Wilson war neu in seinem Job. Also zögerte er noch, ihre Einladung anzunehmen und sie einfach »Billie« zu nennen, wie seine Vorgängerin es irgendwann getan hatte. Jedes Mal jedoch, wenn jemand Billie mit »Mrs« ansprach, erinnerte sie das an die Unsicherheit ihres Privatlebens und an ihren Verlust. »Miss« fühlte sich irgendwie auch nicht richtig an, und außerdem konnte man sie kaum so nennen, nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte – einschließlich einer Kriegshochzeit, wenn auch einer improvisierten, ohne Ring und mit sehr wenigen Zeugen. Am Ende hatte sie sich für ein »Ms« entschieden. Soweit Billie es verstand, hatte er seine Wurzeln in den alten Titeln und war etwa um die Jahrhundertwende als neutralere Anredeform für Frauen geprägt worden, wurde jedoch nur wenig benutzt. Ihr war diese höfliche Anrede vor einigen Jahren in einem Artikel der New York Times aufgefallen. Als sie ihn damals las, hatte sie nicht geahnt, wie gut er einmal zu ihr passen würde. John Wilson hatte ihren Wunsch kommentarlos akzeptiert, so dass Billie jetzt an jedem Arbeitstag der Woche ein »Ms Walker« zu hören bekam. In der Welt da draußen stolperten die Leute natürlich nach wie vor über Miss, Mrs, Madam oder Mademoiselle – über die ganze komplizierte Angelegenheit einer Frau im heiratsfähigen Alter mit unklarem Status. Sonderbarerweise schienen solche Details ungeachtet all dessen, was der Krieg die Menschheit über die dem Leben innewohnende Unsicherheit gelehrt hatte, mehr und nicht weniger an Bedeutung zu gewinnen. Als wenn die Jahre der Finsternis von einem Titel, einer Frau, verursacht worden wären, nicht vom Nationalsozialismus und den dunklen Seiten des Strebens nach Macht. Es gehörte, wie Billie annahm, zu dem Versuch, nach Stabilität zu greifen, eine nostalgische Rückkehr zu etwas Simplerem, etwas Rigidem und leicht Verständlichem. Aber Billie wollte nicht umkehren, das war nicht ihr Stil. Und außerdem konnte man nicht ungeschehen machen, was der Krieg verursacht hatte.
Wilson trat pflichtbewusst zurück, um sie zum nächsten der vier Aufzüge des Gebäudes zu geleiten. Zwei waren für Passagiere gedacht, die zwei anderen waren Lastenaufzüge. Momentan war nur einer der Passagierlifte in Betrieb, und sie hatten erst in den letzten Monaten wieder angefangen, ihn vom Erdgeschoss aus zu betreiben. Davor hatten die Mieter zu den ersten Stockwerken die Treppen nehmen müssen, um Energie zu sparen. Es fühlte sich noch immer luxuriös an, direkt von der Lobby hinaufzufahren. Billie trat in die Fahrstuhlkabine, und Wilson schloss die äußeren und inneren Metalltüren mit seiner kräftigen linken Hand. Das Gitter entfaltete sich wie eine Wand von sich öffnenden Scheren. Seine rechte Hand, einst seine Führungshand, hatte den Krieg nicht überlebt, ebenso wenig der Arm. Sein Anzugärmel war an der Seite mit Sicherheitsnadeln befestigt – das war im Sydney dieser Tage kein besonders ungewöhnlicher Anblick. Sein Haar war fein säuberlich kurz geschnitten, aber der Haaransatz an einer Seite uneben. Sein Gesicht, Billie vermutete, dass es früher einmal durchschnittlich gut ausgesehen hatte, war von Verbrennungsnarben entstellt. Seine Augen, seine Nase und der größte Teil des Mundes waren jedoch unversehrt. Seit über einem Jahr hatte sich die Stadt jetzt mit gebrochenen Männern gefüllt, die aus Übersee zurückkehrten. Viele wurden wegen der Entstellungen, die sie nicht verstecken konnten, gemieden, und der australische Busch füllte sich mit ihnen, genauso wie es nach dem Großen Krieg gewesen war. Es waren Männer, die Einsamkeit den Blicken vorzogen, die man ihnen auf den Straßen der Stadt zuwarf, den auf sie zeigenden Händen der Kinder, den unablässigen Erinnerungen. Aber John war zu einer erleichterten Familie zurückgekehrt, und die Mieter von Daking House mochten ihn bereits. Er hatte die Rückkehr geschafft, im Gegensatz zu vielen Anderen.
Sie fuhren mit dem klappernden Aufzug hinauf.
»Wie geht es June?«, erkundigte sich Billie wie so häufig nach Wilsons Frau. »Und den Kindern?«
»Sehr gut, danke der Nachfrage«, erwiderte er und lächelte schief. Um seine Augen bildeten sich Fältchen. Er bremste den Aufzug im sechsten Stock ab und...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Reihe/Serie | Ein Billie Walker Kriminalroman |
Übersetzer | Wolfgang Thon |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The War Widow. A Billy Walker Mistery |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Australien • Entführung • Model • Privatdetektivin • Schmuck • Sydney • Vermächtnis • verschwundener Sohn • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8412-2559-4 / 3841225594 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2559-7 / 9783841225597 |
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Größe: 3,9 MB
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