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Der Junge aus dem Wald (eBook)

Spiegel-Bestseller
Thriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
464 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-25836-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Junge aus dem Wald - Harlan Coben
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Als kleiner Junge wurde er im Wald gefunden, allein und ohne Erinnerungen. Niemand weiß, wer er ist oder wie er dort hinkam. Dreißig Jahre später ist Wilde immer noch ein Außenseiter, lebt zurückgezogen als brillanter Privatdetektiv mit außergewöhnlichen Methoden und Erfolgen. Bis die junge Naomi Pine verschwindet und Staranwältin Hester Crimstein ihn um Hilfe bittet. Was zunächst wie ein Highschooldrama aussieht, zieht bald immer weitere Kreise - in eine Welt, die Wilde meidet. Die Welt der Mächtigen und Unantastbaren, die nicht nur Naomis Schicksal in den Händen zu halten scheinen ...

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nachdem er zunächst Politikwissenschaft studiert hatte, arbeitete er später in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Thriller wurden bisher in 45 Sprachen übersetzt, erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und wurden zu großen Teilen verfilmt. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde - dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award -, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Familie in New Jersey.

ZWEI


Der Experte im Hipster-Outfit sagte: »Den Typen sollte man einfach in den Knast stecken.«

Hester Crimstein war live auf Sendung und wollte gerade zum verbalen Gegenschlag ansetzen, als ihr am Rand ihres Blickfelds jemand ins Auge fiel, der wie ihr Enkel aussah. Gegen das Studio-Scheinwerferlicht war die Person nur schwer auszumachen, aber sie sah aus wie Matthew.

»Das sind aber starke Worte«, sagte der Moderator, ein ehemals charmanter Schönling, dessen Diskussionstechnik in erster Linie darin bestand, einen verblüfften Gesichtsausdruck aufzusetzen und beizubehalten, als wären seine Gäste Idioten, ganz egal, ob ihre Argumente Sinn ergaben oder nicht. »Was sagen Sie dazu, Hester?«

Matthews Erscheinen – er musste es sein – hatte sie aus dem Konzept gebracht.

»Hester?«

Kein guter Zeitpunkt, die Gedanken schweifen zu lassen, ermahnte sie sich. Konzentrier dich.

»Sie sind abscheulich«, sagte Hester.

»Wie bitte?«

»Sie haben mich schon verstanden.« Sie richtete ihren berüchtigten, vernichtenden Blick auf den Hipster-Experten. »Abscheulich.«

Was will Matthew hier?

Ihr Enkel hatte sie noch nie ohne Vorankündigung während der Arbeit besucht – weder im Büro noch in einem Gerichtssaal oder im Studio.

»Würden Sie das bitte erklären?«, fragte der Moderatoren-Schönling.

»Aber klar doch«, sagte Hester und sah den Hipster-Experten weiter mit einem feurigen Blick an. »Sie hassen Amerika.«

»Wie bitte?«

»Mal ehrlich«, fuhr Hester fort und warf ihre Hände in die Luft, »wozu haben wir überhaupt ein Gerichtswesen? Wer braucht denn so etwas? Schließlich haben wir doch die öffentliche Meinung, oder? Kein Prozess, keine Jury, kein Richter – lassen wir doch einfach die Twitter-Meute entscheiden.«

Der Hipster-Experte setzte sich etwas aufrechter hin. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Doch, genau das haben Sie gesagt.«

»Es gibt Beweise, Hester. Ein sehr eindeutiges Video.«

»Oho, ein Video.« Sie wackelte mit den Fingern, als sprächen sie über einen Geist. »Also noch einmal: Da braucht es keinen Richter und keine Jury. Das erledigen Sie schon, als gütiger Anführer der Twitter-Meute …«

»Ich bin nicht …«

»Pst! Jetzt rede ich. Oh, Entschuldigung, ich glaube, ich habe Ihren Namen vergessen. Insgeheim nenne ich Sie den Hipster-Experten, aber ich kann Sie ja auch einfach Chad nennen?« Er öffnete den Mund, aber Hester ließ sich nicht bremsen. »Wunderbar. Sagen Sie, Chad, welche Strafe würden Sie als angemessen für meinen Mandanten erachten? Wo Sie doch schon darüber entschieden haben, ob er schuldig oder unschuldig ist, warum sprechen Sie dann nicht auch gleich das Urteil?«

»Ich heiße Rick.« Er schob seine Hipster-Brille hoch. »Und wir alle hier haben das Video gesehen. Ihr Mandant hat einem Mann ins Gesicht geschlagen.«

»Herzlichen Dank für die Analyse. Wissen Sie, was wirklich hilfreich wäre, Chad?«

»Mein Name ist Rick.«

»Rick, Chad, wo ist da der Unterschied? Es wäre wirklich hilfreich, ja geradezu wahnsinnig hilfreich, wenn Sie und Ihre Meute einfach alle Entscheidungen für uns treffen. Überlegen Sie nur, wie viel Zeit wir so sparen könnten. Wir posten einfach ein Video in den sozialen Medien und entscheiden anhand der Reaktionen über Schuld oder Unschuld. Daumen hoch oder Daumen runter. Wir bräuchten weder Zeugen noch Aussagen oder Beweise. Nur unseren Richter Rick Chad hier.«

Das Gesicht des Hipster-Experten lief rot an. »Wir haben alle gesehen, was Ihr reicher Mandant dem armen Mann angetan hat.«

Der Moderatoren-Schönling ging dazwischen: »Bevor wir fortfahren, zeigen wir das Video noch einmal, damit alle, die gerade erst zugeschaltet haben, wissen, worüber wir sprechen.«

Hester hätte am liebsten widersprochen, aber sie hatten das Video schon unzählige Male gezeigt und würden es noch unzählige Male zeigen. Ihr Einspruch wäre nicht nur vergebens, ihr Mandant, um den es in dem Video ging, ein wohlhabender Finanzberater namens Simon Greene, würde dadurch nur noch schuldiger wirken.

Viel wichtiger war jetzt, dass Hester die paar Sekunden, in denen die Kameras ausgeschaltet waren, dafür nutzen konnte, nach Matthew zu sehen.

Das virale Video – es hatte bereits vier Millionen Klicks, und täglich wurden es mehr – hatte ein Tourist im Central Park mit seinem iPhone aufgenommen. Auf dem Bildschirm holte Hesters Mandant Simon Greene im maßgeschneiderten Anzug mit perfekt gebundener Hermes-Krawatte aus und rammte einem ungekämmten jungen Mann in abgerissener Kleidung – bei dem es sich, wie Hester wusste, um einen Drogensüchtigen namens Aaron Corval handelte – die Faust ins Gesicht.

Aus Corvals Nase schoss Blut.

Ein Bild wie aus einem Roman von Charles Dickens – der reiche, privilegierte Gentleman verpasst dem armen Burschen aus der Gosse ohne jeden Grund einen Kinnhaken.

Hester reckte den Kopf zur Seite und versuchte durch den Dunstschleier der Studioscheinwerfer Augenkontakt zu Matthew aufzunehmen. Sie trat oft als Rechtsexpertin in den Nachrichten von Cable News auf, und an zwei Abenden in der Woche hatte die »berühmte Strafverteidigerin« Hester Crimstein ihre eigene Sendung auf diesem Kanal, Crimstein on Crime. Obwohl man ihren Namen nicht Crime-Stein aussprach, sondern Krimm-Stihn, war der Stabreim offenbar für ausreichend fernsehtauglich befunden worden, außerdem sah er im Laufband unten am Bildschirmrand gut aus, also hatte der Sender es dabei belassen.

Ihr Enkel stand im Schatten. Hester sah, dass Matthew die Hände rang, genau wie sein Vater es getan hatte, und plötzlich verspürte sie einen Stich tief in der Brust, sodass sie einen Moment lang keine Luft bekam. Sie überlegte ob sie zu Matthew gehen und ihn fragen sollte, aber das Prügel-Video war schon zu Ende, und Hipster Rick Chad hatte Schaum vor dem Mund.

»Haben Sie gesehen?« Speicheltropfen flogen aus seinem Mund und verfingen sich in seinem Bart. »Das ist doch sonnenklar. Ihr reicher Mandant hat grundlos einen Obdachlosen angegriffen.«

»Sie wissen nicht, was passiert ist, bevor die Kamera eingeschaltet wurde.«

»Das macht keinen Unterschied.«

»Natürlich tut es das. Genau deshalb haben wir ein Rechtssystem, damit Bürgerwehrler wie Sie nicht einfach nach dem Mob rufen, der dann gewaltsam gegen einen unschuldigen Menschen vorgeht.«

»Moment. Niemand hat hier von Lynchjustiz gesprochen.«

»Natürlich haben Sie das. Sie haben fast das Patent darauf. Sie wollen meinen Mandanten, einen Mann ohne Vorstrafen und Vater von drei Kindern, sofort in den Knast stecken. Ohne Prozess, weitere Fragen oder sonst irgendetwas. Kommen Sie, Rick Chad, lassen Sie Ihren inneren Faschisten raus.« Hester schlug auf den Tisch, erschreckte den Moderatoren-Schönling damit und skandierte: »Sperrt ihn ein. Sperrt ihn ein.«

»Hören Sie auf damit!«

»Sperrt ihn ein!«

Ihr Sprechgesang machte ihn offensichtlich ganz fertig. Er wurde rot. »Das habe ich doch überhaupt nicht gemeint. Sie übertreiben absichtlich maßlos.«

»Sperrt ihn ein!«

»Hören Sie auf damit. Das hat keiner gesagt.«

Hester konnte gut Menschen imitieren. Sie nutzte das auch gern im Gerichtssaal, um Staatsanwälte subtil vorzuführen, auch wenn das vielleicht ein wenig infantil war. Sie lehnte sich zurück und wiederholte Rick Chads Aussage Wort für Wort im gleichen Tonfall wie er: »Den Typen sollte man einfach in den Knast stecken.«

»Die Entscheidung liegt beim Gericht«, sagte Hipster Rick Chad, »aber wenn jemand sich so benimmt, wenn er einem anderen am helllichten Tag ins Gesicht schlägt, hat er es vielleicht verdient, gekündigt zu werden und seinen Job zu verlieren.«

»Wieso? Weil Sie selbst und Deprimierte-Dental-Hygienikerin sowie Nagel-Die-Ladys69 auf Twitter das sagen? Sie kennen die Zusammenhänge doch gar nicht. Sie wissen nicht einmal, ob das Video echt ist.«

Moderatoren-Schönling kommentierte die Äußerung durch das Hochziehen einer Augenbraue. »Wollen Sie sagen, dass das Video gefälscht ist?«

»Gut möglich, ja. Wissen Sie, ich hatte da eine Mandantin, jemand hatte ihr lächelndes Gesicht neben eine tote Giraffe gephotoshopt und behauptet, sie sei Jägerin und habe das Tier geschossen. Es war die Racheaktion eines Exmanns. Können Sie sich vorstellen, was für einen Shitstorm sie über sich ergehen lassen musste, mit wie viel Hass sie überhäuft wurde?«

Die Geschichte stimmte nicht – Hester hatte sie sich ausgedacht –, aber sie hätte ohne Weiteres stimmen können, und manchmal reichte das.

»Und wo ist Ihr Mandant Simon Greene derzeit?«, fragte Hipster Rick Chad.

»Welche Rolle spielt das denn?«

»Er ist zu Hause, stimmt’s? Auf Kaution entlassen?«

»Er ist ein unschuldiger Mensch, ein guter, fürsorglicher Mann …«

»Und reich.«

»Jetzt wollen Sie auch noch das Kautionssystem abschaffen?«

»Ein reicher weißer Mann.«

»Hören Sie, Rick Chad, ich weiß, dass Sie ein toleranter Typ sind, mit politischem Bewusstsein und all dem Zeug, man sieht das ja schon an Ihrem coolen Bart und der Hipster-Mütze – ist die von Kangol? –, aber Ihre schlichten Antworten und Ihre Vorurteile gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen sind ebenso schlimm wie die schlichten Antworten und die Vorurteile der anderen Seite.«

»Wow, das ist fast schon klassischer Whataboutism – Sie lenken ab, indem Sie auf...

Erscheint lt. Verlag 24.8.2020
Reihe/Serie Wilde ermittelt
Wilde ermittelt
Übersetzer Gunnar Kwisinski
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The boy from the woods
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Beschäftigung Erwachsene • eBooks • Entführung • Findelkind • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lügengeflecht • Manipulation • New York • New-York-Times-Bestsellerautor • Privatdetektiv • Psychothriller • Psychothriller bücher • Romane Bestseller 2020 • Spiegel-Bestseller-Autor • Teenager • Thriller • Thriller Neuerscheinungen 2020 Taschenbuch • Verschwörung
ISBN-10 3-641-25836-7 / 3641258367
ISBN-13 978-3-641-25836-8 / 9783641258368
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