Stille Nacht in der Provence (eBook)
256 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7036-3 (ISBN)
CAY RADEMACHER, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Seine Provence-Serie umfasst elf Fälle, zuletzt >Unheilvolles Lançon< (2024). Bei DuMont erschienen auch seine Romane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: >Der Trümmermörder< (2011), >Der Schieber< (2012) und >Der Fälscher< (2013). Außerdem veröffentlichte er die Kriminalromane >Ein letzter Sommer in Méjean< (2019), >Stille Nacht in der Provence< (2020) und >Die Passage nach Maskat< (2022) sowie das Sachbuch >Drei Tage im September< (
19. Dezember
Miramas-le-Vieux
Andreas Kantor betrachtete die Burg über der düsteren alten Stadt auf dem Hügel. Ein kalter Ostwind trieb graue Wolken über den Himmel, so niedrig, dass sie die Mauern umspülten wie Wellen. Die mittelalterliche Festung war aus sorgfältig behauenen, gelblichen Steinen gefügt. Aber irgendein längst vergessener Krieg oder ein Erdbeben oder einfach die Zeit hatte sie verwüstet: Die Mauer war an manchen Stellen geborsten, ihre Krone war zu einer unregelmäßig gezackten Linie verfallen, und dahinter war nichts als Luft, kein Turm, kein Palast, keine Kapelle. Die Festung und die Häuser des verlassen wirkenden Städtchens bekrönten einen steilen, felsigen Berg, der hundert, vielleicht zweihundert Meter hoch war, schätzte Andreas, der aber nicht gut war mit solchen Schätzungen. Wie er überhaupt nicht gut war mit Zahlen, mit Entfernungen, Maßen, Kalkulationen, mit Geld und Summen und Bilanzen, aber daran wollte er jetzt lieber nicht denken. Er hatte seinen Wagen, das einzige Auto hier, auf einem Parkplatz abgestellt, eine steinige, kahle Fläche am Ende der einzigen schmalen Landstraße, die bis vor den Hügel von Miramas-le-Vieux führte – aber nicht weiter hinauf, denn eine Schranke versperrte den Weg.
Andreas streckte seinen nach der langen Fahrt schmerzenden Körper, machte rollende Bewegungen mit den Schultern, lockerte die Muskeln. Früher hatte er nie solche Beschwerden gehabt, jetzt fühlte er sich nach ein paar Stunden Autofahrt wie durchgeprügelt.
Weihnachten in der Provence.
Was hatte er erwartet? Blauen Himmel, Zypressenalleen und Olivenhaine, eine gnädige Sonne, mildes Licht und Mittagswärme, ein funkelndes Glas Rosé auf der steinernen Terrasse eines restaurierten alten Weinguts? Aber auch im Midi ging die Sonne Mitte Dezember schon kurz nach fünf Uhr nachmittags unter. Ihre letzten Strahlen fielen jetzt wie weiße Lichtschleier durch die Wolkendecke.
Andreas blickte auf Gestrüpp und Wälder, auf Eichen und Pinien, auf einen riesigen Teppich dunkelgrüner, beinahe schwarzer Kronen, der den Berg von Miramas-le-Vieux umgab. Hier und dort taten sich Lücken darin auf, als wäre der Stoff zerschlissen: winterkahle Gärten, verwilderte Felder und zwei oder drei Olivenhaine mit Reihen knotig gewachsener Bäume, die ihn unwillkürlich an die Kreuze eines Massengrabs erinnerten. Der Erdboden zwischen ihren Stämmen war schwarz-rot und sah mürbe aus, es musste seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr geregnet haben. Doch die Luft schmeckte nach Schnee, und ihm kam es so vor, als würde mit jeder Minute, die die hinter den Wolken verborgene Sonne tiefer sank, die Temperatur um ein Grad fallen. Er schlug den Kragen seiner schwarzen Trekkingjacke hoch.
»Müssen wir etwa unsere Koffer zu Fuß da raufschleppen?« Nicola hatte die Beifahrertür geöffnet, war aber noch sitzen geblieben. Sie blickte hoch zu Miramas-le-Vieux und ihm nicht in die Augen.
Andreas war geistesgegenwärtig genug, die scharfe Erwiderung, die sich ihm schon wie von selbst aufdrängte, gerade noch rechtzeitig hinunterzuschlucken. »Ich bin sicher, es sind nur ein paar Schritte bis zum Haus, Schatz«, antwortete er.
Sie waren mitten in der Nacht aus Deutschland aufgebrochen, um die Provence noch bei Tageslicht zu erreichen. Schnee in der Eifel. Schneeregen in den Vogesen. Regen im Tal der Rhône. Erst hinter Orange hatten die Niederschläge aufgehört, und er hatte einen Scherz gemacht – einen schwachen, zugegebenermaßen –, dass mit der Provence die Sonne kommen würde, aber Nicola hatte geschwiegen, selbstverständlich hatte sie geschwiegen, was hätte sie auch dazu sagen sollen? Sie waren im Rhythmus des gerade neu erstandenen Tesla gefahren: ein paar Hundert Kilometer Autobahn, dann eine Stunde an die Ladesäule, pappiges Raststättenessen, einen Espresso, dann die nächsten Kilometer, die nächste Ladesäule, der nächste Espresso. Andreas war stolz auf den Tesla, ein Auto wie ein Raumschiff: schnell, lautlos, klar. Leider war ihm erst auf dieser, ihrer ersten gemeinsamen langen Fahrt bewusst geworden, dass früher das Brummen des Dieselmotors die Stille zwischen Nicola und ihm ausgefüllt, zumindest erträglich gemacht hatte. Im hermetisch stillen Elektrowagen hingegen schienen die wenigen Worte, zu denen sie sich aufgerafft hatten, einfach verschluckt zu werden, bevor einem auch nur eine passende Antwort einfallen konnte.
Andreas war erschöpft, noch erschöpfter als sonst, doch er spürte: Wenn er jetzt, nach dieser endlosen, schweigsamen Fahrt, auch noch einen Streit begann, dann könnten sie gleich wieder nach Deutschland zurückkehren – falls Nicola dann überhaupt noch Lust hatte, ein zweites Mal so viele Stunden neben ihm auszuharren.
»Ich trage den Koffer, du kannst die kleine Tasche nehmen«, sagte er und eilte um das Auto. Er reichte ihr die Hand, damit sie leichter aussteigen konnte. Nicola blickte ihn einen Moment lang überrascht an, zögerte, dann griff sie nach seiner Rechten und erhob sich. Andreas hoffte, dass sie nicht spürte, wie er erzitterte, als er ihre Hand auf seiner spürte. Nicola war fünfzig Jahre alt, nicht einmal vier Wochen jünger als er, sie war klein, ihr Leib war noch immer schlank und biegsam. Sie hatte dunkle Augen und trug ihre schwarzen Haare noch genauso offen wie zu ihrer Zeit an der Universität, als sie sich kennengelernt hatten. Zwei, drei graue Strähnen schimmerten jetzt darin, aber ansonsten hatte sie sich nicht verändert, fand er. Andreas hätte jetzt gern ihre Hand umfasst und Nicola zu sich gezogen, hätte gern sein Gesicht in ihren duftenden Haaren vergraben, hätte sie gern so fest umarmt, dass er ihre Brüste auf seiner Brust spürte.
Keine gute Idee.
Ihre Hand glitt von seiner Hand wie Wasser. Sie öffnete den Kofferraum, atmete tief durch, als müsste sie sich einem Kampf stellen, und sagte: »Dann wollen wir mal.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
Andreas erkannte, wie viel Mühe es sie kostete, aber besser ein angestrengtes Lächeln als gar keines. Er lächelte zurück.
Am Ende des Parkplatzes, nahe an der Schranke, stand ein großes, grün gestrichenes eisernes Kreuz auf einem Sockel aus gelbem Stein. Ein Bildnis der Heiligen Jungfrau war wie ein metallener Scherenschnitt mitten in das Kreuz gesetzt worden. Einst tat wohl eine Inschrift kund, wer dieses Monument errichtet hatte, und warum. Doch die Plakette war verschwunden, nur eine leere Fläche im Sockel verriet noch, dass sie in längst verwehten Jahren hier angebracht gewesen war. Auf dem Platz war niemand zu sehen, auf der Gasse dahinter auch nicht. Sein Kollege Martin hatte Andreas vor dieser Stille gewarnt, aber er war trotzdem überrascht, dass sie nun wirklich keine Seele bemerkten.
Martin – Oberstudienrat, zweimal geschieden, dreimal verheiratet, vier Kinder, wie er gerne verkündete – war ein Bonvivant, der Frankreich liebte. Er hatte vor weniger als einem Jahr ein Ferienhaus in Miramas-le-Vieux erworben, ein Gemäuer aus dem sechzehnten Jahrhundert, das bereits irgendein Vorbesitzer renoviert hatte. Martin hatte eigentlich mit einem Teil seiner unübersichtlichen Familie die Weihnachtsferien hier verbringen wollen, doch dann hatte sich Ehefrau Nummer drei den Fuß so kompliziert gebrochen, dass sie operiert werden musste. Martin hatte im Lehrerzimmer herumgefragt, ob nicht irgendjemand Lust hätte, nach Miramas-le-Vieux zu fahren. Er suchte einen »Housekeeper«, wie er das nannte, jemanden, der im Winter heizte, der aufpasste, dass die Leitungen nicht einfroren und platzten, dass die Dachschindeln nicht vom Mistral hinuntergeweht wurden, dass kein loser Fensterladen im Wind schlug, bis er splitterte, kurz: Wer über Weihnachten dorthin zog, der musste nicht einmal etwas dafür bezahlen.
Es war ein Gefallen, gewissermaßen, sagte sich Andreas, ein Gefallen für den lieben Kollegen Martin. Und dass die Sache gratis war, war bloß ein angenehmer Nebeneffekt. Er hatte sich noch im Lehrerzimmer spontan gemeldet, beinahe kam er sich so vor wie einer seiner Schüler. Hatte zudem einfließen lassen, dass er seinen letzten Kurs bereits am achtzehnten Dezember geben müsse und also noch vor Beginn der eigentlichen Urlaubszeit im Süden sein könne. »Falls in deinem Haus tatsächlich was zu reparieren ist, dann können wir das erledigen, bevor die Baumärkte schließen.«
Und so waren sie für die Weihnachtszeit an dieses Haus gekommen und blickten nun auf eine schwere Wolkendecke und schmeckten Schnee statt Rosé unter einem blauen Himmel. Das fing ja gut an. Andreas unterdrückte einen Seufzer, eigentlich konnte es doch jetzt nur noch besser werden, oder?
Sie gingen die Straße hoch und zwängten sich links an der Schranke vorbei. Ein Vorhängeschloss blockierte den Balken, aber einige Autos parkten weiter oben am Rand der engen Gasse, also mussten doch ein paar Menschen auch im Winter in Miramas-le-Vieux leben, und die hatten wohl alle einen Schlüssel zur Schranke, um bis zu ihren Häusern zu fahren. Davon hatte Martin nichts gesagt. Was er aber erzählt hatte, war: Die mittelalterliche Stadt war im neunzehnten Jahrhundert aufgegeben worden, weil man eine wichtige Eisenbahnlinie von Paris bis ans Mittelmeer nicht über den Berg von Miramas-le-Vieux legen wollte, sondern durch die Ebene unterhalb des Orts. So war vor hundertfünfzig Jahren im Flachland ein neues Miramas neben der Linie entstanden, weil die Bewohner den Schienen und also den Versprechungen der Moderne entgegengezogen waren. Ein Versprechen, das in gewisser Weise gehalten worden war, denn heute konnte man von dort in viereinhalb Stunden mit dem TGV Paris erreichen. Die alte Stadt auf dem Hügel hingegen ließen die Bewohner mehr als hundert Jahre lang achtlos...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Autor provence krimireihe • Bannalec • capitaine blanc • Der neue Rademacher • Dupin • Heilige Nacht • Kaminfeuer • Krippenfiguren • lila weihnachtscover • miramas le vieux • mittelalterliches städtchen • Polizeiarbeit • Provence • Santons • Schnee • schöne krimis für weihnachten • Stille Nacht • Tannenbaum • Urlaubslektüre • Weihnachten • Weihnachten in frankreich • weihnachten provence • weihnachtsidylle • Weihnachtskrimi • wie bannalec • Winter in frankreich |
ISBN-10 | 3-8321-7036-7 / 3832170367 |
ISBN-13 | 978-3-8321-7036-3 / 9783832170363 |
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