Zimmer 103 (eBook)
480 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-26324-9 (ISBN)
New York 2017. Carly Kirk zieht es in das in die Jahre gekommene Sun Down Motel, wo ihre Tante Viv vor mehr als 30 Jahren spurlos verschwand. Sie will endlich die Wahrheit herausfinden. Doch das Geheimnis, das das alte Motel hütet und dem nicht nur ihre Tante zum Opfer gefallen ist, übertrifft Carlys schlimmste Albträume ...
Simone St. James schrieb schon in der Highschool ihre erste Geistergeschichte. Später war sie 20 Jahre in der Filmbranche tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Mit ihrem Mann und ihrer verwöhnten Katze lebt sie in der Nähe von Toronto, Kanada.
Fell, New York
November 1982
Viv
In der Nacht, in der alles endete, war Vivian allein.
Das war kein Problem für sie, es war ihr sogar lieber. Denn bei ihren Nachtschichten an diesem abgelegenen Ort hatte sie eins gelernt: In Gesellschaft zu sein war einfach, Alleinsein hingegen schwer. Vor allem bei Dunkelheit. Und derjenige, der wirklich allein sein konnte, allein mit sich selbst und seinen Gedanken – dieser Mensch war stärker als jeder andere. Bereit. Gewappnet.
Dennoch stieg wieder die alte Angst in ihr auf, als sie auf den Parkplatz des Sun Down Motel in Fell, New York, einbog und anhielt. Sie blieb in ihrem alten Cavalier sitzen, den Schlüssel im Zündschloss, Heizung und Radio aufgedreht, die Jacke eng um ihre Schultern gezogen, und schaute auf das gelb-blaue Leuchtschild, auf die zwei Ebenen des L-förmigen Gebäudes. Ich will da nicht reingehen. Aber ich werde es tun. Trotz ihrer Angst war sie bereit. Es war 22 Uhr 59.
Sie hätte weinen mögen. Oder schreien. Ihr war übel.
Ich will da nicht reingehen.
Aber ich werde es tun. Weil ich es immer tue.
Ein paar Tropfen Eisregen schlugen auf die Windschutzscheibe. Im Rückspiegel sah sie einen Lastwagen, der auf der Straße vorbeidonnerte. Die Uhr sprang auf 23 Uhr, und im Radio begannen die Nachrichten. Noch eine Minute, und sie käme zu spät, aber das war ihr egal. Niemand würde sie feuern. Niemanden kümmerte es, ob sie bei der Arbeit erschien. Im Sun Down Motel waren nur wenige Gäste, und keiner von ihnen würde es merken, wenn das Mädchen von der Nachtschicht zu spät kam. Oft war es so ruhig, dass Außenstehende denken könnten, hier passiere nie etwas.
Viv Delaney wusste es besser.
Das Sun Down sah zwar unbewohnt aus, aber das war es nicht.
Mit klammen Fingern klappte sie die Sonnenblende mit dem Spiegel herunter. Sie fuhr sich durch die Haare – kurz geschnitten bis knapp über die Ohrläppchen und mit Haarspray in Form gebracht – und überprüfte ihr Augen-Make-up; nicht die kalten Farben, die manche Mädchen benutzten, sondern ein sanftes Lila. Es sah ein bisschen so aus, als hätte ihr jemand ein Veilchen verpasst. Man konnte es mit Gelb und Orange verschmieren, um den Effekt eines mehrere Tage alten Blutergusses zu erzielen, aber so viel Mühe hatte sie sich an diesem Abend nicht gemacht. Nur das Violett auf der zarten Haut ihrer Augenlider über dem dunklen Strich, den Eyeliner und Wimpern bildeten. Warum sie sich überhaupt geschminkt hatte? Sie wusste es nicht mehr.
Im Radio sprachen sie über eine Leiche. Ein Mädchen war an der Melborn Road im Straßengraben gefunden worden, zehn Meilen von hier entfernt. Nicht, dass hier ein richtiger Ort gewesen wäre – nur ein Motel an einem zweispurigen Highway, der aus Fell hinaus ins Hinterland von New York und irgendwann nach Kanada führte. Aber wenn man eine Meile weiterfuhr und dann bei einer Lampe, die einsam über der Straße baumelte, rechts abbog und dieser Straße folgte und dann der nächsten und übernächsten – dann war man da, wo die Leiche des Mädchens gelegen hatte. Ein Mädchen namens Tracy Waters. Sie war zuletzt im Nachbarort gesehen worden, als sie das Haus einer Freundin verlassen hatte. Achtzehn Jahre alt. Zwei Tage, nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten, war ihre Leiche entdeckt worden, nackt im Straßengraben.
Die zwanzigjährige Vivian Delaney saß in ihrem Auto, und ihre Hände zitterten, als sie die Geschichte hörte. Sie dachte daran, wie es wohl war, hilflos und nackt im Eisregen zu liegen. Wie schrecklich kalt. Dass es immer Mädchen waren, die so endeten, tot im Straßengraben wie ein überfahrenes Tier. Selbst wenn man ängstlich und vorsichtig war – es konnte einen immer erwischen.
Vor allem hier. Man konnte immer die Nächste sein.
Sie schaute auf das Motel, auf das grelle blau-gelbe Leuchtschild in der Dunkelheit, das unaufhörlich blinkte. ZIMMER FREI. KABEL-TV! ZIMMER FREI. KABEL-TV!
Selbst nach drei Monaten an diesem Ort hatte sie immer noch Angst. Riesige, furchtbare Angst. Die Gedanken krochen in ihr hoch und setzten sich in ihrem Gehirn fest, bis die Panik ausbrach. Ich bin die nächsten acht Stunden allein, allein in der Dunkelheit. Allein mit ihr und den anderen.
Widerstrebend zog Viv den Zündschlüssel ab, sodass die Heizung ausging und das Radio – in dem es immer noch um Tracy Waters ging – verstummte. Sie reckte das Kinn und stieß die Fahrertür auf. Stieg aus in die Kälte.
Die Nylonjacke eng um sich gezogen, lief sie über den Parkplatz. Sie trug Jeans und marineblaue Turnschuhe mit weißen Schnürsenkeln, die Sohlen viel zu dünn für dieses feuchtkalte Wetter. Ihr Haar wurde nass vom Regen, der Wind brachte die Frisur durcheinander. Sie ging auf die Tür mit der Aufschrift REZEPTION zu.
In der Rezeption stand Johnny hinter dem Empfangstisch und zog schon den Reißverschluss seiner Jacke über seinem dicken Bauch zu. Wahrscheinlich hatte er sie durch das Fenster in der Tür gesehen. »Bist du zu spät?«, fragte er, obwohl hinter ihm an der Wand eine Uhr hing.
»Fünf Minuten«, gab Viv zurück, während sie ihre Jacke auszog. Nun, da sie hier drinnen war, war ihr flau im Magen, beinahe übel. Ich will nach Hause.
Aber wo war ihr Zuhause? Fell war es nicht. Auch nicht Illinois, wo sie herkam. Als sie ihr Zuhause endgültig verlassen hatte, nach der letzten lautstarken Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, hatte sie vorgegeben, nach New York zu fahren, um Schauspielerin zu werden. Aber das war nur eine Rolle gewesen, die sie gespielt hatte, eine ausgedachte Geschichte. Sie hatte keine Ahnung, wie man Schauspielerin in New York wurde – die Geschichte hatte ihre Mutter auf die Palme gebracht, das hatte gereicht. Was Vivian eigentlich wollte, mehr als alles andere, war Veränderung. Einfach weggehen.
Also war sie gegangen. Und war hier gelandet. Fell musste fürs Erste ihr Zuhause sein.
»Mrs Bailey ist in Zimmer 207«, sagte Johnny, der die Liste der wenigen Motelgäste durchging. »Sie hat schon einiges intus, also mach dich auf einen Anruf gefasst.«
»Na großartig«, sagte Vivian. Mrs Bailey kam nur ins Sun Down Motel, um sich volllaufen zu lassen, wahrscheinlich, weil sie Probleme bekommen würde, wenn sie es zu Hause täte. Wenn sie betrunken war, rief sie immer bei der Rezeption an, um Dinge zu verlangen, die sie dann meistens gleich wieder vergaß. »Noch jemand?«
»Das Pärchen, das nach Florida unterwegs war, hat ausgecheckt«, erklärte Johnny. »Wir hatten zwei Scherzanrufe, nur Atemgeräusche am anderen Ende. Dumme Teenager. Und ich habe Janice eine Nachricht geschrieben, wegen der Tür von Nummer 103. Mit der stimmt irgendwas nicht, ständig wird sie vom Wind aufgeweht, selbst wenn ich sie abschließe.«
»Das ist immer so«, sagte Viv. »Du hast es Janice schon vor einer Woche gesagt.« Janice war die Besitzerin des Motels, und Viv hatte sie seit Wochen nicht mehr gesehen. Vielleicht seit Monaten. Sie kam nur her, wenn es unbedingt sein musste, und ganz bestimmt nicht nachts. Ihre Lohnschecks fand Viv in einem Briefumschlag auf dem Empfangstisch, und alle Kommunikation fand in Form von schriftlichen Mitteilungen statt. Sogar die Besitzerin mied diesen Ort, wo sie nur konnte.
»Tja, sie sollte die Tür reparieren lassen«, sagte Johnny. »Ich meine, ist doch seltsam, oder? Ich hatte sie abgeschlossen.«
»Stimmt«, sagte Viv. »Das ist seltsam.«
Sie war daran gewöhnt. Niemand sonst, der im Motel arbeitete, sah, was sie sah, und erlebte, was sie erlebte. Denn diese Dinge passierten nur mitten in der Nacht. Die Leute von der Früh- und von der Abendschicht hatten keine Ahnung davon.
»Hoffentlich checkt sonst niemand ein«, sagte Johnny und zog sich seine Kapuze über den Kopf. »Hoffentlich bleibt es ruhig.«
Es ist niemals ruhig, dachte Viv, aber sie sagte: »Ja, hoffentlich.«
Viv sah ihm nach, als er das Büro verließ, hörte, wie er den Motor seines Wagens anließ und wegfuhr. Johnny war sechsunddreißig und wohnte bei seiner Mutter. Viv stellte sich vor, wie er nach Hause kam und vielleicht noch fernsah, bevor er ins Bett ging. Ein Typ, der keine großen Ziele hatte und ein relativ normales Leben führte, frei von der Angst, die Vivian spürte. Einer, der nicht an Tracy Waters dachte, außer flüchtig, wenn er ihren Namen im Radio hörte.
Vielleicht war nur sie es, die langsam verrückt wurde.
Stille breitete sich aus, nur gelegentlich unterbrochen von Motorgeräuschen auf der Road Six und dem Wind in den Bäumen hinter dem Motel. Jetzt war es 23 Uhr 12. Die Uhr an der Wand hinter dem Empfangstisch sprang auf 23 Uhr 13.
Sie hängte ihre Jacke an den Haken in der Ecke. Von einem anderen Haken nahm sie die marineblaue Polyesterweste, die links über der Brust den gestickten Schriftzug Sun Down Motel trug, und streifte sie über. Dann zog sie den unbequemen Holzstuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Sie warf einen schnellen Blick auf die verschrammte, fleckige Schreibtischplatte: das schwarze, viereckige Gerät, das ein klackendes Geräusch machte, wenn man den Griff über einer Kreditkarte hin und her bewegte, um einen Kohlepapierdurchschlag zu machen, das Wählscheibentelefon in der Farbe von Erbrochenem. In der Mitte des Tischs lag ein großes, flaches Buch, in dem die Gäste beim Einchecken ihre Namen und Adressen eintragen und unterschreiben mussten. Es war bei November 1982 aufgeschlagen.
Viv...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Übersetzer | Anne Fröhlich |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Sun Down Motel |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amerika • eBooks • Geister • Grusel • Horror • Mädchen • New York • Schauergeschichten • Serienkiller, Serienmörder • Spuk • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-26324-7 / 3641263247 |
ISBN-13 | 978-3-641-26324-9 / 9783641263249 |
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