John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
KAPITEL 2
Der Tatort
1.
Bruce, der absolut keine Erfahrung mit einer Kettensäge hatte, gab das Werkzeug unverzüglich an Nick weiter, der es vorher zumindest schon einmal in der Hand gehalten hatte. Sie brauchten zehn Minuten, um herauszufinden, wie man das verdammte Ding überhaupt startete. Dann legte Nick los und zerkleinerte selbst die dünnsten Äste und Zweige. Bruce folgte ihm in sicherem Abstand durch den Garten und sammelte das Holz auf. Er war gerade dabei, einige Äste auf einen Haufen zu werfen, als wie aus dem Nichts ein Polizeibeamter von Santa Rosa auftauchte. Bruce fuchtelte hektisch mit den Händen herum, und Nick schaltete widerwillig die Kettensäge aus. In einiger Entfernung heulte noch eine.
Der Beamte stellte sich vor, und nach ein paar Minuten, in denen sie sich über den Sturm unterhielten, sagte er: »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es Tote gegeben hat. Die meisten wohl an der Nordspitze der Insel.«
Bruce nickte und erkundigte sich, was das mit ihm zu tun habe.
»Ihr Freund Nelson Kerr hat eine Kopfwunde erlitten. Er hat es nicht geschafft«, erklärte der Beamte.
»Nelson!«, rief Bruce ungläubig. »Nelson ist tot?«
»Leider ja. Er hat Ihren Namen und Ihre Telefonnummer als seinen Kontakt auf der Insel angegeben.«
»Was ist passiert?«
»Keine Ahnung. Ich bin nicht am Unglücksort gewesen. Ich habe die Anweisung bekommen, Sie zu finden. Mein Vorgesetzter möchte, dass Sie mitkommen und die Leiche identifizieren.«
Bruce warf einen verwirrten Blick in Richtung Nick, der so fassungslos war, dass er kein Wort herausbrachte. »Ja, sicher. Gehen wir«, sagte Bruce schließlich.
Der Beamte sah Nick an. »Sie sollten die Kettensäge mitnehmen. Wir brauchen sie vielleicht.«
Vor dem Haus stand ein grün-gelber John Deere Gator, ein Geländefahrzeug mit Allradantrieb, das allerdings nur zwei Sitze hatte. Bruce setzte sich nach vorn neben den Polizeibeamten, während Nick mit der Kettensäge in der Hand auf die offene Ladefläche kletterte. Sie fuhren los, bogen Richtung Westen ab und mussten schon den ersten Ästen und Trümmerteilen auf der Straße ausweichen. Ihr Weg führte sie aus dem Stadtzentrum heraus, und sie rollten langsam im Zickzack durch das Chaos.
Es war katastrophal. Bäume, Äste, heruntergerissene Stromleitungen, Gartenmöbel, Bretter, Dachschindeln, Müll und stehendes Wasser blockierten sämtliche Straßen. Dutzende Häuser waren von Bäumen und Ästen getroffen worden. Nur wenige Einheimische hielten sich im Freien auf, und jene, die mit der Beseitigung der Schäden beschäftigt waren, schienen wie benommen zu sein. Auf der Atlantic Avenue, einer großen Durchgangsstraße, die zum Strand führte, waren Mitglieder der Nationalgarde mit Kettensägen, Spitzhacken und Äxten unterwegs. Die Straße war kaum passierbar, doch der Polizeibeamte arbeitete sich langsam mit dem Gator durch das Chaos der Aufräumarbeiten.
»Es sieht so aus, als wäre Pauley’s Sound am schlimmsten getroffen worden«, sagte er. »Das Hilton hat es besonders schwer erwischt. Wir haben schon zwei Leichen auf dem Parkplatz gefunden.«
»Wie viele Tote hat es gegeben?«, fragte Bruce.
»Bis jetzt drei. Ihr Freund und die beiden vom Parkplatz, aber ich fürchte, es werden noch mehr.« Er bog von der Atlantic ab und fuhr auf eine schmale Straße, die nach Norden und Süden verlief. Sie schlängelten sich um dicke Äste und Trümmerteile herum, bogen wieder ab und arbeiteten sich weiter nach Osten vor. Auf der Fernando Street, der Hauptstraße entlang des Strandes, kamen sie nicht weiter. Mehrere Nationalgardisten waren gerade dabei, sie freizuräumen. Der Polizeibeamte stoppte den Gator, dann halfen sie mit, ein Auto aus dem Weg zu schieben. Das Meer hundert Meter weiter im Osten war ruhig, die Sonne schien kräftig.
Nelson Kerr lebte in einem dreigeschossigen Reihenhaus, das in einer Sackgasse nicht weit vom Hilton entfernt stand. Die Häuser waren schwer beschädigt, bei fast allen waren die Fenster eingeschlagen und die Dächer heruntergerissen worden. Sie hielten auf der Straße an und gingen zu einer Einfahrt, wo Bob Cobb auf sie wartete. Bruce schüttelte ihm die Hand, und Bob umarmte ihn. Seine Augen waren blutunterlaufen, die langen grauen Haare zerzaust. »Die Nacht war schlimm«, sagte er. »Ich wünschte, ich wäre so schlau gewesen, die Insel zu verlassen.«
»Wo ist Nelson?«, fragte Bruce.
»Hinter dem Haus.«
Nelson lag zusammengesunken auf der niedrigen Mauer, die seine Terrasse umgab. Er war eindeutig tot. Er trug Jeans, ein T-Shirt und alte Sneaker. Ein zweiter Polizeibeamter stand Wache, wusste aber offenbar nicht, was er als Nächstes tun sollte. Er gab Bruce die Hand und fragte: »Ist das Ihr Freund?«
Bruce bekam weiche Knie, doch er machte einen Schritt nach vorn und sah genauer hin. Nelsons Kopf hing seitlich von der Ziegelmauer herunter. Direkt über seinem linken Ohr befand sich eine klaffende Wunde. Unter der Leiche lag ein Ast von einer der Japanischen Kräuselmyrten, die vor der Terrasse wuchsen. Der Boden war mit weiteren Ästen und Blättern übersät.
Bruce trat zurück. »Ja, das ist er.«
Nick beugte sich vor und musterte die Leiche. »Das ist Nelson.«
»Okay. Ich hätte eine Bitte: Könnten Sie bei der Leiche bleiben, während wir Hilfe holen?«, fragte der Beamte, der Wache stand.
»Was für eine Art von Hilfe meinen Sie?«, erkundigte sich Bruce.
»Das weiß ich nicht so genau. Ich glaube, wir brauchen einen Arzt, der ihn für tot erklärt. Bleiben Sie einfach hier, okay?«
»Ja, klar«, erwiderte Bruce.
»Er hat Name, Adresse und Telefonnummer von Ihnen angegeben, außerdem die Namen von zwei Leuten in Kalifornien. Mr. und Mrs. Howard Kerr. Ich nehme an, das sind seine Eltern.«
»Vermutlich. Ich kenne sie nicht.«
»Wir werden sie wohl anrufen müssen.« Der Mann sah Bruce an, als könnte er Unterstützung gebrauchen.
Bruce wollte nichts mit dem Anruf zu tun haben. »Das ist Ihr Job. Aber die Handys haben doch kein Netz, oder?«
»Wir haben ein Satellitentelefon in unserem Bereitstellungsraum am Main Beach. Am besten fahre ich jetzt dorthin und erledige den Anruf. Oder wäre es möglich, dass Sie das übernehmen?«
»Nein. Ich kenne diese Leute nicht, und es ist auch nicht meine Aufgabe.«
»Okay. Dann bleiben Sie hier bei der Leiche.«
»Machen wir.«
»Können wir uns im Haus umsehen?«, fragte Bob.
»Ich denke schon. Wir sind so schnell wie möglich zurück.« Die Polizisten stiegen in den Gator und fuhren davon.
»Die Leute hier haben Glück gehabt«, sagte Bob. »Die Flutwelle hat direkt vor der Haustür angehalten. Ich wohne zwei Straßen weiter und habe einen Meter fünfzig Wasser im Erdgeschoss stehen. Während des Sturms habe ich auf der Treppe in der Diele gesessen und zugesehen, wie es immer weiter steigt. Kein angenehmes Gefühl.«
»Das tut mir leid, Bob«, sagte Bruce.
»Ich würde allerdings nicht sagen, dass Nelson Glück gehabt hat«, meinte Nick.
»Da hast du recht.«
Sie gingen wieder auf die Terrasse und starrten die Leiche an. »Ich kann mir nicht vorstellen, was er mitten im Sturm hier draußen gemacht hat«, sagte Bob. »Das war eine ziemlich dumme Idee.«
»Hatte er nicht einen Hund?«, erkundigte sich Bruce. »Vielleicht ist der weggelaufen.«
»Er hatte tatsächlich einen Hund«, erinnerte sich Bob. »Eine kleine schwarze Promenadenmischung, kniehoch, Boomer. Wir sollten ihn suchen.« Er öffnete die Hintertür. »Ich glaube, es wäre klug, nichts anzufassen.«
Sie traten auf den nassen Fußboden der unbeleuchteten Küche und sahen sich nach dem Hund um. »Wenn Boomer hier wäre, wüssten wir das doch inzwischen, oder?«, bemerkte Nick.
»Vermutlich«, räumte Bruce ein. »Ich werde oben nachschauen. Ihr durchsucht das Erdgeschoss.«
Fünf Minuten später hatten sie alle Räume durchkämmt, aber keinen Hund gefunden. Sie trafen sich in der Küche, in der Temperatur und Luftfeuchtigkeit von Minute zu Minute stiegen. Dann kehrten sie auf die Terrasse zurück und starrten Nelson an.
»Wir sollten wenigstens seine Leiche zudecken«, sagte Bruce.
»Gute Idee«, erwiderte Bob, der immer noch wie benommen wirkte. Nick holte zwei große Handtücher aus dem Bad und breitete sie behutsam über der Leiche aus.
Plötzlich wurde Bruce übel. »Ich glaube, ich muss mich hinsetzen«, sagte er. Nelson hatte vier schwere Gartenstühle aus Metall unter einen Tisch geschoben, den er in einer Ecke der Terrasse festgeklemmt hatte. Die Stühle waren nicht vom Wind durcheinandergewirbelt worden. Sie zogen sie hervor, wischten Blätter und kleine Zweige herunter und setzten sich sechs Meter von der Leiche entfernt in den Schatten. Nick hatte drei Flaschen warmes Bier im Kühlschrank gefunden, und sie stießen auf den toten Nelson an.
»Du hast ihn ziemlich gut gekannt, stimmt’s?«, fragte Bruce Bob.
»Ich denke schon. Wann ist er hergezogen? Vor zwei Jahren oder so?«
»Ungefähr so lange müsste es her sein. Sein dritter Roman war gerade veröffentlicht worden und verkaufte sich gut. Er war seit einigen Jahren geschieden, hatte keine Kinder und wollte weg aus Kalifornien.«
Sie tranken ihr Bier und starrten auf die weißen Handtücher. »Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Nick plötzlich. »Wie ist der Hund mitten in einem schweren Hurrikan aus dem Haus gekommen?«
»Vielleicht musste er ja mal pinkeln gehen«, mutmaßte Bob. »Nelson hat ihn kurz rausgelassen,...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2020 |
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Reihe/Serie | Die Camino-Reihe |
Übersetzer | Bea Reiter |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Camino Winds |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Agententhriller • Bücher • Buchhändler • Camino Island • Das Original • eBooks • Florida • Hurrikan • Mord • New York Times Bestseller • Nr. 1 Bestseller • Perfektes Verbrechen • Politthriller • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-26625-4 / 3641266254 |
ISBN-13 | 978-3-641-26625-7 / 9783641266257 |
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