Ich erwarte die Ankunft des Teufels (eBook)
204 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961669-8 (ISBN)
Mary MacLane (1881-1929) wuchs in einer Bergarbeiterstadt in Montana (USA) auf. Mit ihrem ersten Buch 'Ich erwarte die Ankunft des Teufels' wurde sie 1902 schlagartig berühmt, es folgten der Roman Meine Freundin Annabel Lee (1903) und weitere autobiographische Texte. MacLanes bohemehafter Lebensstil und ihre Bisexualität sorgten immer wieder für Skandale. Sie starb im Alter von 48 Jahren in Chicago
Mary MacLane (1881–1929) wuchs in einer Bergarbeiterstadt in Montana (USA) auf. Mit ihrem ersten Buch "Ich erwarte die Ankunft des Teufels" wurde sie 1902 schlagartig berühmt, es folgten der Roman Meine Freundin Annabel Lee (1903) und weitere autobiographische Texte. MacLanes bohemehafter Lebensstil und ihre Bisexualität sorgten immer wieder für Skandale. Sie starb im Alter von 48 Jahren in Chicago
Ich erwarte die Ankunft des Teufels
Anhang
Anmerkungen
Nachwort der Übersetzerin von Ann Cotten
There's something about Mary von Juliane Liebert
Butte, Montana
13. Januar 1901
Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.
Davon bin ich überzeugt, denn ich bin ungewöhnlich.
Ich bin ausgesprochen originell, von Geburt an und in meiner Entwicklung.
Ich habe eine ganz ungewöhnliche Lebensintensität in mir.
Ich kann fühlen.
Ich habe eine wunderbare Fähigkeit zu Elend und zu Glück.
Ich bin gedanklich offen.
Ich bin ein Genie.
Ich bin eine Philosophin meiner eigenen guten peripatetischen Schule.
Mich kümmert weder Gut noch Böse – mein Gewissen ist gleich null.
Mein Gehirn ist ein Sammelgefäß energischer Vielfalt.
Ich habe einen wahrlich erstaunlichen Zustand elenden, krankhaften Unglücks erlangt.
Ich kenne mich, ach, sehr gut.
Ich habe einen wirklich seltenen Egoismus entwickelt.
Ich bin in die tiefen Schatten hineingegangen.
All das zusammen ergibt Seltsamkeit. Ich denke also, dass ich ziemlich, ziemlich seltsam bin.
Ich habe mich umgesehen, ob es auch nur die Andeutung einer Parallele zu den paar hundert Menschen gibt, die ich meine Bekannten nenne. Vergeblich. Es gibt Leute von unterschiedlicher Tiefe und charakterlicher Vertracktheit, aber niemanden, der sich mit mir vergleichen ließe. Die jungen Leute in meinem Alter – sofern ich ihnen auch nur einen kurzen Blick in die wahren Vorgänge meines Gehirns gewähre – starren mich in ihrer stumpfen Blödheit nur verständnislos an; und die Alten, die vierzig und fünfzig sind – vierzig und fünfzig sind alt, wenn man neunzehn ist –, können auch nur blöd starren, oder sie setzen mit der ihnen eigenen Engstirnigkeit ihr kleines, teuflisches, überlegenes Lächeln auf, das sie für ahnungslose junge Menschen bereithalten. – Diese völlige Idiotie von Vierzig- und Fünfzigjährigen manchmal! –
Das sind sicherlich Extremfälle. Es gibt unter meinen jungen Bekannten auch welche, die nicht blöd starren, und ja, sogar mit vierzig und fünfzig gibt es ein paar, die die eine oder andere Phase meines komplizierten Charakters verstehen, auch wenn niemand ihn in seiner Ganzheit begreift.
Allerdings finde ich, wie gesagt, nicht einmal annähernd eine Entsprechung unter ihnen.
In diesem Moment denke ich an zwei berühmte Köpfe aus der literarischen Welt, die mit dem meinen gewisse feine Gemeinsamkeiten haben. Es sind die von Lord Byron und Marie Bashkirtseff. Im Byron des Don Juan finde ich mich selbst angedeutet. In diesem erhabenen Erguss werden nur wenige die Figur Don Juan bewundern, alle aber müssen Byron verehren. Man muss ihn wirklich bewundern. Er enthüllte und entblößte seine Seele, diese Mischung aus Gut und Böse – wie man so sagt –, damit die Welt sie betrachten konnte. Er kannte die menschliche Rasse. Und er kannte sich selbst.
Was diese seltsame Berühmtheit anbelangt, Marie Bashkirtseff: Ja, ich ähnele ihr in manchen Punkten, hat man mir gesagt. Aber in den meisten gehe ich über sie hinaus.
Wo sie tiefgründig ist, bin ich tiefgründiger.
Wo sie wunderbar leidenschaftlich ist, bin ich noch viel leidenschaftlicher.
Wo sie philosophisch ist, bin ich eine Philosophin.
Wo sie erstaunliche Eitelkeit und Einbildung besaß, bin ich noch eitler und eingebildeter.
Aber, ganz ehrlich, sie konnte gut malen – und ich – was kann ich?
Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, und ich bin ein bedeutungsloses kleines Tier mit unauffälligen Zügen.
Sie war umringt von bewundernden, mitfühlenden Freunden, und ich bin allein – allein, obwohl es vor Leuten wimmelt.
Sie war ein Genie, doch ich bin noch viel mehr ein Genie.
Sie litt mit dem Schmerz einer Frau, die jung ist, und ich leide mit dem Schmerz einer Frau, die jung und ganz allein ist.
Und so ist es.
In mancherlei Hinsicht habe ich den Rand der Welt erreicht. Noch ein Schritt und ich falle hinunter. Ich mache den Schritt nicht. Ich stehe am Rand, und ich leide.
Nichts, ach, nichts auf der Welt kann so leiden wie eine Frau, die jung ist und völlig allein!
– Bevor ich mit der Darstellung von Mary MacLanes Persönlichkeit fortfahre, will ich etwas von ihrem uninteressanten Werdegang herunterschreiben.
Ich wurde 1881 in Winnipeg in Kanada geboren. – Ob Winnipeg noch einmal auf diese Tatsache stolz sein wird, ist eine Frage, die mir Anlass zu einiger Spekulation und Nervosität gibt. – Als ich vier Jahre alt war, wurde ich mit meiner Familie in eine kleine Stadt im Westen Minnesotas gebracht, wo ich, bis ich zehn wurde, ein mehr oder weniger nichtssagendes und einsames Leben führte. Dann kamen wir nach Montana.
Dort ging das Leben genauso weiter.
Mein Vater starb, als ich acht war.
Er ernährte mich und kleidete mich und schickte mich in die Schule – nicht mehr, als mir zusteht – und übertrug auf mich den Erbcharakter und das Blut der MacLanes, aber ich wüsste nicht, dass er mir je einen einzigen Gedanken schenkte.
Auf jeden Fall liebte er mich nicht, denn er war unfähig, irgendwen außer sich selbst zu lieben. Und da nichts in dieser Welt von Bedeutung ist, wenn die Menschen einander nicht lieben, ist es mir im höchsten Grade gleichgültig, ob mein Vater, Jim MacLane, selbstsüchtigen Eingedenkens, lebte oder starb.
Er ist mir nichts.
Auf dieser Welt sind mir noch gegeben: eine Mutter, eine Schwester und zwei Brüder.
Sie bedeuten mir auch nichts.
Sie verstehen mich nicht, sie scheinen mich als eine Art lebende Kuriosität zu betrachten.
Mich durchströmt in besonderer Weise das Blut der MacLanes, das aus dem schottischen Hochland stammt. Meine Schwester und meine Brüder haben die Züge der Familie ihrer Mutter aus dem schottischen Tiefland geerbt. Schon dieser Unterschied kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Davon abgesehen unterscheiden sich die MacLanes – diese speziellen MacLanes – ein klein wenig von jeder Familie in Kanada, wie auch von jeder anderen, die ich kennengelernt habe. Sie hat Fanatiker aller Art hervorgebracht – religiöse, soziale, was weiß ich. Und ich bin eine echte MacLane.
Zwischen meiner unmittelbaren Familie und mir herrscht nicht das kleinste bisschen Sympathie. Es wird auch niemals dazu kommen.
Meine Mutter, die die gesamten neunzehn Jahre mit mir verbracht hat, hat ein vollkommen verzerrtes Bild von meiner Natur und meinen Wünschen, falls sie sich überhaupt eine Vorstellung davon macht.
Wenn ich an die köstliche Liebe und zärtliche Sympathie denke, die zwischen einer Mutter und einer Tochter möglich wären, fühle ich mich um eine wunderschöne Sache betrogen, auf die ich ein Anrecht gehabt hätte, in einer Welt, wo es für mich wenige solcher Dinge gibt.
Es wird immer so sein.
Meine Schwester und meine Brüder interessieren sich nicht für mich, meine Analysen und meine Philosophie, auch nicht für meine Wünsche. Ihre eigenen sind entschieden praktisch und materiell. Liebe und Sympathie zwischen Menschen sind in ihren Augen etwas für Romanfiguren.
Kurzum, sie sind Tieflandschotten, und ich bin eine MacLane.
Wie ich schon erwähnte, schleppte ich also mein uninteressantes Dasein nach Montana. Das Dasein wurde jedoch weniger uninteressant, als mein vielseitiger Geist sich zu entwickeln und zu wachsen begann und die glitzernden Dinge kennenlernte, die da in der Welt sind. Allerdings wurde mir im Lauf der Jahre bewusst, dass mein eigenes Leben bestenfalls eine flüchtige, negative Angelegenheit ist. All die Schätze, die ich begehrte, fehlten.
Ich schloss die höhere Schule ab mit sehr gutem Latein, gutem Französisch und Griechisch und einem Desinteresse an Geometrie und sonstiger Mathematik. Von Geschichte und Literatur habe ich eine grobe Ahnung. Ohne schulische Unterstützung habe ich mir eine peripatetische Philosophie angeeignet. Bei Schulabschluss besaß ich ferner: das Genie, das mir immer schon eignete; ein leeres Herz, das eine gewisse hölzerne Beschaffenheit angenommen hatte; einen ausgezeichneten, starken jungen Frauenkörper und eine erbärmlich ausgehungerte Seele.
Mit dieser Ausstattung bin ich durch die letzten zwei Jahre gegangen. Mein Leben, sei es auch unbefriedigend und verzerrt, ist jetzt nicht mehr langweilig. Ein bitteres Elend lastet darauf – das Elend des Nichts.
Nichts beschäftigt mich sonderlich. Ich schreibe jeden Tag. Schreiben ist eine Notwendigkeit – wie Essen. Ich mache ein wenig Hausarbeit, was ich im Großen und Ganzen sogar mag – zumindest manche Aufgaben. Ich staube ungern Stühle ab, aber ich habe nichts dagegen, Böden zu scheuern. Ja, viel von meiner Kraft und körperlichen Anmut kommt vom Scheuern von Küchenböden – ganz zu schweigen von einigen feinen philosophischen Gedankengängen. Es flößt dem Körper und dem Gehirn Energie ein.
Hauptsächlich aber wandere ich sehr weit übers offene Land. Butte und seine unmittelbare Umgebung bieten einen so scheußlichen Anblick, wie man es sich nur wünschen kann. Es ist tatsächlich so scheußlich, dass es als Annäherung an die vollkommene Scheußlichkeit gelten kann. Und alles, was vollkommen ist oder beinahe, sollte man nicht verachten. Ich bin auf einige verblüffend subtile Ideen gekommen, während ich viele Meilen über den Sand und das karge Land zwischen den kleinen Hügeln und Schluchten gegangen bin. Die vollkommene...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2020 |
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Nachwort | Juliane Liebert, Ann Cotten |
Übersetzer | Ann Cotten |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Amerikanische Literatur • Annabel Lee • Autobiografisches Schreiben • Bekenntnisliteratur • Feminismus • I await the devil's coming • I await the devils coming • I Await the Devils Coming Deutsch • I Await the Devils Coming Deutsche Textausgabe • I Await the Devils Coming Übersetzt • Ich erwarte die Ankunft des Teufels • I Mary MacLane Deutsch • I Mary MacLane Deutsche Textausgabe • I Mary MacLane Übersetzt • Literatur von Frauen • Mary Maclane Buch • Mary MacLane Deutsche Textausgabe • Mary Maclane Literatur • Mary MacLane Übersetzt • Men who have made love to me • Mirko Bonné Maclane • My Friend Annabel Lee Deutsch • My Friend Annabel Lee Deutsche Textausgabe • My Friend Annabel Lee Übersetzt • The Story of Mary MacLane • The Story of Mary MacLane Deutsch • The Story of Mary MacLane Deutsche Textausgabe • The Story of Mary MacLane Übersetzt • Weibliches Schreiben |
ISBN-10 | 3-15-961669-X / 315961669X |
ISBN-13 | 978-3-15-961669-8 / 9783159616698 |
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