Beweg-Gründe (eBook)
111 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61289-5 (ISBN)
Marion Esser ist als Psychomotorik-Therapeutin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis in der Nähe von Bonn tätig. Als Ausbilderin für diesen Ansatz der Psychomotorik (ASEFOP, Brüssel) und langjährige Wegbegleiterin von Bernard Aucouturier leitet sie das Aus- und Fortbildungszentrum ZAPPA in Bonn. Marion Esser ist Autorin von 'Beweg-Gründe' und 'Beziehung wagen'. Sie übersetzt Schriften zur Psychomotorischen Praxis Aucouturier aus dem Französischen und veröffentlicht weiterführende Literatur zu diesem Ansatz in ihrem Verlag proiecta. Wenn Sie die Homepage des Zentrum für Aus- und Fortbildung in Psychomotorischer Praxis Aucouturier (ZAPPA) besuchen möchten, klicken Sie bitte <A HREF="http://www.zappa-bonn.de" target="_blank">hier (www.zappa-bonn.de)
2 Theoretische Grundlagen für die psychomotorische Intervention
Die Bedeutung des Körpers in der Entwicklung des Menschen
Die Frage nach der Bedeutung des Körpers in der Entwicklung des Menschen reißt eine philosophische Grundfrage an: In der Erkenntnistheorie des Empirismus mit seinem Anspruch auf Objektivierung der Wissenschaften durch exakt naturwissenschaftliche Methoden wird der Körper als rein instrumenteller Körper, als reiner Funktionsträger betrachtet. Dem gegenüber steht die Auffassung geisteswissenschaftlich orientierter Forschungsgebiete (beispielsweise der Existenzphilosophie und Phänomenologie) und einiger Richtungen der Gestaltpsychologie und Psychoanalyse, die die Sinnhaftigkeit des Körpers, des Leibes, betonen.
„Vor allem die Existenzphilosophie (phénoménologie existentielle) hat einen wesentlichen Beitrag zu einem neuen Verständnis der menschlichen Leiblichkeit geleistet (…). Das gilt vor allem für Aussagen wie die, daß die Leiblichkeit des Menschen als eine grundlegende und ausgezeichnete Weise seines ,In-der-Welt-Seins‘ zu gelten hat; daß wir mit und in unserem Leibe leben, er aber auch ,Situation‘ für uns ist; daß er das Mittel unserer Weltbeziehungen darstellt; daß er uns unsere Welt ,erschließt‘; daß er kein Werkzeug ist, sondern im Grunde ,ich‘ selbst“ (v. Peursen 1959, 8f).
Merleau-Ponty spricht von einem „wahrnehmend-wahrgenommenen“, von einem „fühlend-gefühlten“ Leib, durch den ein Subjekt sinnhaft zur Welt bezogen ist (1986, 176ff). Der Leib wird in dieser Hinsicht zur Grundlage der menschlichen Existenz.
In dem französischen Ansatz zur Psychomotorik von Bernard Aucouturier wird der Körper ebenfalls nicht unter einem funktionalen, instrumentalen Aspekt betrachtet. Der Körper ist weit mehr: Über den Körper vollzieht sich die Fühlungnahme mit der Welt. Der Mensch erfährt und begreift die Welt über seinen Körper, nimmt sie über seine Sinne wahr und in sich auf, wird über seinen Körper in ihr tätig. Der Körper ist Bezugs- und Orientierungspunkt in der Welt: Hier bin ich, und dort ist der andere.
„Das Gefühl der Identität wurzelt in einem bestimmten Körper-Gefühl. Um zu wissen, wer man eigentlich ist, muß man sich dessen bewußt sein, was man fühlt. Man muß wissen, was für einen Gesichtsausdruck man hat, wie man sich hält, wie man sich bewegt“ (Lowen 1982,10).
Verliert ein Mensch den Bezug zu seinem Körper, verliert er sein Selbstgefühl und steht der Welt entfremdet gegenüber. Der Körper ist entscheidend am Aufbau der Identität eines Menschen beteiligt.
So geht es zum einen um den Körper, der „die Welt“ in sich aufnimmt. Zum anderen ist es Aucouturiers Anliegen, dem expressiven Aspekt des Körpers, der komplexen Ausdrucksweise des Menschen über seinen Körper und die Bedeutung, die dieser Ausdruck innerhalb und für seine Entwicklung haben, nahezukommen und zu verstehen. Wie sehr der Mensch Bezug zu seinem Körper nimmt, findet sich auch im alltäglichen Sprachgebrauch wieder: jemandem ein Dorn im Auge sein, etwas ins Auge fassen, seine Nase in alles stecken, jemandem etwas unter die Nase reiben, sich den Mund verbrennen, vor den Kopf gestoßen werden, sich Kopfzerbrechen machen, die Nackenhaare sträuben sich, mir geht etwas gegen den Strich, die Haare stehen zu Berge, die Ohren steifhalten, jemandem in den Ohren liegen, sich in der Haut unwohl fühlen, aus der Haut fahren, etwas auf dem Herzen haben, auf den Magen schlagen, an die Nieren gehen, vor Schreck gelähmt sein, eine Sache in die Hand nehmen, eine Sache hat Hand und Fuß, Fingerspitzengefühl beweisen, Standvermögen haben usw.
„Le corps“ im Sinne von Aucouturier ist demnach als der „gelebte“ und „erlebende“ Körper zu verstehen – in der deutschen Sprache als „Leib“ (Waldenfels 1980, 37) beschrieben. Vor diesem Hintergrund müssten wir im Folgenden richtiger vom „Leib“ sprechen. Da es diese differenzierten Begriffsbestimmungen im Französischen aber nicht gibt, behalte ich in den Übersetzungen den Begriff des „Körpers“ bei. Die besprochenen Konnotationen von „Leib“ sind dabei mitzudenken.
Um noch von einer anderen Seite auf eine Nuance der Unterscheidung von „Körper“ und „Leib“ aufmerksam zu machen, greife ich auf die Studien des Genfer Entwicklungspsychologen Jean Piaget zurück. Piaget hat beschrieben, welch fundamentale Bedeutung der Bewegung und Wahrnehmung, den sensomotorischen Prozessen, bei der Entwicklung der Intelligenz zukommt. Piaget nimmt bestimmte Entwicklungsstadien an: Während das Kind in der sensomotorischen Phase die Welt durch aktives Experimentieren entdeckt, erlangt es in den darauf folgenden Entwicklungsphasen bereits ein bestimmtes Vorstellungsvermögen, durch das es – im Zuge der Sprachentwicklung – allmählich zu symbolischem Denken gelangt. Diese Stadien gehen dem Stadium des operationalen Denkens voraus. Um zu operationalem Denken fähig zu werden, muss das Kind sich „dezentrieren“ können. Dezentrierung kann man definieren als die Fähigkeit, sich handeln zu sehen, seine Handlungen zu repräsentieren, ein Bild von sich in einer Handlungssituation zu haben. Eine kontinuierliche Entwicklung des Körperschemas bildet die Voraussetzung dafür, dass das Kind seinen Körper in der Bewegung wie in der Bewegungslosigkeit in Raum und Zeit repräsentieren kann. Die Fähigkeit, sein eigenes Tätigsein beobachten zu können, bedeutet Distanzgewinnen zu einem rein emotionalen Welterleben. Der Abstand von eigenen Emotionen und Projektionen schafft die Voraussetzung, Vergleiche und logische Beziehungen zwischen sich und Objekten herzustellen. Operationales Denken wird möglich (Esser 1988). Eine konkrete Kenntnis vom Körper ist wichtig, damit das menschliche Gehirn abstrakte Vorgänge verarbeiten und kognitive Entwicklung stattfinden kann (Piaget 1969, 7).
Aus den Studien Jean Piagets lässt sich leicht die Begründung für einen instrumentalen Umgang mit dem Körper herleiten, wie es beispielsweise auch in den „Kontrasten“, dem frühen Werk von Aucouturier und Lapierre der Fall ist. Das pädagogisch-therapeutische Vorgehen erschöpft sich in Trainings- und Übungsprogrammen, die ein möglichst gutes Körperschema beim Kind zu entwickeln suchen. Die Überlegung dabei ist, dass ein Kind, das über seinen Körper sensomotorisch verfügt, in der Welt tätig werden und sich neuen Situationen und Anforderungen stellen kann. Dabei wird zu stark außer Acht gelassen, dass der Körper sich über die Beziehung zum anderen strukturiert, dass der Körper in seinem Ausdruck nur in der Beziehung zum anderen zu verstehen ist. Nur über den Austausch mit dem anderen kann der Mensch sinnvoll und nachhaltig in seiner Entwicklung unterstützt werden.
Piaget hat die Entwicklung des Kindes im Allgemeinen beschrieben. Sein Thema war nicht die Klärung der Frage, was die Ausbildung eines adäquaten Körperbewusstseins verhindert und was Störungen und Beeinträchtigungen am Körper für den einzelnen Menschen bedeuten.
Mit der Freud’schen Grundauffassung übereinstimmend, dass menschliches Verhalten einen Sinn habe, ist der französische Ansatz zur Psychomotorik von Bernard Aucouturier ein verstehender Ansatz, der von der Sinnhaftigkeit menschlichen Verhaltens ausgeht und nach dem tiefenpsychologischen Aspekt gestörter kindlicher Entwicklung forscht.
Somatische Expressivität
Psychomotorische Praxis möchte das Kind in der Entfaltung seiner Gesamtpersönlichkeit unterstützen, das heißt die harmonische Entwicklung in den leiblich-seelisch-geistigen Anteilen seiner Persönlichkeit begünstigen. Weit stärker als in späteren Entwicklungsphasen erfühlt und erfasst das Kind bis zum Alter von sieben, acht Jahren die Welt über den Körper. Es setzt die Dinge in Bezug zu seinem Körper, seine Handlungen basieren nicht in erster Linie auf Vorüberlegungen, der Prozess der Dezentrierung ist noch nicht abgeschlossen. Das Kind drückt sich über den Körper und dessen Somatisierungen aus. Aucouturier spricht von „somatischer Expressivität“. Diese „auf den Körper bezogene Ausdrucksfähigkeit“ gründet in den sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen, in der Motorik, im Tonus, den Emotionen und in dem tief greifenden Erleben, das ans Unbewusste gebunden ist – sie gründet in einem Körper mit Empfindungen und mit einem Unbewussten, das sich ausdrückt über die Motorik, über Psychomotorik.
In psychomotorischer Praxis geht es nicht nur um die Motorik des Kindes, sondern um das Kind als „Ganzes“ in seiner Beziehung zur Außenwelt:
„Wir müssen das Kind als ein ganzheitliches Wesen betrachten und der Versuchung widerstehen, es ‚in Teile zu zerlegen‘. Eine ganzheitliche Sichtweise vom Kind, die Anerkennung seiner psychomotorischen Expressivität, konstituiert bereits eine Geisteshaltung,...
Erscheint lt. Verlag | 13.1.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik | |
Schlagworte | Bewegung • Bewegungstherapie • Körperbehindertenpädagogik • Körperbehinderung • Psychomotorik |
ISBN-10 | 3-497-61289-8 / 3497612898 |
ISBN-13 | 978-3-497-61289-5 / 9783497612895 |
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Größe: 9,8 MB
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