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Kein Wille zur Macht (eBook)

eBook Download: EPUB
2020
200 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26671-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kein Wille zur Macht - Karl Heinz Bohrer
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Provozierende Thesen zur deutschen Mentalität und das Land im europäischen Kräftespiel der letzten 150 Jahre - eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit
Karl Heinz Bohrers Wortmeldungen zur Politik zielen stets aufs Ganze. Am Tagesgeschäft interessiert ihn besonders, wie es verleugnete, verdrängte und vergessene Konflikte sichtbar macht. Deutschlands Weigerung, eine angemessene Rolle in der Welt zu spielen, der verklemmte Umgang mit der preußischen Vergangenheit, die Erinnerung an die beiden Weltkriege: An solchen Fragen zeigt sich, dass ein fundierter politischer Standpunkt auf die historische Perspektive, das philosophische Argument und die literarische Erinnerung nicht verzichten kann. In sechs Essays analysiert Bohrer das europäische Kräftespiel der letzten 150 Jahre - eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit.

Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, ist Professor emeritus für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2012 war er Herausgeber des MERKUR. Er lebt in London. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011),Granatsplitter. Erzählungen einer Jugend (2012), Ist Kunst Illusion? (EA, 2015) und Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie (EA, 2016).

Erzählter und politischer Hass


1.


Drei Kriege zwischen Frankreich und Deutschland haben die moderne kulturelle und politische Vorstellung vom jeweils Anderen bestimmt. Für die französische Wahrnehmung und die ihr folgende Hass-Thematik ausschlaggebend war nicht der Erste Weltkrieg, noch weniger der Zweite, sondern der Krieg von 1870/71 zwischen Preußen-Deutschland und dem Zweiten Französischen Kaiserreich beziehungsweise der Dritten Französischen Republik. Wenn im Folgenden hierfür Texte vornehmlich von Émile Zola, Guy de Maupassant und Gustave Flaubert erläutert sind, dann soll dabei zwischen historischer und poetischer Erinnerung1 definitiv unterschieden werden: nämlich zwischen einer emotionellen Darstellung des Hasses und einer diskursiv-ideologischen. Historische Zeitgenossenschaft — so der Ausgangspunkt — verändert sich, während die Intensität literarischer Darstellung ihren Gegenwartseffekt behält, also auch den Hass-Effekt.

Zunächst sei das Paradox erläutert, dass vier literarisch besonders signifikante französische Texte — kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs geschrieben — dem deutschen Feind, genauer: dem preußischen Offizier, zwar kritisch, aber mit wenn auch eingeschränkter Hochachtung begegnen: Marguerite Yourcenars 1939 erschienener Roman Le coup de grâce (Fangschuss), Vercors’ 1944 erschienene Geschichte Le silence de la mer (Das Schweigen des Meeres), Jean-Paul Sartres 1983 erschienene, 1940 geschriebene Les carnets de la drôle de guerre (Tagebücher — November 1939 bis März 1940) und Albert Camus’ 1943 bis 1944 geschriebene, 1948 veröffentlichte Lettres à un ami allemand (Briefe an einen deutschen Freund). Yourcenars Le coup de grâce zeigt die brisante, weil heroisierende Stilisierung eines adligen preußischen Offiziers als Freicorpskommandant gegen bolschewistische Revolutionäre im Baltikum der zwanziger Jahre, als Wiedergänger des ostpreußischen Deutschritterordens und der, wie es heißt, »alten Tradition der Strenge und Tapferkeit«. Nicht den rechtsradikalen Freicorps wird eine ausgesuchte Grausamkeit gegenüber Gefangenen nachgesagt, sondern den bolschewistischen Einheiten. Wenn der Held seine Geliebte — ihr erotisch-komplexes Zueinander und Widereinander ist Kern der Geschichte —, ebenfalls aus preußisch-baltischem Adel, am Ende in einem rituellen Akt erschießt, weil sie auf die Seite der Bolschewiken überging, dann ist das nach dem Willen der Autorin der Höhepunkt einer Tragödie im Sinne Corneilles.

In Vercors’ Le silence de la mer wird die hohe Gestalt eines adligen deutschen Offiziers einer kritischeren Charakterprobe unterworfen, wenn er, im Hause eines vornehmen älteren Franzosen und dessen Nichte einquartiert, nur deren Schweigen begegnet. Sein Takt und seine musikalische Begabung werden hervorgehoben, aber seine üppigen Sätze über die deutsche und französische Literatur, die zukünftige Gemeinsamkeit beider Kulturen und schließlich die Entscheidung, der Versetzung an die Ostfront selbstverständlich und stoisch Folge zu leisten, obwohl er die verbrecherische Natur des Regimes erkannt hat, werden zum Verdikt, ohne ihm die melancholische Aura zu nehmen. La silence de la mer ist eine Parabel des französischen Widerstands. Aber der deutsche Offizier gleicht nicht, wie Yves Beigleider schrieb, »den blutdürstigen Bestien«. Als solche beschreibt der Offizier den inhuman gewordenen, einst idealistischen Bruder und dessen Pariser Besatzungskameraden. Und als solche wurden auch die Preußen von Zola, Maupassant und Flaubert siebzig Jahre zuvor geschildert. Wenn die musikalische Begabung des deutschen Helden in Romain Rollands Roman Jean Christophe (19041910) als Garant einer französisch-deutschen Union erscheint, dann hier als ein vergeblicher Anspruch. Dennoch: auch als eine Tragödie.

Jean-Paul Sartre hat in seinen Aufzeichnungen vom März 1940, also noch vor der deutschen Okkupation von Paris, das preußische Königtum und die Politik Wilhelms II. nach Kriterien seiner gerade entwickelten existentialistischen Diagnostik der Wirklichkeit in ihren »Bedeutungs-Schichten« beurteilt, also nicht moralisch-politisch denunziert. Zwar sieht Sartre »die Hegemonie Preußens« auf der Herrschaft eines militarisierten Adels, den Junkern, beruhen.2 Gleichzeitig aber versteht er das Königtum Wilhelms in seinem eigenen »Sein«,3 dem »vorontologischen Verständnis von sich«, kritisiert also nicht Wilhelms Herrschaft unter westeuropäisch-demokratischen Kriterien. Die existentialistische Würdigung lautet: »Die Herrschaft ist für Wilhelm II. nichts Äußeres. Es ist auch keine innere und privilegierte Vorstellung. Es ist die Herrschaft.«4 Und: »Ich sehe, dass Wilhelm zuerst großer König sein will.«5 Oder: »Die Würde des Königs von Preußen verleiht dieser Herrschaft einen militärischen Charakter. Der König ist Soldatenkönig.«6 Das ist, wie wir sehen werden, die Umkehrung der in der Hass-Imagination Émile Zolas getroffenen Charakteristika Preußens: stattdessen Erhabenheitsformeln in der Tradition Friedrichs des Großen.

Schließlich Albert Camus’ 1943/44 geschriebene Lettres à un ami allemand (Briefe an einen deutschen Freund). Auch dieser Text gehört zur französischen Widerstandsliteratur. Der Titel verweist nicht darauf, dass es sich um den Versuch einer Wiedergewinnung der Freundschaft handeln wird: Der Freund bleibt ein Freund von gestern, der zum Feind wurde und dessen unreflektierte Kriterien wie »Größe«, »Heroismus« oder »Zorn« angesichts der erlittenen Demütigungen Frankreichs unter tödlichem Terror einer Inspektion der Reflexion ausgesetzt werden, wobei die deutsche Niederlage unübersehbar ist. Der Brief wird zu einem endgültigen intellektuellen und moralischen Gericht über jemanden, der bisher in Kategorien einer siegreichen, aber nihilistischen Gewalt gedacht hat, sogar am Beispiel nationaler literarischer Mythologeme wie Faust gegen Don Quichote oder Siegfried gegen Hamlet. Camus, der das heroisch-nihilistische Ethos des Freundes in seiner Wurzel versteht, weil sein eigenes Denken sich mit diesem einst berührte, konfrontiert den fast schon Verlorenen mit der Vision eines anderen, neuen Europas. Ob der ehemalige Freund jemals dazugehören wird, bleibt unentschieden.

Die genannten fünf Evokationen Preußens und Preußen-Deutschlands, die — abgesehen von Vercors’ Erzählung — von der Mehrheit der französischen Intelligenz nicht geteilt wurden, perspektivieren die im Folgenden erläuterten Negationen Preußens in all ihrem Hass und in der Dämonisierung. Um den falschen Eindruck einer kontextuellen Abhängigkeit zwischen den drei Dichtern Zola, Maupassant und Flaubert zu vermeiden, beginne ich mit dem Kommentar zur ausführlichsten, zeitlich aber spätesten Darstellung des Hasses: Zolas 1892 erschienenem Roman La débâcle (Der Zusammenbruch). Der Umstand, dass Zolas sechshundertseitige Schilderung der von den kaiserlichen und republikanischen Armeen verlorenen Schlachten und Kämpfe zwischen August 1870 und Januar 1871, einschließlich der Belagerung und Besetzung der vom Bürgerkrieg zerrütteten Metropole Paris, erst zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen als vorletztes Buch seiner Rougon-Macquart-Serie geschrieben und publiziert worden ist, verweist auf die Wirksamkeit von Zolas Bildern und Wertungen in einer neuen historischen Epoche, wie sehr er auch gerade die unmittelbaren Impulse der Bevölkerung in der Provinz und in der Hauptstadt so lange nach diesen Ereignissen thematisiert hat. Die Wirkung ist umso mehr herauszustellen, als La Débacle nicht zu Zolas literarisch bedeutenden Romanen gehört, aber die Fantasie durch seine Melodramatik gefangen nimmt.

Das beginnt mit der Schilderung der elsässischen Landschaft und Witterung, deren plastisches, friedliches Panorama samt der farbigen Szenen der auf den deutschen Angriff wartenden oder auf den eigenen Angriff erpichten französischen Truppen schon das düstere Gegenbild eines blutigen Schlachtfelds erwarten lässt. Das Eindringen der preußischdeutschen Armeen in diese Idylle soll nach dem Willen Zolas allein schon als die Verletzung einer unendlich überlegenen Zivilisation erscheinen. Dadurch erhält die Schilderung der in Illusion sich auflösenden Pariser Erwartungen eines frühen Siegs auch den Eklat eines Kultursturzes, ja einer europäischen Katastrophe, von Zolas dokumentarisch informiertem Blick in der für ihn charakteristischen Farbentiefe und...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Deutschland • Frankreich • Geschichte • Literatur • Nietzsche • #ohnefolie • ohnefolie • Philosophie • Preußen • Roman • Zola
ISBN-10 3-446-26671-2 / 3446266712
ISBN-13 978-3-446-26671-1 / 9783446266711
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