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Alle Lausbubengeschichten -  Ludwig Thoma

Alle Lausbubengeschichten (eBook)

Thoma, Ludwig - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 19685

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
232 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961662-9 (ISBN)
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Ludwig Thomas berühmter Satire-Klassiker Lausbubengeschichten von 1905 und die wenig später erschienene Fortsetzung Tante Frieda sind hier in einem Band versammelt: Die Streiche des jungen Lateinschülers Ludwig nehmen die scheinheilige Spießermoral der Erwachsenen aufs Korn und schlagen deren lügenhafte Phrasendrescherei mit den eigenen Waffen. Das Nachwort von Dirk Mende bewertet Thoma auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands neu: es ordnet den Simplicissimus-Redakteur als großen Satiriker ein, beleuchtet aber auch seine antidemokratischen und antisemitischen Tendenzen nach dem Ersten Weltkrieg als Mitarbeiter des Miesbacher Anzeigers. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Lausbubengeschichten. Aus meiner Jugendzeit
Gretchen Vollbeck
Meine erste Liebe
Der Meineid
Onkel Franz
Der Kindlein
In den Ferien
Die Verlobung
Die Vermählung
Das Baby
Gute Vorsätze
Der vornehme Knabe
Besserung

Tante Frieda. Neue Lausbubengeschichten
Tante Frieda
Die Indianerin
Franz und Cora
Das Waldfest
Coras Abreise
Hauptmann Semmelmaier

Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort

[30]Der Kindlein


Unser Religionslehrer heißt Falkenberg.

Er ist klein und dick und hat eine goldene Brille auf.

Wenn er was Heiliges redet, zwickt er die Augen zu und macht seinen Mund spitzig.

Er faltet immer die Hände und ist recht sanft und sagt zu uns: »ihr Kindlein«.

Deswegen haben wir ihn den Kindlein geheißen.

Er ist aber gar nicht so sanft. Wenn man ihn ärgert, macht er grüne Augen wie eine Katze und sperrt einen viel länger ein, wie unser Klassprofessor.

Der schimpft einen furchtbar und sagt »mistiger Lausbub«, und zu mir hat er einmal gesagt, er haut das größte Loch in die Wand mit meinem Kopf.

Meinen Vater hat er gut gekannt, weil er im Gebirg war und einmal mit ihm auf die Jagd gehen durfte. Ich glaube, er kann mich deswegen gut leiden und lässt es sich bloß nicht merken.

Wie mich der Merkel verschuftet hat, dass ich ihm eine hineingehaut habe, hat er mir zwei Stunden Arrest gegeben. Aber wie alle fort waren, ist er auf einmal in das Zimmer gekommen und hat zu mir gesagt: »Mach dass du heimkommst, du Lauskerl, du grober! Sonst wird die Supp’ kalt.«

Er heißt Gruber.

Aber der Falkenberg schimpft gar nicht.

Ich habe ihm einmal seinen Rock von hinten mit Kreide angeschmiert. Da haben alle gelacht, und er hat gefragt: »Warum lacht ihr, Kindlein?«

Es hat aber keiner etwas gesagt; da ist er zum Merkel [31]hingegangen und hat gesagt: »Du bist ein gottesfürchtiger Knabe, und ich glaube, dass du die Lüge verabscheust. Sprich offen, was hat es gegeben?«

Und der Merkl hat ihm gezeigt, dass er voll Kreide hinten ist, und dass ich es war.

Der Falkenberg ist ganz weiß geworden im Gesicht und ist schnell auf mich hergegangen. Ich habe gemeint, jetzt krieg’ ich eine hinein, aber er hat sich vor mich hingestellt und hat die Augen zugezwickt.

[32]Dann hat er gesagt: »Armer Verlorener! Ich habe immer Nachsicht gegen dich geübt, aber ein räudiges Schaf darf nicht die ganze Herde anstecken.«

Er ist zum Rektor gegangen, und ich habe sechs Stunden Karzer gekriegt. Der Pedell hat gesagt, ich wäre dimittiert geworden, wenn mir nicht der Gruber so geholfen hätte. Der Falkenberg hat darauf bestanden, dass ich dimittiert werde, weil ich das Priesterkleid beschmutzt habe. Aber der Gruber hat gesagt, es ist bloß Übermut, und er will meiner Mutter schreiben, ob er mir nicht ein paar herunterhauen darf. Dann haben ihm die andern recht gegeben, und der Falkenberg war voll Zorn.

Er hat es sich nicht ankennen lassen, sondern er hat das nächste Mal in der Klasse zu mir gesagt: »Du hast gesündigt, aber es ist dir verziehen. Vielleicht wird dich Gott in seiner unbeschreiblichen Güte auf den rechten Weg führen.«

Die sechs Stunden habe ich brummen müssen, und der Falkenberg hat mich nicht mehr aufgerufen; er ist immer an mir vorbeigegangen und hat getan, als wenn er mich nicht sieht.

Den Fritz hat er auch nicht leiden können, weil er mein bester Freund ist und immer lacht, wenn er »Kindlein« sagt. Er hat ihn schon zweimal deswegen eingesperrt, und da haben wir gesagt, wir müssen dem Kindlein etwas antun. Der Fritz hat gemeint, wir müssen ihm einen Pulverfrosch in den Katheder legen; aber das geht nicht, weil man es sieht. Dann haben wir ihm Schusterpech auf den Sessel geschmiert. Er hat sich aber die ganze Stunde nicht daraufgesetzt, und dann ist der Schreiblehrer Bogner gekommen und ist hängen geblieben.

[33]Das war auch recht, aber für den Kindlein hätte es mich besser gefreut.

Der Fritz wohnt bei dem Malermeister Burkhard und hat ihm eine grüne Ölfarbe genommen, wie der Katheder ist. Die haben wir vor der Religionsstunde geschwind hingestrichen, wo er den Arm auflegt.

Da hat es auf einmal geheißen, der Falkenberg ist krank und wir haben Geographie dafür. Da ist der Professor Ulrich eingegangen, weil er voll Farbe geworden ist, und er hat den Pedell furchtbar geschimpft, dass er nichts hinschreibt, wenn frisch gestrichen ist.

Der Kindlein ist uns immer ausgekommen, aber wir haben nicht ausgelassen.

Einmal ist er in die Klasse gekommen mit dem Rektor und hat sich auf den Katheder gestellt. Dann hat er gesagt: »Kindlein, freuet euch! Ich habe eine herrliche Botschaft für euch. Ich habe lange gespart, und jetzt habe ich für unsere geliebte Studienkirche die Statue des heiligen Aloysius gekauft, weil er das Vorbild der studierenden Jugend ist. Er wird von dem Postament zu euch hinunterschauen und ihr werdet zu ihm hinaufschauen. Das wird euch stärken.«

Dann hat der Rektor gesagt, dass es unbeschreiblich schön ist von dem Falkenberg, dass er die Statue gekauft hat, und dass unser Gymnasium sich freuen muss. Am Samstag kommt der Heilige, und wir müssen ihn abholen, wo die Stadt anfangt, und am Sonntag ist die Enthüllungsfeier.

Da sind sie hinausgegangen und haben es in den anderen Klasszimmern gesagt. Und ich und der Fritz sind miteinander heimgegangen.

Da hat der Fritz gesagt, dass der Kindlein es mit Fleiß [34]getan hat, dass wir den Aloysius am Samstagnachmittag holen müssen, weil er uns nicht gönnt, dass wir frei haben. Ich habe auch geschimpft und habe gesagt, ich möchte, dass der Wagen umschmeißt.

Dem Fritz sein Hausherr hat es schon gewusst, weil es in der Zeitung gestanden ist.

Er kann uns gut leiden und redet oft mit uns und schenkt uns eine Zigarre.

Auf den Falkenberg hat er einen Zorn, weil er glaubt, dass sein Pepi wegen dem Falkenberg die Prüfung in die Lateinschule nicht bestanden hat. Ich glaube aber, dass der Pepi zu dumm ist.

Der Hausherr hat gelacht, dass so viel in der Zeitung gestanden ist von dem Heiligen. Er hat gesagt, dass er von Gips ist und dass er ihn nicht geschenkt möchte. Er ist von Mühldorf. Da ist er schon lang gestanden, und niemand hat ihn mögen. Vielleicht hat ihn der Steinmetz hergeschenkt, aber der Falkenberg macht sich schön damit und tut, als wenn er viel gekostet hat. Das ist ein scheinheiliger Tropf, hat der Hausherr gesagt, und wir haben auch geschimpft über den Kindlein.

Dann ist der Samstag gekommen. Das ganze Gymnasium ist aufgestellt worden, und dann haben wir durch die Stadt gehen müssen. Vorne ist der Rektor mit dem Falkenberg gegangen, und dann sind die Professoren gekommen. Der Gruber war nicht dabei, weil er Protestant ist. Oben auf dem Berg ist ein Wirtshaus, wo die Straße von Mühldorf herkommt. Da haben wir gehalten und haben gewartet. Eine halbe Stunde haben wir stehen müssen, bis der Pedell daher gelaufen ist und hat geschrien: »Jetzt bringen sie ihn.«

[35]Da ist ein Leiterwagen gekommen, da war eine große Kiste darauf.

Der Falkenberg ist hingegangen und hat den Fuhrmann gefragt, ob er von Mühldorf ist und den heiligen Aloysius dabeihat. Der Fuhrmann hat gesagt ja, und er hat einen in der Kiste. Da hat sich der Kindlein geärgert, dass der Wagen so schlecht aussieht und keine Tannenbäume darauf sind.

Aber der Fuhrmann hat gesagt, das geht ihn nichts an, er tut bloß, was ihm sein Herr anschafft.

Da haben wir hinter dem Wagen hergehen müssen, und die Glocken von der Studienkirche haben geläutet, bis wir dort waren.

Vor der Kirche hat der Fuhrmann gehalten, und er hat die Kiste herunter tun wollen.

Aber der Falkenberg hat ihn nicht lassen. Die vier Größten von der Oberklasse mussten sie heruntertun und in die Sakristei tragen. Das war der Pointner und der Reichenberger, die andern zwei habe ich nicht gekannt.

Wir haben gehen dürfen, und das Läuten hat aufgehört. Bloß die vier Oberklassler mussten dabei sein, wie der Heilige aufgestellt wurde; die anderen nicht, weil erst morgen die Einweihung war. Wir haben aber gewusst, wo er hingestellt wird.

Bei dem dritten Fenster, weil dort das Postament war und Blumen herum.

Der Fritz und ich sind heimgegangen; zuerst war der Friedmann Karl dabei. Da hat der Fritz gesagt, er muss noch viel büffeln auf den Montag, weil er die dritte Konjugation noch nicht gelernt hat.

»Die haben wir ja gar nicht auf«, hat der Friedmann gesagt.

[36]»Freilich haben wir sie aufgekriegt. Der Gruber hat es ganz deutlich gesagt«, hat der Fritz gesagt. Da ist dem Friedmann angst geworden, weil er immer furchtsam ist, und er ist der Erste.

Er ist gleich von uns weggelaufen, und der Fritz hat zu mir gesagt: »Jetzt haben wir unsere Ruhe vor ihm.«

Ich fragte, warum er ihn fortgeschickt hat, aber der Fritz wartete, bis niemand in der Nähe war. Dann sagte er, dass er jetzt weiß, wie wir den Kindlein darankriegen, und dass wir auf den Aloysius einen Stein hineinschmeißen.

Ich glaubte zuerst, er macht Spaß, aber es war ihm Ernst, und er sagte, dass er es allein tut, wenn ich nicht mithelfe.

Da habe ich versprochen, dass ich mittue, aber ich habe mich gefürchtet, denn wenn es aufkommt, ist alles hin.

Aber der Fritz hat gesagt, dann muss man es so machen, dass kein Mensch nichts merkt, und so eine Gelegenheit kriegen wir nicht mehr, dass wir dem Kindlein etwas antun, was er sich merkt.

Wir haben ausgemacht, dass wir uns um acht Uhr bei den zwei Kastanien an der Salzach treffen. Ich habe daheim gesagt, dass ich mit dem Fritz die dritte Konjugation lernen muss, und bin gleich nach dem Abendessen fort.

Es war schon dunkel, wie ich an die Kastanien hinkam, und ich war froh, dass mir niemand begegnet ist.

Der Fritz war schon da, und wir haben noch gewartet, bis es ganz dunkel war. Dann sind wir neben der Salzach gegangen; einmal haben wir Schritte gehört. Da sind wir hinter einen...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2020
Illustrationen Thomas Theodor Heine
Mitarbeit Kommentare: Dirk Mende
Nachwort Dirk Mende
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aus meiner Jugendzeit • der Kindlein • Deutsch • Deutsch-Unterricht • gelb • gelbe bücher • Geschichtensammlung • Kirchenkritik • Klassenlektüre • Komik • Lektüre • Literatur Klassiker • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Satire • Schülergeschichten • Schullektüre • Spießermoral • Spießertum • Spott • Weltliteratur
ISBN-10 3-15-961662-2 / 3159616622
ISBN-13 978-3-15-961662-9 / 9783159616629
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