Shalom Berlin (eBook)
288 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99486-6 (ISBN)
Michael Wallner spielte nach seiner Ausbildung am Wiener Max Reinhardt-Seminar am Burgtheater und am Berliner Schillertheater. 1982 erhielt er den Schauspielerpreis beim Norddeutschen Theatertreffen. Seit 1987 arbeitet er als freischaffender Theater- und Opernregisseur und inszenierte unter anderem in Düsseldorf, Frankfurt, Bochum, Wien, Hamburg und Lübeck. Wallner erhielt die Kainz-Medaille der Stadt Wien für die Regie von 'Krieg'. Seit 2000 lebt er als freier Autor in Berlin. Sein Bestseller 'April in Paris' wurde in über 20 Sprachen übersetzt.
Michael Wallner spielte nach seiner Ausbildung am Wiener Max Reinhardt-Seminar am Burgtheater und am Berliner Schillertheater. 1982 erhielt er den Schauspielerpreis beim Norddeutschen Theatertreffen. Seit 1987 arbeitet er als freischaffender Theater- und Opernregisseur und inszenierte unter anderem in Düsseldorf, Frankfurt, Bochum, Wien, Hamburg und Lübeck. Wallner erhielt die Kainz-Medaille der Stadt Wien für die Regie von "Krieg". Seit 2000 lebt er als freier Autor in Berlin. Sein Bestseller "April in Paris" wurde in über 20 Sprachen übersetzt.
1
Mischpoke
»Hör zu, ich habe immer versucht, dir beizubringen, dass du dich früher oder später mit dem Herrn über uns arrangieren musst.«
»Der Herr über uns, wer soll das sein? Hast du etwa mein altes Kinderzimmer vermietet?« Frank nahm sich vom kalten Fisch und streifte mit dem Löffel die Senfsoße ab.
»Versündige dich nicht. Irgendwann zahlst du die Zeche. Dann musst du dich arrangieren mit Gott. Du bist ein verheirateter Mann. Das ist der springende Punkt. Verstehst du? Du kannst nicht zwei Pferde mit einem Hintern reiten. Verstehst du mich? Nimm dir Alain als Beispiel.«
»Ich will mir Alain aber nicht als Beispiel nehmen.« Frank griff in den Brotkorb. »Jedes Mal, wenn ich mir Alain als Beispiel nehme, fühle ich mich hinterher minderwertig. Gegen Alain kommt keiner von uns an. Wenn es nach dir geht, stellt er uns alle in den Schatten.«
Ein strenger Blick durch Helenes Prismenbrille und Frank hielt den Mund. Ohne Brille schielte Helene. Sie hatte nie etwas gegen ihr Schielen unternommen und würde es bis an ihr Lebensende nicht tun. »Ich liebe jeden einzelnen meiner Enkel. Aber Alain hat die Dinge im Griff. Das ist alles. Mehr sage ich nicht. Alain hat die Dinge im Griff.«
Alain stand in der Doppelflügeltür. Das hatte den Vorteil, dass er mit einem einzigen Schritt das Zimmer wechseln konnte, falls er einem Gespräch entgehen wollte.
Alain wechselte das Zimmer. Ihm gefiel es nicht, wenn seine Großmutter so über ihn sprach. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass überhaupt irgendwer über ihn sprach. Ihm gefiel die Vorstellung, jetzt gleich aus dem vierten Stock zu springen. Helenes Wohnung hatte einen Balkon. Es wäre die einfachste Methode, um ihr zu beweisen, dass er die Dinge nicht im Griff hatte. Lea war nun seit einem Jahr tot, und er hatte noch keinen vernünftigen Grund gefunden weiterzuleben.
Frank, sein Cousin, kam ihm entgegen, den Fischteller in der Hand. Frank war Zahnarzt in Schöneberg. Seine Frau war Lektorin, seine Geliebte lehrte englische Literatur an der Uni. Es ging der Witz um, dass Franks Frau und Franks Geliebte sich miteinander besser verstehen würden als mit Frank.
»Na?«, sagte Frank.
»So«, nickte Alain und ging ins dunkelgrüne Zimmer weiter.
Helenes Wohnung hatte zweihundertvierzig Quadratmeter. Heutzutage hätte kein Mensch eine Wohnung wie diese nahe des Kurfürstendamms bezahlen können. Aber Helenes Mietvertrag stammte aus dem Jahr 1936 und war nie gekündigt worden. Angeblich war das dunkelgrüne Zimmer irgendwann hellgrün gewesen, wahrscheinlich auch 1936. Heute war Helenes fünfundneunzigster Geburtstag. Als sie zur Welt kam, wurde Hindenburg Reichspräsident, man entließ den Gefangenen Hitler aus der Festung Landsberg, und er veröffentlichte Mein Kampf. Kafkas Romanfragment Der Prozess erschien. Hildegard Knef kam zur Welt.
Wenn Helene Geburtstag hatte, waren sie alle da, die Liebermanns, der komplette Clan, sie kamen aus Seattle und Kanada, aus Riga, Kopenhagen und praktisch allen Teilen Deutschlands. Sie kamen zu Ehren der Matriarchin.
Alain trat zur kleinen Gruppe der Künstler in der Familie. Nicht weil er sich mit ihnen lieber unterhielt, sondern weil die Künstler vorwiegend Trübsal bliesen. Sie beklagten sich in einem fort und beschworen die alten Zeiten, als alles noch besser war. In dieser Umgebung fühlte Alain sich wohl.
»Als ich angefangen habe, da gab es die Mauer noch, konnte ich jedes Jahr wenigstens ein- oder zweimal in Berlin auftreten.« Cousin Caspar machte Platz, damit Alain sich zu ihnen stellen konnte. »Nichts Großartiges, kleine Rollen in der Vagantenbühne, mal im Theater unter dem Dach, aber ich habe immerhin in Berlin gespielt. Und heute? Vorigen Monat hatte ich ein Vorsprechen in Cottbus. Davor habe ich Musical in Neustrelitz gespielt. Kann man sich das vorstellen?«
»Mit Neustrelitz hattest du noch Glück«, erwiderte Alains Nichte Anna. »Mein Tiefpunkt, und ich meine den absoluten Tiefpunkt, war Brecht in Gera. Wenn du Brecht in Gera spielst, kannst du genauso gut tot sein.« Nachdenklich betrachtete sie eine Cocktailtomate. »Heutzutage brauchst du gute Nerven, um arbeiten zu können.«
»Und gute Reifen.«
»Gute Nerven und gute Reifen«, bestätigte Anna.
Alain wollte ihr etwas Ermunterndes sagen, aber er hatte weder von Brecht noch von Gera eine Ahnung. Das lila T-Shirt stand Anna nicht, fand er, und mit diesen Beinen sollte sie besser keine Leggins tragen. Chauvi, dachte Alain. Lea hatte ihn manchmal Chauvi genannt, meistens liebevoll. In ihren letzten Wochen hatte Lea behauptet, Alain habe ein gutes Herz und sei ein verdammt süßer Kerl. Er solle um sie trauern, natürlich, aber nicht zu lange. Er solle seinen Humor nicht verlieren. Alle Liebermanns hätten Humor, sie, Lea, könne das beurteilen, weil sie in den Liebermann-Clan nur eingeheiratet hätte. Alain solle sich auf ihrer Leichenfeier amüsieren, trug sie ihm auf. Nach dem Begräbnis hatte Onkel Chaijm tatsächlich eine Party geschmissen. Kaum vorstellbar, aber Alain hatte sogar getanzt. Das hätte Lea gefallen. Hinterher hatte er sich übergeben müssen.
Jetzt trank er Chardonnay und suchte seinen Onkel Chaijm unter den Gästen.
»Hundertfünfzig Euro wollten die haben für ein Zimmer mit Bett. Haben Sie nichts Billigeres?, frage ich. Sagt er, Sie können auch ein Zimmer für fünfzig Euro kriegen, aber da müssen Sie Ihr Bett selbst machen. Das nehm ich, sage ich. Da bringt er mir einen Hammer und ein paar Bretter und Nägel.«
Onkel Chaijm war Rabbiner. Der öffentliche Auftritt vor der Gemeinde gehörte zu seinem Job. Wenn er die Synagoge verließ, vergaß er jedoch häufig, den öffentlichen Chaijm abzulegen. Man hörte ihm einfach gerne zu. Er hatte eine Stimme, die ohne Verstärkung in den hintersten Winkel selbst des größten Raumes drang. Outgoing, so nannte man das wohl, daran erkannte man die Liebermanns, sie waren outgoing.
Warum bin ich so anders als meine Familie?, dachte Alain. Ich bin der langweiligste Liebermann von allen.
»Vegele.« Die Großmutter rief ihn. »Komm her.«
Alains Wein war abgestanden, er holte sich ein frisches Glas.
»Erzähl mir, wie ist es dir ergangen?« Sie legte den Arm um seine Hüfte.
»Es gibt nicht viel Neues, Oma.«
»Traurig bist du, mein Vegele. Du trägst deine Traurigkeit durch die Wohnung wie eine Handvoll tropfender Erdbeeren, die schimmelig geworden sind.«
»Tut mir leid, wenn ich dir die Feier vermiese.«
»Traurig ist gut, hör mir zu. Traurig ist, wenn man im Winter die Saat ausbringt für den nächsten Frühling. Traurig ist Eis und Schnee, und darunter wartet der Same, und im Frühling wird alles grün.«
»Wir haben Sommer, Oma.«
»Du, mach dich nicht lustig über deine Bubbe«, sagte sie mit Blick durch die Prismenbrille.
Er küsste sie auf die Wange. »Happy Birthday, Oma.«
»Hast du mir eine Geburtstagskarte geschrieben?«
»Hab ich. Mein Geschenk liegt dort drüben.«
»Von drei Leuten habe ich die gleiche Geburtstagskarte gekriegt. Gehörst du auch dazu? Kauft ihr etwa alle im selben Papiergeschäft ein?« Helene bedeutete Anna, dass sie noch etwas trinken wollte.
»Das hätte ich dir doch auch bringen können.« Alain setzte sich vor der Großmutter auf den Boden, da neben Helenes Thron, einem Makart-Sessel aus der Vornazizeit, keine andere Sitzgelegenheit stand.
»Was möchtest du trinken?«, fragte Anna.
»Sherry. Nein, warte, lieber Cognac.« Helene beugte sich zu Alain. »Du auch?«
»Lea hat mir Alkohol verboten.« Er zuckte die Schultern.
»Und du hältst dich immer noch daran?«
»Lea sagt, wenn ich trinke, macht das alles nur schlimmer.«
»Eine kluge Frau, deine Lea.«
Anna kam mit dem Cognac und blieb bei den beiden stehen, bis das bleierne Schweigen von Großmutter und Enkel ihr verdeutlichte, dass sie hier nichts verloren hatte.
»So schlimm?«, fragte Helene.
»So schlimm.« Es gefiel ihm, bei ihr zu sitzen, der großartigen alten Frau, die den Liebermann-Clan durch die Jahrzehnte geführt hatte, durch all die dummen und schlechten und hoffnungsvollen Zeiten, bis heute. Er kam sich dann wie der kleine Junge von früher vor. So wie er dasaß, sah er eher wie Helenes Hofnarr aus.
»Es gibt nur einen Weg, wie es mir besser gehen könnte«, sagte er nach einer Weile. »Wenn Lea da wäre. Und das wird nicht passieren. Es ist unmöglich. Warum soll es mir also besser gehen?«
»Was macht deine Arbeit?«
Er sah zu ihr hoch. Wenn man über neunzig war, bekam die Haut eine andere Bedeutung. Die Haut war wie ein Buch, so viele Kapitel, so viele überraschende Wendungen zeichneten sich in diesem Gesicht ab. Ihre Augen lagen tief zwischen den Lidern versteckt, manchmal glaubte man, Helene hätte sie geschlossen. Aber niemand durchschaute mehr als sie. Alles, jeden.
»Ich weiß, du darfst nicht über deine Arbeit sprechen«, antwortete sie sich an seiner Stelle gleich selbst.
»Diese Woche war nichts Besonderes los.« Er nahm ihre Hand, die auf der Armlehne lag. »Aber was das große Ganze betrifft: Es wird mehr. Es wird sogar beängstigend mehr.«
»Geht es um die Unsrigen?«, fragte Helene und erwiderte seinen Händedruck.
»Ja. Meistens. Es geht um die Juden.«
Sie trank ihren Cognac. »Die Juden und die Radfahrer, heißt es nicht so?«
»Wieso die Radfahrer?« Entdeckte Alain da ein winziges Funkeln in Helenes Blick? »Wieso die Radfahrer?«
»Wieso die Juden?« Sie lächelte. Es war der ernsteste Ausdruck, den er in diesem Gesicht kannte.
Alain kam...
Erscheint lt. Verlag | 3.2.2020 |
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Reihe/Serie | Alain-Liebermann-Reihe |
Alain-Liebermann-Reihe | Alain-Lieberman-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 1. Band der Reihe • Alain Liebermann • Antisemitismus • Berlin • Berlinkrimi • jüdische Familie • jüdischer Ermittler • Krimireihe • Michael Wallner • Shalom Berlin |
ISBN-10 | 3-492-99486-5 / 3492994865 |
ISBN-13 | 978-3-492-99486-6 / 9783492994866 |
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