Der nasse Fisch (eBook)
544 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99641-9 (ISBN)
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte als Tageszeitungsredakteur und Drehbuchautor, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Er lebt als freier Autor in Köln und Berlin. Mit dem Roman »Der nasse Fisch« (2007), dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Gereon Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher acht weitere folgten. Die Reihe ist die Vorlage für die internationale Fernsehproduktion »Babylon Berlin«, deren erste drei Staffeln auf Sky und in der ARD zu sehen waren. Die vierte Staffel folgt im Frühjahr 2023 in der ARD. OLYMPIA, der achte Band der Reihe, verkaufte sich weit über 150.000-mal. Mit den von Kat Menschik illustrierten, im Rath- Universum angesiedelten Erzählungen »Moabit« und »Mitte« gelangen ihm ebenfalls Bestseller.
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete als Tageszeitungsredakteur und Drehbuchautor, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Mit "Der nasse Fisch" (2007) gelang ihm ein Bestseller, dem fünf weitere folgten. Die Reihe ist die Vorlage für "Babylon Berlin", deren erste zwei Staffeln 2017 auf Sky anliefen und im Oktober 2018 in der ARD zu sehen sind. Seine von Kat Menschik illustrierte Erzählung "Moabit" wurde im Oktober 2017 ein weiterer Bestseller.
2
Der Mann erinnerte ein wenig an Wilhelm zwo. Der markante Schnurrbart, der stechende Blick. Wie auf dem Porträt, das zu Kaisers Zeiten in der Stube eines jeden guten Deutschen gehangen hatte – und in manch einer immer noch hing, obwohl der Kaiser vor über zehn Jahren abgedankt hatte und seitdem in Holland Tulpen züchtete. Der gleiche Schnurrbart, die gleichen Blitzeaugen. Doch da endeten auch die Gemeinsamkeiten. Dieser Kaiser trug keine Pickelhaube, die hing zusammen mit Säbel und Uniform über dem Bettpfosten. Dieser Mann trug nichts außer dem nach oben gezwirbelten Schnurrbart und einer imposanten Erektion. Vor ihm kniete eine nicht minder nackte Frau, gesegnet mit üppigen Rundungen, die dem kaiserlichen Zepter offensichtlich den gebotenen Respekt entgegenzubringen gedachte.
Rath blätterte lustlos in den Fotos, deren eigentlicher Zweck es war, Lust zu erregen. Weitere Aufnahmen zeigten den kaiserlichen Doppelgänger und seine Gespielin bereits in Aktion. Ganz gleich, wie sich ihre Körper verknoteten, der markante Schnurrbart war immer im Bild.
»Schweinkram!« Rath blickte sich um. Ein Schupo hatte ihm über die Schulter geschaut. »So ein Schweinkram«, fuhr der Blaue kopfschüttelnd fort, »das ist Majestätsbeleidigung, dafür hat es früher Zuchthaus gegeben.«
»Aber so beleidigt sieht unser Kaiser doch gar nicht aus«, meinte Rath. Er klappte die Mappe mit den Fotos zu und schob sie zurück auf den wackligen Schreibtisch, den sie ihm zur Verfügung gestellt hatten. Böser Blick unter dem Tschako. Der Mann in der blauen Uniform drehte wortlos ab und ging zu seinen Kollegen. Acht Uniformierte standen in dem Raum und unterhielten sich halblaut, die meisten wärmten ihre Hände an einer Kaffeetasse.
Rath schaute zu ihnen hinüber. Er wusste, dass die Schupos im 220. Revier gerade andere Sorgen hatten, als einem Kriminalbeamten vom Alex freundlichst Unterstützung zu gewähren. In drei Tagen wurde es ernst. Mittwoch war der erste Mai, und Polizeipräsident Zörgiebel hatte alle Maidemonstrationen in Berlin untersagt, die Kommunisten aber wollten trotz des Verbots marschieren. Die Polizei war nervös. Gerüchte über einen geplanten Putsch machten die Runde: Die Bolschewisten wollten Revolution spielen, Sowjetdeutschland mit zehn Jahren Verspätung doch noch errichten. Und im 220. Revier war die Polizei nervöser als in den meisten anderen Berliner Bezirken. Neukölln war ein Arbeiterviertel. Noch roter war höchstens der Wedding.
Die Schupos tuschelten. Ab und an warf ein Blauer dem Kriminalkommissar einen verstohlenen Blick zu. Rath klopfte eine Overstolz aus der Schachtel und zündete sie an. Dass er hier ungefähr so willkommen war wie die Heilsarmee in einem Nachtclub, das brauchte ihm niemand zu sagen, das war offensichtlich. Das Sittendezernat genoss in Polizeikreisen keinen allzu guten Ruf. Bis vor zwei Jahren noch war es vorrangige Aufgabe der Inspektion E gewesen, die Prostitution in der Stadt zu überwachen. Eine Art verbeamtete Zuhälterei also, denn nur polizeilich registrierte Prostituierte betrieben ihr Gewerbe legal. Viele Beamte hatten diese Abhängigkeit schamlos ausgenutzt. Bis ein neues Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten diese Aufgaben von der Sittenpolizei auf die Gesundheitsämter verlagert hatte. Seitdem kümmerte sich die Inspektion E um illegale Nachtclubs, Zuhälter und Pornographie, ihr Ruf allerdings hatte sich kaum gebessert. Immer noch schien etwas von dem Schmutz, mit dem sich die Beamten beruflich zu beschäftigen hatten, an ihnen hängen zu bleiben.
Rath blies Zigarettenrauch über den Schreibtisch. Von den Tschakos an den Garderobenhaken tropfte Regenwasser auf den Linoleumboden, grünes Linoleum, wie es auch in den Büros der Kriminalpolizei am Alexanderplatz verlegt war. Sein grauer Hut wirkte zwischen all dem schwarzen Lack und den glitzernden Polizeisternen wie ein Fremdkörper, ebenso sein Mantel, der mitten im Blau der Schupomäntel hing. Ein Zivilist unter lauter Uniformierten.
Der Kaffee in der verbeulten Emailtasse, den sie ihm hingestellt hatten, schmeckte scheußlich. Widerliche schwarze Brühe. Auch im 220. Revier konnte die Polizei also keinen Kaffee kochen. Warum sollte das in Neukölln anders sein als am Alex? Dennoch nahm er einen weiteren Schluck. Etwas anderes hatte er nicht zu tun. Nur deswegen saß er hier: um zu warten. Warten auf ein Telefonklingeln.
Er griff noch einmal zu der Mappe auf dem Schreibtisch. Die Blätter, auf denen Doppelgänger der Hohenzollern und anderer preußischer Prominenz in eindeutigen Positionen abgelichtet waren, gehörten nicht zu der üblichen Billigware. Kein Druck, sondern hochwertige Fotoabzüge in bester Qualität, wohlgeordnet in einer Mappe. Wer so etwas kaufte, musste schon ein paar Mark hinlegen, das war etwas für die besseren Kreise. Am Bahnhof Alexanderplatz hatte ein fliegender Zeitschriftenhändler die Blätter vertrieben, nur wenige Schritte vom Polizeipräsidium und den Büros der Inspektion E entfernt. Der Mann war der Streife nur deshalb aufgefallen, weil er die Nerven verloren hatte. Die beiden Schupos hatten den Händler auf eine harmlose Illustrierte aufmerksam machen wollen, die ihm aus dem Bauchladen gefallen war, doch als sie sich näherten, hatte er ihnen sein komplettes Sortiment entgegengeschleudert und die Beine in die Hand genommen. Zusammen mit den Zeitschriften waren den jungen Schupos auch die pornographischen Hochglanzfotos um die roten Ohren geflattert. Ihre Bewunderung für die Kunstfertigkeiten der Fotomodelle hätte sie beinah vergessen lassen, dem flüchtigen Händler nachzusetzen. Und als sie endlich die Verfolgung aufnahmen, war der Mann im Chaos der Baustellen rund um den Alex verschwunden. Das brachte den beiden Schupos kurz darauf im Präsidium den zweiten Satz rote Ohren ein, als sie ihren Fund auf Lankes Schreibtisch ablieferten und Bericht erstatteten. Der Chef der Inspektion E konnte sehr laut werden. Kriminalrat Werner Lanke vertrat die Auffassung, dass Freundlichkeit seiner Autorität schaden könnte. Rath musste daran denken, wie sein neuer Chef ihn vor vier Wochen begrüßt hatte.
»Ich weiß, dass Sie gute Beziehungen haben, Rath«, hatte Lanke ihn angeschnauzt. »Doch wenn Sie denken, Sie müssen sich deshalb nicht schmutzig machen, dann haben Sie sich geschnitten! Hier wird niemand geschont! Ein Mann, um den ich nicht gebeten habe, schon gar nicht!«
Seinen ersten Monat in der Inspektion E hatte er nun fast hinter sich. Die Zeit war ihm vorgekommen wie eine Strafe. Und vielleicht war es das ja auch. Obwohl sie ihn nicht degradiert hatten, nur versetzt. Er hatte Köln verlassen müssen, und auch die Mordkommission. Aber er war immer noch Kriminalkommissar! Und er hatte nicht vor, ewig bei der Sitte rumzuhängen. Er verstand nicht, wie der Onkel das aushielt, aber dem Kollegen schien die Arbeit für die E sogar Spaß zu machen.
Oberkommissar Bruno Wolter, wegen seiner gemütlichen Art von den meisten Kollegen Onkel genannt, leitete ihre Ermittlungsgruppe und auch die heutige Razzia. Draußen im Hof des Polizeireviers stand der Mannschaftswagen, Wolter besprach dort mit den beiden Damen von der weiblichen Kriminalpolizei und dem Bereitschaftsführer die Einzelheiten der geplanten Aktion. Jeden Moment konnte es losgehen. Sie warteten nur auf Jänickes Anruf. Rath stellte sich vor, wie der Frischling in der muffigen Wohnung saß, die sie für die Observierung des Ateliers beschlagnahmt hatten – in einer Hand das Fernglas, während die andere nervös über dem Telefonhörer zitterte. Auch Kriminalassistent Stephan Jänicke war erst Anfang April zur Sitte gekommen, ganz frisch von der Eiche gefallen, wie Wolter ihn manchmal aufzog, denn Jänicke war direkt von der Polizeischule Eiche zum Dienst am Alex beordert worden. Doch der blonde, wortkarge Ostpreuße ließ sich von den Frotzeleien der älteren Kollegen nicht beirren, er nahm seinen Beruf ernst.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Rath drückte die Zigarette aus und griff nach dem schwarzglänzenden Hörer.
Der Mannschaftswagen hielt direkt vor einer großen Mietskaserne in der Hermannstraße. Misstrauisch schauten die Passanten zu, wie die jungen Uniformierten von der Pritsche sprangen. Polizei war in diesem Teil der Stadt nicht gern gesehen. Im Halbdunkel des Torbogens, der zu den Hinterhöfen führte, wartete Jänicke, die Hände in die Manteltaschen gegraben, den Kragen hochgeschlagen und die Hutkrempe in die Stirn gezogen. Rath musste ein Lachen unterdrücken. Jänicke gab sich die größte Mühe, wie ein abgebrühter Großstadtbulle auszusehen, doch die ewig roten Wangen verrieten den Jungen vom Lande.
»Da müssen jetzt ungefähr ein Dutzend Leute drin sein«, sagte der Frischling und versuchte, mit Rath und Wolter Schritt zu halten. »Ich habe einen Hindenburg gesehen, einen Bismarck, einen Moltke, Wilhelm eins und Wilhelm zwo und sogar einen Alten Fritz.«
»Na, ich hoffe auch ein paar Mädels«, sagte der Onkel und steuerte den zweiten Hof an. Die beiden Damen lächelten säuerlich. Die Zivilbeamten und zehn Uniformierte folgten dem Oberkommissar zum zweiten Hinterhaus. Auf dem Hof spielten fünf Jungen mit einer Blechdose Fußball. Als sie das Polizeiaufgebot sahen, blieben sie stehen und ließen die Dose eine letzte scheppernde Pirouette drehen. Wolter legte den Zeigefinger an die Lippen. Der Älteste, er mochte vielleicht elf Jahre zählen, nickte stumm. Oben wurde ein Fenster zugeschlagen. Photoatelier Johann König, 4. Etage verkündete ein Messingschild am Treppenaufgang.
Der Onkel hatte einen seiner zahlreichen Informanten in der Berliner Unterwelt bemühen müssen, um König auf die Spur zu kommen, denn der Fotograf war ein unbeschriebenes Blatt, polizeilich gesehen. Er fertigte preiswerte Passfotos...
Erscheint lt. Verlag | 3.1.2020 |
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Reihe/Serie | Die Gereon-Rath-Romane |
Die Gereon-Rath-Romane | Die Gereon-Rath-Romane |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | ARD-Serie • Babylon Berlin • Berlin 20er Jahre • Besteller • Der stumme Tod • Die Akte Vaterland • Gereon Rath • Gereon-Rath-Roman • Goldstein • Krimi • Lunapark • Marlow • Märzgefallene • Sky-Serie • Zeitgeschichtlicher Krimi • Zwanziger Jahre |
ISBN-10 | 3-492-99641-8 / 3492996418 |
ISBN-13 | 978-3-492-99641-9 / 9783492996419 |
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