Geheime Quellen (eBook)
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61012-3 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
2
Eine Weile schwiegen sie einträchtig. Dann fragte Griffoni: »Was dachtest du, was da zum Vorschein käme?«
»Ich fürchtete – das Verhalten der Männer schien mir darauf hinzudeuten –, sie hätten eine Leiche gefunden«, druckste Brunetti.
»Passiert das oft?«, fragte Griffoni, die unvermutet stehengeblieben war.
»Nein, zum Glück.« Brunetti versuchte ein Lächeln hinzubekommen. »Nicht oft.«
Seine Kollegin hob nachdenklich das Kinn: »Diese Frauenleiche auf dem Lido – wann war das, vor sechs, sieben Jahren?«
Brunetti erinnerte sich. Der Fund hatte die ganze Stadt schockiert.
»Wo kamen die Mörder her? Bangladesch?«, fragte Griffoni.
»Indien. Aber das war vor deiner Zeit.«
Sie nickte. »Ich kenne den Fall nur aus der Zeitung. Il Mattino ist geradezu ausgeflippt, ja alle Blätter waren voll davon. Die haben sich darauf gestürzt wie die Geier.«
Brunetti war die Sache noch gegenwärtig, obwohl er zu der Zeit in Ljubljana gewesen war, um die Auslieferung eines Italieners zu erwirken, der seinen Arbeitgeber ermordet hatte und nach Slowenien geflohen war. Bei Brunettis Rückkehr saßen die Mörder der Frau bereits hinter Schloss und Riegel.
»Sie wurde in einem Kanal auf dem Lido gefunden, nicht wahr?«, fragte Griffoni. »Und dann war da noch etwas mit einem Koffer.«
Brunetti erinnerte sich an die grausigen Einzelheiten. »Getötet wurde die Frau in Mailand. Die Leiche wurde in einem Koffer hierhergebracht und auf dem Lido ins Wasser geworfen.«
»Es ging um Geld, oder?«
»Wann denn nicht?«
»Den Rest habe ich vergessen«, sagte Griffoni. »Irgendwas mit einem Taxi.«
Brunetti blieb stehen und zupfte an seinem Hemd, das ihm am Körper klebte. Die Hitze hatte sich im Lauf der Woche noch gesteigert, ebenso die Luftfeuchtigkeit, auch wenn an Regen nicht zu denken war. Die Boote waren überfüllt, kein Lüftchen wehte, alle Nerven lagen blank.
Brunetti schnaubte, ob entrüstet oder fassungslos, wusste er selbst nicht. »Soweit ich mich erinnere, verpassten die Mörder den letzten Zug nach Mailand; also nahmen sie am Piazzale Roma ein Taxi und zahlten an die fünfhundert Euro für die Fahrt. Dem Taxifahrer fiel der leere Koffer auf, und als er die Nachricht in der Zeitung sah, erinnerte er sich, wie nervös die zwei gewesen waren. Er alarmierte die Questura.« Brunetti rieb sich die Hände. »Und schon hatten wir sie.«
»Wie es weiterging, war nicht mehr zu lesen«, sagte Griffoni. »Weißt du etwas darüber?«
»Nein. Da der Mord in Mailand verübt wurde, muss es dort auch zum Prozess gekommen sein.« Brunetti sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei, Zeit für ihre Verabredung im Ospedale Fatebenefratelli. Eine Patientin im dortigen Hospiz hatte um ein Gespräch mit der Polizei gebeten.
Sie kannten ihren Namen und ihr Alter: Benedetta Toso, 38, Venezianerin, wohnhaft in Santa Croce. Mehr wussten sie nicht, doch da der Anruf aus dem Hospiz gekommen war, wollten sie den Besuch lieber nicht auf die lange Bank schieben. Der Commissario war tags zuvor von Cecilia Donato kontaktiert worden, Signora Tosos behandelnder Ärztin, die vor Jahren mit Brunettis Bruder Sergio, einem Röntgentechniker am Ospedale Civile, zusammengearbeitet hatte.
In ihrer Funktion als Chefärztin am Hospiz des Ospedale Fatebenefratelli hatte sie Brunetti zu sprechen verlangt. Der Mann in der Telefonzentrale bat sie zu warten, er müsse erst schauen, ob Commissario Brunetti im Hause sei; doch als sie hinzufügte, sie sei mit Brunettis Bruder Sergio befreundet, wurde ihr Anruf sofort durchgestellt.
Ohne näher auf die Umstände einzugehen, vermeldete die Ärztin, Signora Toso sei ihre Patientin und habe statt eines Priesters die Polizei sprechen wollen, am liebsten eine Polizistin.
Also wurde Griffoni entsandt. Brunetti begleitete sie in der Hoffnung, Dottoressa Donatos Bekanntschaft mit seinem Bruder könne ihnen zu weiteren Auskünften verhelfen. Griffoni würde die Regie übernehmen. Wenn sie mit der Patientin sprach, sollte Brunetti so tun, als sei sie seine Vorgesetzte.
Um fünf vor drei betraten die beiden das Gebäude und gingen geradewegs zum Aufzug. Brunetti hatte schon mehr als einen Freund besucht, der in diesem Hospiz aus dem Leben geschieden war, genau wie Freunde im Ospedale Civile. Sollte er selbst in die Lage kommen, würde er sich für das Fatebenefratelli entscheiden.
In der zweiten Etage steuerte Brunetti unverzüglich die Stationstheke an. Seine Besuche in Kliniken hatten sich stets als Geduldsproben erwiesen: warten, bis man in die Station vorgelassen wurde; einen freien Stuhl in dem jeweiligen Zimmer ergattern, in dem gewöhnlich zwei, nicht selten sogar vier Patienten lagen; das Rattern der Rollwagen, wenn Mahlzeiten angeliefert und verteilt wurden.
In diesem Flur hingegen herrschte Stille. Hinter dem Empfang saß ein junger Mann mit einem langen blonden Zopf. Er trug Jeans und ein weißes T-Shirt unter einem weißen Laborkittel und begrüßte sie mit einem Lächeln. Auf seinem Namensschildchen stand einfach nur »Domingo«. »Sind Sie die Polizisten?«, fragte er in nicht ganz akzentfreiem Italienisch, und es klang, als freue er sich über ihr Kommen.
Griffoni, vorgeblich die Ranghöhere, nickte bestätigend. »Ja. Commissario Claudia Griffoni und« – mit einem Fingerzeig auf Brunetti – »mein Kollege Guido Brunetti.«
»Angenehm.« Der junge Mann lächelte. »Dottoressa Donato hat mich gebeten, Sie zu ihr zu bringen, sobald Sie da sind.« Er kam in weißen Converse-Sneakers hinter der Theke zum Vorschein und gab ihnen die Hand. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Signora Toso möchte Sie dringend sprechen.«
Und bevor sie nachhaken konnten, lief er ihnen auch schon den Flur hinunter voraus. Brunetti fiel auf, dass die Wände mit Schwarzweißfotos von Stränden dekoriert waren: schnurgerade oder hügelig, windstill oder aufgepeitscht, Felsen oder nur Sand. Gemeinsam war allen das gänzliche Fehlen von Menschen oder auch nur menschlichen Spuren: keine Getränkedosen, Plastikabfälle, Liegestühle, Boote – nur Wasser und Weite.
Vor der dritten Tür links, die offen stand, blieb der junge Mann stehen und rief leise hinein: »Cecilia, die Polizei ist hier.«
Eine Stimme sagte etwas, das Brunetti nicht hören konnte, und Domingo gab den Weg frei. Griffoni ging voraus.
Eine äußerst korpulente weißhaarige Frau machte Anstalten, sich zu erheben, was ihr erst gelang, als die beiden den Schreibtisch erreicht hatten. Mit der linken Hand auf die Tischplatte gestützt, reichte sie Griffoni und dann Brunetti die Rechte.
Wie der junge Mann trug die Frau ein Namensschildchen, jedoch mit Titel und vollem Namen: Dottoressa Cecilia Donato. Einladend wies sie auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch, umklammerte die Armlehnen und ließ sich mühsam wieder nieder.
Nicht nur ihr Körper, auch ihr Kopf war birnenförmig. Stirn und Augen die einer weit kleineren Person, während die untere Gesichtshälfte sich ausbuchtete und die Wangen direkt auf dem Hals zu ruhen schienen, der fast so breit war wie ihr Kiefer. Ihr Körper, der von den Schultern abwärts immer umfangreicher wurde, war hinter dem Schreibtisch nur zur Hälfte zu sehen.
Um sie nicht anzustarren, richtete Brunetti den Blick auf ihre Hände. Schlank und glatt, trennte eine dünne Einkerbung wie von einer fest gezurrten Schnur sie von den prallen Unterarmen. An der Linken trug sie einen goldenen Ehering.
»Danke, dass Sie gekommen sind, nehmen Sie doch Platz«, ließ Dottoressa Donato eine tiefe Altstimme ertönen. Sie sah auf eins der Papiere vor sich nieder, wobei ihr sich lichtendes Haar auf dem Schädeldach bemerkbar wurde, blickte auf und sagte zu Brunetti: »Ich habe am Telefon erklärt, worum Signora Toso gebeten hat, Commissario. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Brunetti nickte. Und nach kurzem Überlegen: »Heißt das, Sie wissen mehr, Dottoressa?«
Sie ließ sich mit der Antwort Zeit.
Schlechte Lügnerin, dachte Brunetti.
»Ich denke«, erklärte sie schließlich, »es spielt keine Rolle, was oder wie viel ich über Signora Toso weiß. Sie ist meine Patientin, also ist alles, was sie mir erzählt hat, vertraulich.«
Als Brunetti nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Das ist Ihnen sicherlich klar, Commissario.«
»Selbstverständlich, Dottoressa. Mich interessiert nur, ob eine zweite Person Bescheid weiß.«
»Warum?«
»Falls weitere Aussagen notwendig werden sollten«, antwortete Brunetti.
»Und warum sollte dem so sein?«
Brunetti breitete die Hände aus. »Weil sie hier ist.«
Die Ärztin sah hilfesuchend zu Griffoni. Als diese nur den Kopf schüttelte, wandte sie sich wieder Brunetti zu. »Ich verstehe.«
»Sie könnten ihre Aussage bestätigen.«
Die Ärztin stützte die Ellbogen auf die Tischplatte, legte die Handflächen aneinander und ihr Kinn auf die Fingerspitzen. »Wozu sollte das nötig sein?«
Brunetti schlug lässig die Beine übereinander. »Nun ja, die Frau liegt im Sterben und ruft nach der Polizei. Da ist es doch … nicht auszuschließen, dass es um ein Verbrechen gehen könnte.« Brunetti legte eine Pause ein.
Als die Ärztin nichts erwiderte, fuhr er fort: »Wenn Sie eingeweiht sind, Dottoressa, würde Ihre Bestätigung glaubhafter machen, was sie …« Brunetti verstummte: Er wusste nicht, in welcher Zeitform er den Satz beenden sollte.
»Mitzuteilen hat«, ergänzte die Ärztin. Brunetti...
Erscheint lt. Verlag | 27.5.2020 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Trace Elements |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brunetti • Commissario • Italien • Krimi • Mikroplastik • Mord • PFAS • Polizei • Sommer • Trinkwasser • Umweltverbrechen • Venedig • Wasserexperte • Wasserverschmutzung |
ISBN-10 | 3-257-61012-2 / 3257610122 |
ISBN-13 | 978-3-257-61012-3 / 9783257610123 |
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