INSEL (eBook)
384 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25170-3 (ISBN)
Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und wird zu einer abgelegenen Insel geschickt. Was ist dort in dem Haus geschehen, das von der Bevölkerung als das isolierteste Haus Islands bezeichnet wird? Huldas Ermittlungen kreuzen Vergangenheit und Gegenwart - und plötzlich ist sie einem Mörder auf der Spur, der möglicherweise nicht nur ein Leben auf dem Gewissen hat ...
Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers' Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem internationalen isländischen Krimifestival. Seine Bücher, darunter die preisgekrönte »Hulda-Serie« sowie die »Dark-Iceland-Serie« werden weltweit gefeiert und erscheinen in 36 Ländern mit einer Gesamtauflage von 5 Millionen Büchern. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt und unterrichtet an der Universität außerdem Rechtswissenschaften.
V
Als Benedikt aufwachte, war er überrascht, dass es noch so früh war. Er hatte gedacht, fernab von Verkehrslärm und Weckern würde er schlafen wie ein Stein und erst am späten Vormittag wach werden.
Allerdings hatte er nicht besonders gut geschlafen. Vielleicht war die Gutenachtgeschichte über schwarze Magie und verbrannte Hexer schuld. Vielleicht lag es auch daran, dass er endlich eine Nacht mit ihr verbracht hatte.
Sie schlief immer noch tief und fest, also stieg er leise die Leiter hinunter, zog Pullover, Hose und Schuhe an und steckte den Kopf aus der Tür. Allem Anschein nach würde es ein schöner Tag werden; es war kühl, aber vollkommen windstill. Er lief von der Hütte Richtung Meer hinunter und genoss im blassen Morgenlicht den ersten Ausblick auf die Umgebung. In seiner Vorstellung war der Nordwesten von massiven Bergen geprägt, die sich über den Fjorden erhoben, die so tief ins Land einschnitten, dass dort im Winter monatelang keine Sonne zu sehen war. Doch hier am innersten Ausläufer des Ísafjarðardjúp war die Landschaft sanfter, das grasbewachsene Tal auf drei Seiten von langen, flachen Fjellen umgeben. Was der Umgebung an Dramatik fehlte, machte sie mit ihrer allumfassenden Ruhe wett, einem Gefühl von Leere und Endlosigkeit. Die einzigen Farbtupfer in der baumlosen Landschaft waren Heidel- und Krähbeeren und der stille blaue Fjord.
Er brauchte länger als erwartet, um zur Küste hinunterzusteigen. Dort setzte er sich auf einen Felsen und blickte aufs Wasser. Jenseits der Fjordmündung glänzte der ewige Schnee an der Nordküste des Djúp – eine Erinnerung daran, wie nahe sie hier dem Polarkreis waren. Sie hatte ihm erzählt, dass die gesamte nördliche Halbinsel von Hornstrandir bis Snæfjallaströnd bis auf eine Handvoll Bauernhöfe, die sich wacker hielten, unbewohnt war. Bei dem Gedanken fühlte er sich ein wenig verlassen.
Er wollte nicht zu lange wegbleiben, falls sie in seiner Abwesenheit aufwachte und sich fragte, wo er war, deshalb kraxelte er den Hang zügig wieder hinauf. Es hatte gutgetan, die Beine zu strecken, doch jetzt freute er sich darauf, in die Wärme zurückzukehren.
Als er bei der Hütte ankam, die Leiter hinaufstieg und in das Schlaf-Loft spähte, schlummerte sie immer noch. Erstaunlich, wie lange sie schlafen konnte.
Dies war seine erste Gelegenheit, seinem Mädchen Frühstück ans Bett zu bringen; nichts Extravagantes, ein schlichtes Mahl aus Brot, Käse und Orangensaft, das er in das Schlaf-Loft hochtragen wollte.
Sie sah so schön aus, wenn sie schlief. Er stupste sie sanft an, doch sie reagierte nicht und rührte sich auch nur leicht, selbst als er sich zu ihr hinabbeugte und flüsterte, dass das Frühstück fertig sei.
»Frühstück?«, fragte sie, öffnete halb die Augen und gähnte.
»Ich war kurz im Laden.«
»Im Laden?«
»War nur ein Witz. Ich hab dir ein Butterbrot gemacht.«
Sie lächelte. »Danke, aber ich bin noch ziemlich müde. Ist es okay, wenn ich es später esse?«
»Ja, klar. Willst du noch ein bisschen schlafen?«
»Das wäre toll.«
Benedikt dachte an die Landschaft draußen – obwohl er zunächst skeptisch gewesen war, hatte das einsame Tal ihn für sich eingenommen. »Okay, kein Problem. Vielleicht mache ich einen Spaziergang und springe in das heiße Becken.«
»Ja, super Idee, mach das«, sagte sie und drehte sich um. »Lass dir Zeit.«
Benedikt lief los, ohne zu wissen, wohin er wollte, und der Gedanke gefiel ihm. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten war er richtig allein, unerreichbar für alle. Die Natur um ihn herum hatte eine unvermutet anregende Wirkung auf ihn. Die Luft war immer noch frisch, doch diesmal hatte er sich seine Jacke übergezogen, und beim Gehen wurde ihm rasch warm. Eigentlich hatte er geplant, sich in dem heißen Becken zu entspannen, doch als er den Bach erreichte, beschloss er, weiterzugehen und das Tal zu erkunden. Im hellen Tageslicht mit den Bergen als Orientierung würde er sich wohl kaum verlaufen.
Manchmal war es gut, Zeit für sich zu haben, Zeit zum Nachdenken. Er hatte keinen Zweifel, dass er die richtige Frau gefunden hatte, so schwierig es auch gewesen war, sie zu erobern. Er hatte den Eindruck, dass sie gut zueinander passten, dass sie sich wirklich gut verstanden und trotzdem so verschieden waren, dass es aufregend bleiben würde. Nicht einmal ihre reißerischen Gespenstergeschichten störten ihn; sie hatten ihren eigenen Reiz, obwohl er nach wie vor nicht wusste, ob er alles glauben sollte, was sie ihm in der vergangenen Nacht erzählt hatte. Ein Vorfahr, der wegen Hexerei verbrannt worden war … Na ja, möglich war es, und bei der Vorstellung bekam er Gänsehaut. Er erinnerte sich noch an den Heidenschreck, als sie dann noch die Kerze umgestoßen hatte, und hatte den leisen Verdacht, dass es Absicht gewesen war, um … nun ja, um des Effekts willen. Sie war unberechenbar, man wusste nie, was sie als Nächstes tun würde, aber für ihn zählte jetzt nur noch, dass er verliebt in sie war, mit all ihren Fehlern, und sie endlich ihm gehörte.
Er brauchte jetzt vor allem Ruhe, um über die Zukunft nachzudenken. Sein lang gehegter Traum, Kunst zu studieren, hatte vor Kurzem neuen Auftrieb erhalten, als ein Schulfreund beschlossen hatte, sich an einer der führenden Kunstakademien in den Niederlanden zu bewerben. Dadurch ermutigt hatte Benedikt ebenfalls die Bewerbungsunterlagen angefordert, die jetzt als Erinnerung an die zu treffende Entscheidung auf seinem Schreibtisch lagen. Aber bis zum Bewerbungsschluss blieb ihm noch ein wenig Zeit.
Bisher hatte er den Sprung aus verschiedenen Gründen nicht gewagt. Erstens natürlich, weil er verliebt war und sich nur schwer auf etwas anderes konzentrieren konnte. Aber der Kurs begann auch erst in einem Jahr, und bis dahin müsste eine vorübergehende Trennung nicht unbedingt das Ende ihrer Beziehung bedeuten. Er könnte vielleicht sogar irgendwann die Möglichkeit ansprechen, dass sie mit ihm in die Niederlande ziehen könnte. Schließlich war sie abenteuerlustig, genau wie er. Zweitens ging es um Geld; seine Familie war nicht wohlhabend, und auch er selbst hatte keine Ersparnisse, auf die er zurückgreifen konnte. Aber wenn er sparsam lebte, sollte er mit einem Studiendarlehen über die Runden kommen. Und zu guter Letzt waren da noch seine Eltern. Er war Einzelkind, und sie hatten ihn relativ spät bekommen. Inzwischen gingen beide auf die sechzig zu. Vielleicht hielt ihn ein unbewusstes Schuldgefühl zurück, sie im Stich zu lassen. Aber der eigentliche Grund seines Zauderns war offen gestanden schlicht und einfach die Angst davor, eine so grundlegende Entscheidung zu treffen: Er hatte immer den Weg des geringsten Widerstands gewählt, war auf die Schule gegangen, die seine Eltern für ihn ausgesucht hatten, hatte an den Sport- und Freizeitaktivitäten teilgenommen, die von ihm erwartet worden waren, und gerade erst in diesem Herbst ein Maschinenbaustudium begonnen, weil er genau wie seine Eltern gut in Mathe war. Aber dass ihm das Fach leichtfiel, bedeutete nicht, dass er deswegen auch nur die geringste Begeisterung für die Vorlesungen aufbrachte.
An diesem Wochenende, an dem andere Erstsemestler sich aus Angst, mit dem Stoff nicht mitzukommen, in ihren Büchern vergruben, wollte Benedikt sein Studium für eine Weile vergessen. Er konnte sich ohnehin kaum vorstellen, beim Maschinenbau zu bleiben, und spürte, wie in ihm ein rebellischer Geist erwachte. Die frische Landluft hatte eine eigenartig elektrisierende Wirkung auf ihn; es war, als könnte er alles endlich deutlich vor sich sehen, und er wusste mit unvermittelter Klarheit, dass er keine einzige weitere verdammte Vorlesung ertragen würde. Am besten überließ er all das – die Zahlen und Gleichungen – anderen. Leuten, die sich wirklich dafür interessierten. Er musste nur den Mut aufbringen, seinen Eltern entgegenzutreten, und nicht nur das: Er musste sich auch seiner eigenen Feigheit stellen und die Entscheidung treffen, von der er wusste, dass sie die richtige war. Natürlich würde es seine Mutter und seinen Vater hart treffen, wenn er ihnen mitteilte, dass er sein Studium abbrechen, in die Niederlande gehen und dort Kunst studieren wollte … Die Vorstellung war beinahe komisch. Er konnte sich ihre Gesichter genau vorstellen, wenn er ihnen seinen Entschluss eröffnete. Immerhin wussten sie, dass er am glücklichsten war, wenn er sich in der Garage einschließen und mit Pinseln, Farben und Leinwand herumhantieren konnte. So war es schon seit Jahren, und auf ihre Weise hatten sie ihn sogar unterstützt und ermutigt, ohne von ihrer Überzeugung abzuweichen, dass er etwas Praktisches studieren sollte. Kunst könne nie mehr sein als ein Hobby.
Er erinnerte sich noch gut daran, wie sein Kunstlehrer nach Abschluss des letzten Schuljahrs mit ihnen gesprochen und versucht hatte, ihnen zu erklären, wie talentiert ihr Sohn war. Ja, hatten sie erwidert, das sei ihnen durchaus bewusst. Aber als der Kunstlehrer vorgeschlagen hatte, dass ein Junge mit Benedikts Gabe professionell malen sollte, waren sie völlig perplex gewesen, auch wenn sie höflich reagiert hatten. Schon damals war Benedikt klar geworden, dass er seinen Lebensweg selbst bestimmen musste, und er hatte auch gewusst, wie dieser Weg aussehen könnte; ihm hatte nur der Mut gefehlt, seinen Traum zu verwirklichen.
Vielleicht würde nun alles leichter werden, mit ihr an seiner Seite … Voller Zuversicht hob er den Blick zu den Bergen und stellte überrascht fest, dass er viel weiter gelaufen war als beabsichtigt. Er fühlte sich glücklich und war voller Tatendrang, die Luft war frisch und belebend, und er hatte das...
Erscheint lt. Verlag | 13.7.2020 |
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Reihe/Serie | Die HULDA-Reihe |
Die HULDA Trilogie | Die HULDA Trilogie |
Übersetzer | Kristian Lutze |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | DRUNGI |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller 2020 • Börjlind • Die Brücke • eBooks • Elliðaey • Hulda Hermannsdóttir • isländische Highlands • Island Noir • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mordfall • Polizei Reykjavík • Stieg Larsson • Thriller • Thriller Neuerscheinungen 2020 • Yrsa Sigurdardóttir |
ISBN-10 | 3-641-25170-2 / 3641251702 |
ISBN-13 | 978-3-641-25170-3 / 9783641251703 |
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