NEBEL (eBook)
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25168-0 (ISBN)
Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, kehrt nach einem Schicksalsschlag gerade wieder in ihren Beruf zurück. Um sie bei der Wiederaufnahme der Arbeit zu unterstützen, wird Hulda von ihrem Chef mit einem neuen Fall betraut: Mehrere Leichen wurden in einem abgelegenen Bauernhaus im Osten des Landes gefunden, und alles deutet darauf hin, dass sie dort schon seit einigen Wochen liegen. Was ist während der Weihnachtstage geschehen, als das Bauernhaus durch einen Schneesturm vom Rest der Welt abgeschnitten war? Und gibt es ein Entkommen vor der eigenen Schuld?
Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers' Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem internationalen isländischen Krimifestival. Seine Bücher, darunter die preisgekrönte »Hulda-Serie« sowie die »Dark-Iceland-Serie« werden weltweit gefeiert und erscheinen in 36 Ländern mit einer Gesamtauflage von 5 Millionen Büchern. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt und unterrichtet an der Universität außerdem Rechtswissenschaften.
I
Ende.
Erla legte ihr Buch weg und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer in dem verschlissenen Sessel zurück.
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Die Standuhr im Wohnzimmer hatte schon vor Langem den Geist aufgegeben – es musste Jahre her sein. Sie wussten beide nicht, wie sie sie selbst reparieren sollten, und die Uhr war so schwer und sperrig, dass sie nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatten, sie zu ihrem alten Jeep hinauszuschleppen und über die lange, holprige Straße ins Dorf zu fahren. Sie waren sich nicht einmal sicher, ob die Uhr überhaupt ins Auto passte oder ob es im Dorf jemanden gab, der in der Lage war, so einen uralten Mechanismus zu reparieren. Also ließen sie sie einfach stehen, wo sie war, auch wenn sie seither nur noch der Dekoration diente. Die Uhr hatte Einars Großvater gehört. Angeblich hatte er sie aus Dänemark mitgebracht, wo er die Landwirtschaftsschule besucht hatte, bevor er nach Hause zurückgekehrt war, um den Hof zu übernehmen. So sei es von ihm erwartet worden, wie Einar gern betonte. Später war dann sein Vater an der Reihe gewesen, ehe der Staffelstab schließlich an Einar selbst weitergereicht worden war. Sein Großvater war längst tot und auch sein Vater, der recht jung verstorben war. Hier draußen einen Hof zu bewirtschaften, ja nur hier zu leben forderte von Körper und Psyche einen hohen Tribut.
Erst jetzt spürte sie, dass es eiskalt im Zimmer war. Das war zu dieser Jahreszeit natürlich nicht anders zu erwarten. Das Haus war in die Jahre gekommen, und wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung wehte, konnte man sich in manchen Zimmern – wie hier im Wohnzimmer – nur warm halten, indem man sich in eine dicke Decke wickelte, so wie sie es getan hatte. Auf diese Weise blieb ihr angenehm warm, nur ihre Hände, die unter der Decke hervorschauten, waren so eiskalt, dass sie kaum die Seiten umblättern konnte. Aber das nahm sie gerne in Kauf. Nichts bereitete ihr so viel Genuss wie das Lesen. Ein gutes Buch konnte sie weit, weit weg in eine andere Welt entführen, in ein anderes Land, eine andere Kultur, wo das Klima wärmer und das Leben leichter war. Das sollte nicht heißen, dass sie undankbar oder unzufrieden mit dem Hof oder seiner Lage war. Immerhin war es Einars Elternhaus, also blieb ihr gar nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und das Beste daraus zu machen. Als junges Mädchen im Reykjavík der Nachkriegszeit hätte Erla sich nie träumen lassen, dass sie mal als Bauersfrau im wilden Hochland von Island leben würde, doch dann hatte sie Einar kennengelernt, und er hatte ihr Herz im Sturm erobert. Und bald darauf – sie waren beide gerade Anfang zwanzig gewesen – hatte sie Anna bekommen.
Sie dachte an Anna, deren Haus in einem etwas besseren Zustand war als ihres. Es war viel später erbaut worden, in einiger Entfernung von ihrem Hof, ursprünglich als Unterkunft für Pachtbauern. Das Schlimmste an der Entfernung war, dass sie einander nicht einfach spontan besuchen konnten, wenn das schlechte Wetter sich so festsetzte wie jetzt, oder jedenfalls nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten. Einar ließ den Jeep während der härtesten Wintermonate für gewöhnlich stehen, weil selbst der Vierradantrieb, die Spikes-Reifen und die Schneeketten wenig halfen, wenn es tagelang schneite. Bei solchem Wetter kam man besser zu Fuß oder auf Langlaufskiern vom Fleck – und zum Glück waren sie und Einar beide passable Skifahrer. Nur schade, dass sie nicht öfter die Gelegenheit gehabt hatten, ihr Geschick auf richtigen Abfahrtspisten zu beweisen, aber für solche Dinge war nie viel Zeit gewesen. Auch das Geld war immer knapp – der Hof arbeitete gerade kostendeckend, aber viel für Freizeitaktivitäten oder Reisen auszugeben konnten sie sich nicht leisten. Sie redeten nur selten darüber. Es ging immer nur darum, sich über Wasser zu halten, den Hof am Laufen und wenn möglich in den schwarzen Zahlen zu halten. Sie wusste, dass für Einar die Familienehre auf dem Spiel stand. Er hatte ein schweres Erbe angetreten, und es war, als wären die Geister seiner Ahnen ständig anwesend und beobachteten ihn aus den dunklen Ecken heraus.
Sein Großvater, Einar Einarsson I., wachte über den ältesten Teil des Hauses, wo Erla jetzt saß – dem ursprünglichen Holzhaus, das er »mit eigenen Händen, mit Blut, Schweiß und Tränen« gebaut hatte, wie ihr Mann es einmal ausgedrückt hatte. Einars Vater, Einar Einarsson II., herrschte über den neuen Flügel, wie Erla ihn nannte, den Anbau aus Beton, in dem jetzt die Schlafzimmer lagen – erbaut, als ihr Mann, Einar Einarsson III., noch ein Kind gewesen war.
Vor ihren eigenen Vorfahren empfand Erla nicht annähernd so viel Ehrfurcht. Sie sprach auch kaum von ihnen. Ihre Eltern waren geschieden und lebten unten im Süden, und ihre drei Schwestern sah sie so gut wie nie. Die räumliche Entfernung spielte natürlich eine Rolle, aber in Wahrheit waren ihre Familienbande nie besonders stark gewesen. Nach der Trennung der Eltern hatten Erlas Schwestern sich nicht mehr viel Mühe gegeben, den Kontakt aufrechtzuhalten, und Familientreffen gab es nur alle Jubeljahre. Tränen vergoss Erla deswegen kaum. Es wäre schön gewesen, sich für den Fall der Fälle auf ihr eigenes Netzwerk verlassen zu können, doch jetzt gehörte sie stattdessen zu Einars Familie und konzentrierte sich darauf, die Beziehung zu seinen Verwandten zu pflegen.
Erla blieb in ihrem Sessel sitzen. Fürs Aufstehen brachte sie einfach noch nicht die Energie auf. Außerdem würde sie ohnehin nirgends hingehen können außer ins Bett, und sie wollte noch ein wenig länger aufbleiben und die Ruhe genießen. Einar war schon vor Stunden eingeschlafen. Seiner Ansicht nach war es eine Tugend, früh aufzustehen, außerdem musste er ohnehin die Schafe füttern. Aber um diese Jahreszeit, kurz vor Weihnachten, wenn die Tage am kürzesten waren, sah Erla keinen vernünftigen Grund, sich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett zu quälen, solange es draußen noch stockdunkel war. Es wurde erst gegen elf richtig hell, und sie fand, dass das im Dezember allemal früh genug zum Aufstehen war. Sie und Einar hatten im Laufe der Jahre gelernt, sich wegen Banalitäten wie der Frage, wann man aufstehen sollte, nicht in die Haare zu kriegen. Es war ja nicht so, als bekämen sie hier draußen viel Besuch, also hatten sie keine andere Wahl, als miteinander auszukommen. Und sie liebten einander immer noch – vielleicht nicht mehr auf dieselbe Weise wie damals, als sie sich kennengelernt hatten, aber ihre Liebe war gereift, ihre Beziehung tiefer geworden.
Erla bedauerte fast, dass sie das Buch so schnell verschlungen hatte – sie hätte es sich besser einteilen sollen. Das letzte Mal, als sie ins Dorf gefahren waren, hatte sie in der Bücherei fünfzehn Romane ausgeliehen. Das war über dem Limit, aber für sie machte man eine Ausnahme, was angesichts der Umstände nur selbstverständlich war. Sie durfte die Bücher auch über die normale Frist hinaus ausleihen, manchmal sogar zwei oder drei Monate, wenn das Wetter besonders schlecht war. Nun hatte sie aber alle fünfzehn ausgelesen – dieses hier war das letzte gewesen. Sie hatte sie ungewöhnlich schnell durchgehabt, obwohl es unmöglich abzusehen gewesen war, wann sie es das nächste Mal zur Bücherei schaffen würden. Und es wäre unfair gewesen, von Einar zu verlangen, dass er ihr noch mehr Bücher mitbrächte, als er vor ein paar Tagen auf Skiern ins Dorf gefahren war – er hatte auch so schon genug zu schleppen gehabt. Das vertraute Gefühl der Leere beschlich sie, wie immer, wenn ihr etwas ausging und sie keine Möglichkeit hatte, sich Nachschub zu besorgen. Sie saß hier fest. Leere war eigentlich gar nicht der richtige Ausdruck für dieses Gefühl – es war eher so, dass sie sich hier oben in der Wildnis wie eine Gefangene vorkam.
Aber ein Wort wie »Klaustrophobie« durfte man hier auf dem Hof nicht in den Mund nehmen. Es war ein Gefühl, das sie ignorieren musste, sonst konnte es allzu leicht passieren, dass es unerträglich wurde.
Erstickend …
Ja, es war wirklich ein gutes Buch gewesen, das beste von den fünfzehn. Aber nicht so gut, dass sie es über sich gebracht hätte, es gleich noch einmal zu lesen. Alle anderen Bücher im Haus hatte sie auch schon gelesen – die, die sie gekauft hatten, und die, die sie mit dem Haus geerbt hatten. Manche sogar mehrmals.
Ihr Blick fiel auf die Tanne, die in der Wohnzimmerecke stand. Dieses Jahr hatte sich Einar ausnahmsweise Mühe gegeben, einen schönen Baum auszusuchen. Der würzige Duft, der durch das kleine Zimmer wehte, erzeugte eine behagliche vorweihnachtliche Stimmung. In der Weihnachtszeit taten sie stets ihr Bestes, um die Dunkelheit zu verjagen – sei es auch nur für kurze Zeit – und die Einsamkeit in willkommene Abgeschiedenheit zu verwandeln. Erla freute sich darauf, dass sie in dieser stillen Zeit des Ausruhens von der schweren Arbeit ungestört bleiben würden, weil bei so viel Schnee unter Garantie niemand so weit ins Landesinnere vordringen würde, es sei denn, er oder sie wäre ungewöhnlich fest entschlossen. Aber bisher war das nie vorgekommen.
Der Baum war noch nicht geschmückt. Der Familientradition zufolge würden sie das am 23. Dezember tun, am Thórláksmesstag, aber es lagen schon ein paar Päckchen darunter. Die Geschenke voreinander zu verstecken wäre sinnlos gewesen, da sie alle schon vor langer Zeit gekauft worden waren. Es war ja nicht so, als könnten sie an Heiligabend noch schnell zum Einkaufen fahren, wenn sie vergessen hätten, etwas zu besorgen, wie etwa ein letztes Geschenk oder Sahne für die...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2020 |
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Reihe/Serie | Die HULDA-Reihe |
Die HULDA Trilogie | Die HULDA Trilogie |
Übersetzer | Andreas Jäger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Mistur |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Börjlind • Die Brücke • eBooks • Hulda Hermannsdóttir • isländische Highlands • Island Noir • Isolation • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mordfall • Polizei Reykjavík • Stieg Larsson • Thriller • Yrsa Sigurdardóttir |
ISBN-10 | 3-641-25168-0 / 3641251680 |
ISBN-13 | 978-3-641-25168-0 / 9783641251680 |
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