Die Knochennadel (eBook)
608 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-25822-1 (ISBN)
Andreas Gruber, 1968 in Wien geboren, lebt als freier Autor mit seiner Familie in Grillenberg in Niederösterreich. Mit seinen bereits mehrfach preisgekrönten und teilweise verfilmten Romanen steht er regelmäßig auf der Bestsellerliste.
1. Kapitel
Mitten im Pariser Zentrum lag die Opéra Garnier – die Pariser Oper –, die trotz des wenigen Platzes, den man ihr zwischen den Häuserschluchten zugestanden hatte, majestätisch über der Stadt thronte.
Vor einigen Jahren hatte man ihr großes 150-jähriges Jubiläum gefeiert. Soviel Peter Hogart wusste, hatte es einige Jahre vor der ursprünglichen Eröffnung in der vorigen Oper einen Bombenanschlag gegeben, bei dem Teile des Gebäudes in Schutt und Asche gelegt worden waren. Das gab es damals also auch schon. Ein neues Opernhaus mit höheren Sicherheitsstandards musste her. Klingt verdammt vertraut. Deshalb hatte eine anonyme Ausschreibung stattgefunden, die schließlich der junge Architekt Garnier gewann.
All das, was es auch heute noch in der Oper zu sehen gab, die prunkvollen Treppen, Balkone, Säulenhallen, Rundbögen, Kronleuchter und Deckenfresken, ging auf Garniers visionäres Denken zurück. Doch so beeindruckend das auch wirkte – aus heutiger Sicht waren die Sicherheitsvorkehrungen alles andere als berauschend. Eine Tatsache, die Hogart bei seinem Besuch in der Oper sofort ins Auge gesprungen war. Das sagte ihm nicht nur seine Erfahrung als Versicherungsdetektiv, mit der er so manchen angeblich unlösbaren Fall geknackt hatte, sondern auch sein gesunder Menschenverstand. Allerdings hielt er den Mund – schließlich war er diesmal rein privat in Paris.
Die letzte deutschsprachige Führung an diesem Nachmittag war schon beinahe am Ende angelangt. Am meisten war Hogart von der riesigen Bühne beeindruckt gewesen, die weit in das Innere des Gebäudes und fünf Stockwerke tief hinunter reichte. Im Moment war noch Sommerpause, und die Handwerker arbeiteten an einem neuen Bühnenbild zur Wiedereröffnung. Außerdem hatte Hogart während der Führung den Schauspielern bei der Probe von Les Misérables zuhören können. Ein Musical! Normalerweise wurde das Haus mit Mozart oder Verdi bespielt, aber offenbar sollte das ein Special Event zur Saisoneröffnung werden. Dafür, dass die Premiere schon an diesem Samstag stattfinden sollte, sah alles noch sehr chaotisch aus.
Nachdem sie auch die Seitenpavillons, das Vestibül und das Pausenfoyer gesehen hatten, stand nun der angebliche Höhepunkt bevor.
»Dort hinten ist es«, wisperte Tatjana aufgeregt.
»Das ist doch nur ein Fake«, bremste Hogart die Euphorie seiner Nichte. »Das Phantom hat es nie gegeben, es ist bloß die Erfindung eines Schriftstellers.«
»Und was macht dich da so sicher?« Sie folgte dem jungen Mann, der die kleine Touristengruppe zu einer holzvertäfelten dunkelbraunen Tür führte. Dort breitete der Guide die Arme aus.
»Und in dieser Loge saß das berühmte Phantom der Oper, um sich die Vorstellungen anzusehen.«
Unter der Bezeichnung 6 Places 5 Louée hing ein Schild.
»Loge du Fantôme de l’Opéra«
Darunter befand sich ein rundes Guckloch, durch das man einen Blick in die Loge erhaschen konnte.
Tatjana presste ihr Gesicht ans Glas. »Siehst du«, zischte sie.
Hogart verdrehte die Augen.
»Und den unterirdischen See gibt es auch«, beharrte sie.
»Der ist genauso eine Legende«, flüsterte Hogart. »Bei den Bauarbeiten sind sie auf Grundwasser gestoßen und haben wegen Statik und Druckausgleich eine große Eisenwanne eingebaut, die gleichzeitig als Wasserreservoir für die Feuerwehr …«
»Danke, ich habe genug Sachbücher darüber gelesen und außerdem den Film gesehen«, unterbrach sie ihn.
»Den von Walt Disney?«, fragte er trocken.
»Nein, den Klassiker von 1925.«
Obwohl Tatjana schon neunzehn war, benahm sie sich in ihrer Begeisterung manchmal wie ein Kind. Und diese junge Frau wollte wie er eine Detektivin werden!
»Durch das Musical Das Phantom der Oper wurde dieses Opernhaus schließlich selbst zur Kulisse eines Stücks«, sagte ihr Guide. »Und damit sind wir am Ende unserer Führung angelangt.«
Hogart blickte auf die Uhr. Es war halb fünf, die Auktion würde bald beginnen.
Nach einem kräftigen Applaus und einigen Euro Trinkgeld löste sich die Gruppe auf. Tatjana fotografierte noch die Loge des Phantoms mit ihrem Handy, knipste nebenbei auch noch den jungen Guide im Profil, und im nächsten Moment war Hogart mit ihr allein.
»Suchen wir Elisabeth?«, schlug er vor.
Tatjana nickte. Sie gingen zurück ins Vestibül und weiter in den hinteren Bereich des Gebäudes, wo die Abteilungen für Technik und Verwaltung lagen.
»Was für ein Prunk«, staunte Tatjana.
Ja, es war erschreckend. Durch die vielen Kronleuchter und Laternen glänzte nicht nur der Marmor in Goldfarben, sondern das gesamte Interieur des Opernhauses. Man bekam den Eindruck, in einem gigantischen Schmuckkästchen zu stehen. Und trotz hunderter Besucher, die mit Fotoapparaten herumliefen, war immer noch so viel Platz. Die offene Bauweise umfasste sowohl die breiten Aufgänge als auch die Balustraden weiter oben, von denen man einen Ausblick auf die Eingangshalle hatte. Wie hatte Garnier es einst treffend formuliert? Die Oper war gebaut worden, um zu sehen und gesehen zu werden.
»Was machen wir nachher, wenn Elisabeth die Auktion beendet hat?«, fragte Tatjana.
»Zuerst einmal aus der Oper abhauen, bevor sie uns mit den anderen Besuchern rauswerfen. Um sechs machen sie hier dicht. Wir könnten auf den Eiffelturm gehen.«
»Und morgen?«
»Das Grab von Jim Morrison auf dem Père-Lachaise besuchen, Sacré-Cœur besichtigen, eine Bootsfahrt auf der Seine unternehmen oder nach Versailles fahren.«
»Oder wenn es regnet eine Vampir- und Geistertour durch die unterirdischen Katakomben von Paris machen und uns das Beinhaus anschauen«, schlug sie vor.
Hogart verzog das Gesicht. Nach diesem Besuch hatte er eigentlich genug von mühsam in Szene gesetzter Mystik. »Oder in ein Antiquariat, eine Tauschbörse oder eine nostalgische Kinovorstellung«, schlug er vor. Schon als Kind hatte er die Schulausflüge immer geschwänzt und stattdessen die Vormittagsvorstellung eines Filmtheaters besucht.
»Wie spannend!« Tatjana hielt ihr Handy hoch, verdrehte jedoch die Augen. »Die Verbindung hier ist zum Kotzen.«
Hogart hob den Blick zur Decke. »Massives Steingebäude.«
»Und wie soll ich bei diesem Funkloch bitte schön online gehen?«
»Gar nicht! Die Vorstellungen sollen ja nicht durch Handys gestört werden.«
»Und das wussten die damals schon, als sie die Oper gebaut haben?«
Hogart schüttelte nur den Kopf. Manche Dinge stellten sich eben erst im Nachhinein als sinnvoll heraus.
»Oh, jetzt geht was«, rief sie. »Haben wir ein Glück, ab morgen wird es schön.«
»Sagt wer? Deine tolle Wetter-App, die gestern schon falschgelegen ist?«
»Apps sind das Werkzeug des modernen Detektivs«, erklärte sie ihm. »Du solltest auch langsam auf ein Computersystem umsteigen.«
»Ich habe eines, das weder abstürzt noch für Viren anfällig ist.«
Sie sah ihn fragend an.
Er bewegte nur die Finger. »Papier und Bleistift.«
»Wie fortschrittlich.«
»Und außerdem arbeite ich hiermit«, er tippte sich an die Stirn, »wie die Detektive in der guten alten Zeit.«
»Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, aber gerade jetzt ist die gute alte Zeit, nach der du dich in zwanzig Jahren zurücksehnen wirst.«
Klar, rede du nur!
Sie waren bis Freitagabend in Paris, ab morgen alle drei nur noch privat. Bloß heute hatte Elisabeth etwas Berufliches zu erledigen, denn an diesem Abend fand in der Opéra Garnier unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien eine Auktion statt. Seiner Meinung nach zwar ein eher merkwürdiger Veranstaltungsort, aber er hatte schon mehrere seltsame Dinge im Lauf seines Lebens erlebt, und außerdem ging es ihn ja auch nichts an. Jedenfalls hatte die Oper den Versicherungsriesen Medeen & Lloyd mit der finanziellen Abwicklung beauftragt. Da Elisabeth für Medeen & Lloyd als Gutachterin für Kunstgegenstände arbeitete und zudem staatlich geprüfte Auktionatorin war, leitete sie die Veranstaltung. Mit französischen Wurzeln seitens einer verstorbenen Großmutter und einem exzellenten Fachwissen über französische Antiquitäten war sie wie geschaffen für diesen Job.
Hogart hatte sie begleitet und in einem Anfall von onkelhaftem Großmut Tatjana mitgenommen. Immerhin war seine Nichte im Sommer neunzehn geworden, wollte schon immer mal Paris sehen, lernte neben ihrer Ausbildung an der Polizeischule in einem Abendkurs an der Volkshochschule Französisch und hatte diese Woche noch Ferien. Ausschlaggebend war für Hogart aber gewesen, dass sie dieses Mal auf einem reinen Urlaubstrip waren und seine kleine Hobby-Detektivin keine Gelegenheit haben würde, ihn wieder mit ihrem kriminalistischen »Wissen« zu beglücken.
»Was wird eigentlich versteigert?«, fragte Tatjana.
»Keine Ahnung, bin privat hier.«
Was glatt gelogen war, denn er wusste ganz genau, was heute unter den Hammer kam: ein etwa achtzehn Zentimeter großes, aus Elfenbein geschnitztes Exponat des französischen Künstlers Bíro aus dem 12. Jahrhundert, das den charmanten Namen Die Knochennadel trug und extrem hässlich war. Der Rufpreis lag bei 950 000 Euro, und bis gestern war die Knochennadel einen Monat lang im Louvre ausgestellt gewesen, um interessierte Käufer zu informieren. Aber das sollte Tatjana ohne ihn herausfinden. Sie war schließlich die Superdetektivin. Außerdem war er froh, sich einmal...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2020 |
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Reihe/Serie | Peter Hogart ermittelt | Peter Hogart ermittelt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Antiquitäten • Beschäftigung Erwachsene • eBooks • Frankreich • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Kunstraub • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Österreichischen Krimipreis 202 • Peter Hogart • Privatdetektiv • Provence • Psychothriller • Psychothriller bücher • Rache • Spiegelbestsellerautor • Thriller • Thriller Neuerscheinungen 2020 Taschenbuch • Versicherungsbetrug |
ISBN-10 | 3-641-25822-7 / 3641258227 |
ISBN-13 | 978-3-641-25822-1 / 9783641258221 |
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