Die Tote in der Sommerfrische (eBook)
416 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-25466-7 (ISBN)
Norderney 1912: Im eleganten Seebad verbringt die feine Gesellschaft der Kaiserzeit die Sommerfrische. Auch die junge, unabhängige Viktoria Berg genießt die Zeit am Meer, bevor sie ihre Stellung als Lehrerin antritt. Doch dann wird sie Zeugin, wie der Hamburger Journalist Christian Hinrichs, der eine Reportage über den Sommer der Reichen und Schönen schreibt, eine ertrunkene junge Frau aus den Wellen zieht. Viktoria kannte die Tote und glaubt nicht eine Sekunde daran, sie habe den Freitod gewählt. Gemeinsam mit Christian stellt sie Nachforschungen an und stößt in der adeligen Seebadgesellschaft der Belle Époque bald auf dunkle Geheimnisse ...
Elsa Dix ist eine aus Norddeutschland stammende Krimiautorin. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Hund in Düsseldorf und verbringt jede freie Minute auf Norderney. Bei Goldmann erscheinen ihre Seebad-Krimis um das sympathische Ermittlerduo Viktoria Berg und Christian Hinrichs.
2
Meeresrauschen
Christians Schuhe sanken im weichen Sand ein. Ganz anders als zu Hause, wo die harten Tritte auf dem Gehweg den Rhythmus vorgaben, wo ein Schritt auf den nächsten folgen musste, immer voran. Christian lächelte bei dem Gedanken. Keine fünf Stunden war er auf Norderney, und schon tat der Zauber der Sommerfrische seine Wirkung. Er war noch nie auf einer Insel gewesen, hatte das Meer noch nie auf diese Weise erlebt. Das war etwas völlig anderes als das Dreckwasser im Hamburger Hafen. In der Stadt waren die Straßen voller Lärm und Menschen, die hierhin und dorthin liefen. Dazu der scharfe Geruch aus den Schornsteinen der Fabriken und den Küchen der Häuser. Auf Norderney gab es nichts Derartiges, nur das Rauschen der Wellen und den Wind, der ihm um die Ohren wehte. Es wirkte wie ein Paradies, weit weg von der modernen hektischen Welt. Und doch gab es sie auch hier, die Angst und die Verzweiflung, die mit der Armut einhergingen. Er hatte die heruntergekommenen Katen mit den Reetdächern gesehen, die Männer mit den wettergegerbten Gesichtern, die Frauen mit dem müden Ausdruck in den Augen. Diese Insel war kein Paradies. Aber in diesem Moment, als er am Strand stand und aufs Meer schaute, war es, als sei all das in den Hintergrund gerückt. Die Zeit schien stillzustehen, und zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich ohne Angst. Frei.
Eine Silbermöwe segelte am Ufer, dort, wo die Wellen wuchtig an den Strand schlugen und einige Männer einen Badekarren ins Wasser schoben. Kinder buddelten im Matrosenanzug im Sand. Sie hatten einen Graben vom Meer gezogen, Wasser lief um eine aufgeschüttete Burg herum. Voller Stolz sahen sie zu ihren Eltern, die in einem Strandkorb saßen und die Sonne genossen. Links hinter dem Familienbad konnte Christian den Strandbereich für die Herren sehen, dann die neutrale Zone und danach das Damenbad. Sogar einen Teil des Seestegs, der weit ins Meer hinausführte, konnte er ausmachen.
Christian fühlte den Wind auf der Haut. Er drückte den Bowler fester auf den Kopf, damit der nicht wegflog. Seine Mütze wäre viel passender gewesen, aber die Eitelkeit hatte ihn dazu bewogen, die Melone aufzusetzen. Sie erschien ihm passender in seiner Stellung. Was Christian an seinen Auftrag erinnerte. Ein Artikel über die »Erholung in der Sommerfrische auf Norderney«. Julius Teubner, sein neuer Redakteur, erwartete den Artikel in spätestens einer Woche. Natürlich mit eingängigen Zitaten hochgestellter Persönlichkeiten, vielleicht sogar vom ehemaligen Reichskanzler Bernhard von Bülow, der die Villa Edda auf der Insel als Sommerresidenz nutzte. Eine knappe Woche hatte Christian Zeit, um Impressionen über das Leben der feinen Gesellschaft zu sammeln. Ausgerechnet er und die Damenillustrierte Frau von Welt. Bislang hatte Christian mit Klatsch und Mode nichts zu tun gehabt, sondern die Kriminalberichte übernommen. Aber ob es ihm gefiel oder nicht, er musste diesen Artikel schreiben, und er musste gut werden, sonst würde er seine neue Stellung schnell wieder los sein. Er fragte sich, ob Teubner auch ein paar Fotografien kaufen würde. Die Frau von Welt experimentierte mit dem Kupfertiefdruckverfahren. Die ersten Ausgaben der Illustrierten mit Fotografien waren eine Sensation gewesen, die Leserinnen waren begeistert über die Bilder in der sonst so faden Bleiwüste.
Also gut, einen Versuch war es wert. Christian nahm die braune Ledertasche ab und holte seinen Fotoapparat heraus. Die Sonne verschwand einen Moment hinter einer Wolke, aber in wenigen Sekunden würde sie wieder da sein. Er presste die Kamera gegen seinen Bauch, um das Bild nicht zu verwackeln, prüfte die Peillinie und wartete auf die Sonne. Als sie glitzernd die Wolken durchbrach, drückte er auf den Auslöser. Perfekt.
In Gedanken schickte er einen Gruß über das Meer zu Onkel John in New York, der ihm die Kamera als Geschenk zur ersten Festanstellung nach dem Volontariat geschickt hatte. Christian hatte es nicht fassen können. Er war siebenundzwanzig Jahre und besaß einen eigenen Fotoapparat. Noch dazu eine Kodak Brownie. So handlich, dass er sie überall mit hinnehmen konnte. Sie war aus stabiler Pappe, etwas ganz anderes als die schweren Plattenkameras. Genau richtig für seine Arbeit als Journalist.
Christians Vater hatte davon natürlich nichts verstanden. Für ihn war sie nur eine technische Spielerei, mit der sein missratener Sohn seine Zeit verplemperte. Wenn es nach dem Vater gegangen wäre, würde Christian wie alle Männer der Familie im Zentralschlachthof arbeiten und nicht bei einer Zeitung. Journalist, das war kein ehrbarer Beruf, vor allen Dingen kein Beruf für einen Arbeitersohn. Und fast hätte sein Vater sich durchgesetzt. Mehr als einmal hatte er Christian gezwungen, Hilfsarbeiten im Schlachthof zu übernehmen. Christian hatte sich ins Unvermeidliche geschickt, Schweinehälften getragen und den blutverschmierten Boden geschrubbt. Aber sobald sich die Möglichkeit bot, hatte er dafür gesorgt, dass er rausgeworfen wurde. Sein Vater hatte getobt vor Wut – der Sohn des Vorarbeiters Hinrichs ein Drückeberger. Christian war es egal, und irgendwann gab der Vater auf. Christian ergatterte eine Stelle als Laufbursche beim Hamburger Fremdenblatt, kam immer seltener nach Hause. Wann sollte er auch? Tagsüber arbeitete er als Laufbursche, nachts half er im Leichenschauhaus aus. Jeden Monat, wenn er sein Kostgeld abgab, schlug ihm die Verachtung des Vaters entgegen.
Vermutlich hätte Christian irgendwann vor Erschöpfung aufgegeben, wenn sein Freund Gustav ihn nicht ermuntert hätte, einen Artikel beim Chefredakteur abzugeben. Der hatte überrascht geschaut, als der Laufbursche vor ihm stand, hatte dann aber doch einen Blick auf die Zeilen geworfen. Christian hatte kaum zu atmen gewagt. Er hatte tagelang an dem Artikel gefeilt. Zu seiner Enttäuschung strich der Redakteur mehrere Sätze durch, schüttelte den Kopf und machte Anmerkungen am Rand. Dann gab er Christian das Blatt zurück. »Das war nichts.« Er deutete auf einen leeren Schreibtisch. »Sie setzen sich dahin und versuchen es noch mal. Und zwar mit echtem Gefühl. Vermeiden Sie den schwülstigen Kram. Ich erwarte in einer Stunde Ihre Überarbeitung.«
Der Artikel wurde niemals gedruckt, aber er war ein Anfang gewesen. Kurt Weiß, der Chefredakteur, bot Christian ein Volontariat an. Noch heute war Christian ihm dankbar für die Chance, die er erhalten hatte. Und die er ohne Grund aufs Spiel gesetzt hatte. Für einen Moment fühlte Christian wieder diese dunkle Leere, die sich in den letzten Tagen so oft in seinem Inneren ausgebreitet hatte. Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit die Bilder vertreiben. Wie er davonlief und der Polizist trotzdem immer näher kam. Der Klang der schrillen Trillerpfeife, die Hand, die sich in seine Schulter krallte. Und dann …
Christian holte tief Luft. Er war nicht in Altona. Hier gab es nur den weichen Sand unter seinen Füßen und das rauschende Meer. Er verstaute den Apparat in die Ledertasche, hängte sie sich um die Schulter und setzte seinen Weg am Strand fort.
Immer seltener traf er auf andere Spaziergänger. Der Strand schien bald menschenleer. Nur die vielen Fußstapfen auf dem feuchten Boden vor ihm verrieten, dass er nicht der einzige Gast auf der Insel war. Kurz überlegte er, eine Aufnahme zu machen und die Einsamkeit auf Film zu bannen. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Dieses Gefühl konnte er nicht durch ein Bild festhalten.
Christian schaute zur Sonne. Er musste langsam umkehren. Es war Zeit, sich im Hotel umzusehen und Interviews mit den Gästen zu vereinbaren. Schließlich war er nicht zum Vergnügen hier, sondern für die Frau von Welt. Ausgerechnet ein Artikel, den Christian aus einer Laune heraus geschrieben hatte, über seine Fahrradtour mit Gustav entlang der Elbe, hatte zu dem Kontakt zum Redakteur der Familienillustrierten geführt. Julius Teubner hatte sich am Erscheinungstag gemeldet. Eine Artikelserie über Reisen in Deutschland war genau das, was ihm schon lange vorgeschwebt hatte. Vor zwei Wochen hätte Christian über dieses Angebot noch nicht einmal nachgedacht. Er hatte sich nach dem Volontariat Kurt Weiß verpflichtet gefühlt. Die Arbeit als Kriminalreporter beim Hamburger Fremdenblatt füllte ihn aus, und er hatte einen Wechsel nie erwogen. Und trotzdem fand er sich nun auf Norderney wieder, und das nur, weil er aus Altona verschwinden musste.
Christian ging langsam zurück, in Richtung Palais-Hotel, in dem er untergekommen war. Ein Familienhotel ersten Ranges – das waren Teubners Worte gewesen, und genau das war es. Ein stolzer Gründerzeitbau mit opulenten Stuckverzierungen, imposant und einschüchternd. Angeblich hatte sogar einmal der Kaiser dort übernachtet, inkognito. Zumindest behauptete das die Hotelbesitzerin, Karen Luers. Aber selbst ohne Kaiser wohnten genug illustre Persönlichkeiten in dem Hotel. Als Christian sich bei der Ankunft eingeschrieben hatte, konnte er einen raschen Blick auf die Gästeliste werfen. Adelige und Fabrikbesitzer. Er war sich bewusst geworden, dass er vermutlich der Gast mit dem geringsten Einkommen war, der dieses Hotel jemals bewohnt hatte.
Er sah hinaus auf das Meer, konnte sich nicht losreißen. Nochmals holte er seine Kamera hervor, richtete sie auf die Wellen. Vermutlich würde die Fotografie unscharf werden, die schnellen Bewegungen des Wassers konnte er nicht festhalten. Das Bild würde kaum für die Frau von Welt geeignet sein. Aber egal – so hatte er etwas, das ihn immer an den heutigen Tag erinnerte. Er fand die optimale Perspektive für das Bild. Die Wellen türmten sich, Schaum bildete sich auf ihren...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2020 |
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Reihe/Serie | Viktoria Berg und Christian Hinrichs ermitteln | Viktoria Berg und Christian Hinrichs ermitteln |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Beschäftigung Erwachsene • eBooks • Geschenk für Mütter Mama Mutti • Geschenk Muttertag • Geschenk Vatertag • Heimatkrimi • historisch • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Kaiserbad • Kaiserzeit • kleine geschenke für frauen • Krimi • Kriminalromane • Krimi Neuerscheinung 2020 • Krimis • Küstenkrimi • Küsten-Krimi • Meer • Neuerscheinungen 2020 Taschenbuch • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Norderney • Nordsee • Nordsee-Krimi • Reihe Reihenstart • Seebad • Sommer • Strand • Urlaubskrimi • Urlaubslektüre • Urlaubsroman |
ISBN-10 | 3-641-25466-3 / 3641254663 |
ISBN-13 | 978-3-641-25466-7 / 9783641254667 |
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