Der chinesische Verräter (eBook)
430 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76320-9 (ISBN)
Gefangener 5995 schafft es, aus einem chinesischen Straflager auszubrechen, wo er als dissidenter Intellektueller fast zwanzig Jahre weggesperrt war. Auf seiner Flucht versucht er, seine alten Kontakte zum britischen MI6 wiederzubeleben. Aber die Welt und vor allem China haben sich verändert. Jeder beobachtet jeden, die Überwachung wichtiger Personen ist flächendeckend. Deswegen rekrutieren die Briten den Journalisten Philip Mangan, der sich einigermaßen frei bewegen kann. Der soll Nr. 5995, Deckname »Night Heron«, wieder aktivieren.
Was Mangan nicht weiß: Sowohl der chinesische Verräter als auch der britische Geheimdienst haben ganz eigene Pläne und Ziele. Und als der MI6 auch noch eine private amerikanische Sicherheitsfirma an Bord holt, beginnt ein faszinierendes und rasend spannendes Katz-und-Maus-Spiel unter den Augen der allgegenwärtigen Überwachungstechnologie.
<p>Adam Brookes, geboren in Kanada, aufgewachsen in Oxfordshire. Studium der Sinologie in London. Als Korrespondent für die BBC in China stationiert sowie in Indonesien und den Vereinigten Staaten, wo er heute mit seiner Familie lebt. Reportagen u.a. auch über Afghanistan, Nordkorea, den Irak.</p>
1
Provinz Qinghai, Westchina.
In jüngster Vergangenheit
01:37.
Gefangener 5995 war, wo er nicht sein durfte. Die Angst gerann ihm im Mund.
Jeden Moment.
Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, Adrenalin ließ seinen Magen kribbeln.
Er stand im Dunkeln. Eine Bogenlampe hinter dem Barackenblock tauchte das Gefangenenlager in silbriges Licht und ließ den Klingendraht wie schillernde Spiralen vor dem Nachthimmel erscheinen.
Jeden Moment kann es so weit sein.
Er drückte den Bauch an die Mauer, die Ziegel kalt an den Händen. Und wünschte sich tiefer ins Dunkel, zwang sich zur Reglosigkeit. Atmete hastig. In der Nase kalte Wüstenluft, staubiger Kerosingeruch. Die Angst im Mund wie ranziger, schmieriger Brei.
Jeden Moment.
Und da war er, kam schwerfällig den staubigen Weg zwischen den Baracken entlang in seiner grauen, konturlosen Uniform und dem braunen, unter dem Gewicht des baumelnden Schlagstocks nach unten rutschenden Ledergürtel, mit weit zurückgeschobener Schirmmütze und zu Boden gerichtetem Blick, in der einen Hand ein Walkie-Talkie, in der anderen eine Zigarette. Die 01:30-Streife.
Aus dem Dunkel beobachtete Gefangener 5995, wie der Mann den Weg entlangschlurfte. Leizi nannten die Insassen die Begriffsstutzigen und korrupten Schwachköpfe, die die Gefängniswache bildeten. Leizi. Donner. Wegen ihrem Gepoltere, ihrem Gehuste und ihrer dauernden Rumbrüllerei. 5995 drückte sich tiefer ins Dunkel. Kaum streifte ihn der Zigarettenrauch, schon traf die Gier ihn wie ein Tritt an die Kehle.
Der Wächter hatte den Block fast erreicht, hinter dem sich Gefangener 5995 verbarg. 5995 hörte seine Stiefel über den staubigen Schotter scharren. Der Wächter sollte nun am Block entlanggehen und sich nach rechts wenden; sein Schatten sollte unter dem grimmig prüfenden Blick der Bogenlampe kleiner werden, das Knirschen seiner Schritte sollte sich entfernen. Der Wächter sollte in die leere Nacht verschwinden, damit der Gefangene seinen gefährlichen Weg unentdeckt fortsetzen konnte – wohin? In die Freiheit? Vor ein Erschießungskommando? Oder zu einer tödlichen Spritze mit einer Dosis Thiopental, um mit der Zeit zu gehen?
5995 wartete auf das Verklingen der Schritte.
Aber es war still. Der Wächter war stehen geblieben.
Das Walkie-Talkie krächzte, dann ein elektronisches Piep.
5995 hätte seinen beträchtlichen Bauch, die dicken Oberschenkel, den fleischigen Nacken, die borstigen Haare und die muskulösen Hände gern bis zur Unsichtbarkeit zusammengepresst. Der Schotter knirschte, als würde der Wächter sich langsam umdrehen oder sein Gewicht verlagern. Dann Rauschen und wieder Krächzen. Piep.
Stille.
5995 atmete ein klein wenig aus und wieder ein. Ruhig. Ruhig. Bleib ruhig.
Dann wieder langsame, knirschende Schritte. 5995 schloss die Augen und spürte den Schweiß auf der Kopfhaut prickeln. Die Schritte kamen näher.
Der Wächter entfernte sich nicht – entgegen monatelanger Gewohnheit und aller Erkenntnis zum Trotz, die ein erfahrener Arbeiter wie 5995 hatte gewinnen können. Der Wächter machte alle Einsichten zunichte und kam direkt auf ihn und seine unzulängliche Deckung zu. Dieser Hurensohn. Hatte 5995 beim Auskundschaften eine Überwachungskamera übersehen? Oder hatten die heimtückischen und hinterhältigen Kerle, mit denen er seit zwei Jahrzehnten in diesem Arbeitslager lebte, ihn denunziert?
Die Schritte kamen näher, Stiefel auf Beton, Schotter, Splitt.
Angst ließ seinen Atem stocken, zerspellte seine Gedanken. Er presste sich an die Wand und erdrückte das überwältigende Verlangen, zu flüchten, zu rennen, sich zu bewegen.
Der Wächter trat vom Weg und aus dem Licht, den Rücken 5995 zugewandt. Wo er stand, leuchtete es scharlachrot auf, dann Funkenflug.
Seine Zigarette.
Der Wächter schien nach etwas in seiner Kleidung zu tasten. Stille, dann ein nasses Zischen, ein Plätschern und der schwache Geruch nach Ammoniak und Alkohol.
Er pinkelt, dachte 5995. Er pinkelt an die Wand.
Es plätscherte nur noch sporadisch, hörte auf. Der Wächter schloss die Hose und hustete – ein entsetzliches Bellen in der Dunkelheit. 5995 stellte sich vor, in Ton gehüllt und für immer still und reglos zu sein, begraben wie ein Soldat der Terrakotta-Armee und unsichtbar seit der Zeit von Kaiser Qin Shihuangdi.
Der Wächter gähnte, kramte in seiner Tasche herum und zog ein Päckchen Zigaretten heraus. 5995 hörte das Zellophan knistern. Der Wächter schüttelte das Päckchen, hielt es gegen das Licht der Bogenlampe, zog mit Zeigefinger und Daumen eine krumme Zigarette heraus und schob sie sich zwischen die Lippen. Jetzt das Feuerzeug, sein kratziges Snick. 5995 blinzelte in die Flamme, sah den Wächter den Kopf in den Nacken legen, hörte ihn geräuschvoll einatmen. Der Wächter zerknüllte das leere Päckchen, wandte den Oberkörper um, hob den Arm und warf es in die Dunkelheit. Es traf 5995 am Kinn und ließ ihn reflexhaft zurückzucken, als wäre er geschlagen worden. Das Päckchen fiel zu Boden, der Wächter fuhr herum und spähte in die Finsternis. Er kann mich nicht sehen, dachte 5995. Er hat kein Nachtsichtgerät. Der Wächter neigte den Kopf zur Seite und spähte erneut. Es war nun ganz still.
Das Walkie-Talkie krächzte.
Der Wächter sah nach unten, drückte die Sprechtaste, führte das Gerät mit halbherziger Bewegung zum Mund, murmelte etwas hinein und ließ es los. Seufzend wandte er sich wieder ab, seine Schritte entfernten sich in die Nacht.
01:42. Achtzehn Minuten bis zur nächsten Streife.
Beweg dich.
Überraschend anmutig und lautlos für einen Mann seines Gewichts rannte Gefangener 5995 durch das schonungslos grelle Licht der Bogenlampe über den Weg zum fensterlosen Kesselhaus gegenüber. Die graue Tür, dachte er beim Rennen, darf nicht abgeschlossen sein, wenn ich leben soll. Er bremste ab und drückte die Klinke.
Die Tür öffnete sich. Sein Schwung trug ihn über die Schwelle, und er stand in dem zweistöckigen Gebäude. Es war schummrig und kalt, der Beton unter seinen Füßen war feucht, es roch nach Schwefel. Vorsichtig schloss er die Tür und gewöhnte schwer atmend seine Augen an die Dunkelheit.
Vor sich erkannte er einen Kohlenhaufen, dahinter eine Türöffnung, durch die das Zischen und Ticken des Kessels drang. Der Kesselraum war voller Rohre und nur von einer Glühlampe beleuchtet; am Boden Pfützen. Er blieb im Durchgang stehen und lauschte. Nichts. Geräuschlos passierte er den Kessel und schob einen blickdichten Plastikvorhang beiseite. Dahinter befand sich ein düsterer, schmutziger Gang. Und an dessen Ende eine Flügeltür.
Beweg dich.
Behutsam öffnete er die Flügeltür und spähte in ein nur umrisshaft sichtbares Büro mit sechs oder sieben Schreibtischen und düsteren Aktenschränken, das nach alter Pappe und Zigaretten roch. Er stand da und sammelte sich. Großer Gott, dachte er, das könnte klappen. Das könnte …
Eine Hand auf seiner Schulter.
Adrenalin durchzuckte seine Muskeln, Wut und Schreck flackerten in seinem Hirn, und 5995 fuhr herum, griff blind nach Kleidung, Fleisch, Haaren, warf sein Gewicht nach vorn und erstickte einen Schrei in der Kehle. Sein Gegenüber leistete keinen Widerstand, und 5995 stieß den Mann mit voller Wucht gegen die Wand. Der ächzte beim Aufprall und flüsterte bebend:
»Bisschen weniger Lärm, wenn ich du wäre.«
Die eine Hand am Hals des Mannes, die andere zum Zuschlagen erhoben,...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2019 |
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Übersetzer | Andreas Heckmann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Night Heron |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | based on a true story • Britischer Geheimdienst • China • Geheimdienst • John le Carré • Krimi Neuerscheinungen 2019 • MI6 • Nach einer wahren Begebenheit • Night Heron deutsch • Ostasien Ferner Osten • Polit-Thriller • sis • Spionage • ST 5005 • ST5005 • suhrkamp taschenbuch 5005 • Suspense • Thriller • Tiananmen |
ISBN-10 | 3-518-76320-2 / 3518763202 |
ISBN-13 | 978-3-518-76320-9 / 9783518763209 |
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