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Prozesse. Über Franz Kafka. (eBook)

eBook Download: EPUB
2019
384 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26547-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Prozesse. Über Franz Kafka. - Elias Canetti
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'Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk.' - Elias Canettis Schriften über Franz Kafka
'Er ist', notiert Elias Canetti 1947, 'der Einzige, der mir wirklich nahe geht'. Und schreibt später, nur kurz vor seinem Tod: 'Ich habe ihn geliebt'. Die Rede ist von Franz Kafka. Die hier zusammengeführten Schriften - bereits publizierte sowie erstmals zugänglich gemachte Materialien aus dem Nachlass - erlauben es, Canettis Äußerungen zu Kafka in den Prozess seiner Selbstvergewisserung als Schriftsteller einzuordnen. Die an Kafka verhandelten Kernthemen erweisen sich immer wieder als seine ureigensten. Erstmals zeigt und deutet dieses Buch die Bindung Canettis an diese Zentralgestalt der Moderne.

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

 

 

Zu dieser Ausgabe

 

Als Franz Kafka am 3. Juni 1924 im Lungensanatorium Hoffmann in Kierling, zwölf Kilometer donauaufwärts von Wien, im Alter von vierzig Jahren starb, war er als Schriftsteller so gut wie unbekannt. Zu Lebzeiten waren nur wenige Texte von ihm erschienen; dass er postum zum wohl bekanntesten Dichter des 20. Jahrhunderts werden sollte (mittlerweile geradezu global), war völlig unabsehbar. Er hatte seinen Freund Max Brod zum Nachlassverwalter eingesetzt, mit der Bitte, alle seine Papiere zu vernichten. Auch wenn an der Aufrichtigkeit dieser Bitte mit Fug gezweifelt werden kann (und, mit glücklichen Folgen für die lesende Menschheit, nicht zuletzt von Max Brod selbst gezweifelt worden ist): Dass Kafkas Schreiben einst zur gültigen ästhetischen Signatur der inneren und äußeren Verfasstheit eines ganzen literarischen Zeitalters – der klassischen Moderne – werden sollte, konnte man 1924 nicht wissen.

Elias Canetti war 1924, als Kafka starb, neunzehn Jahre alt, lebte nach Stationen in Manchester, Zürich und Frankfurt/Main nun in Wien, seit seiner Kindheit in Rustschuk (Bulgarien) der europäische Bezugspunkt der Familie, und studierte dort Chemie. Von Kafka las er nach eigenem Bekunden zuerst »Die Verwandlung« und den »Hungerkünstler«, auf die er im Winter 1930/31, während der Arbeit an seinem einzigen Roman »Die Blendung«, in der Buchhandlung Lanyi in Wien gestoßen war. Die Lektüre dieser beiden Erzählungen, der er Einfluss auf den weiteren Verlauf der »Blendung« zugestand, markiert den Beginn seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Kafka, deren Spuren in diesem Buch versammelt sind.

Diese umfassen, außer den zu Canettis Lebzeiten publizierten in sich abgeschlossenen Texten – der englischen Rede zu »Proust – Kafka – Joyce« von 1948, dem Essay »Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice« von 1968 und der Hebelpreisrede über »Hebel und Kafka« von 1980 –, vor allem eine große Menge von Aufzeichnungen (die früheste von 1946, die späteste von 1994, sechs Monate vor seinem Tod), von denen Canetti nur die wenigsten in die zu Lebzeiten publizierten Aufzeichnungen-Bände aufgenommen hat. Der größte Teil dieser nachgelassenen und hier zum ersten Mal publizierten Aufzeichnungen zu Kafka wiederum stammt aus dem Jahr 1968, als Canetti in London in zwei sehr intensiven Schreibphasen (von Februar bis April und dann wieder von Juli bis September) an den beiden Teilen seines Kafka-Essays arbeitete, die im Juni und Dezember desselben Jahres in der von Rudolf Hartung herausgegebenen »Neuen Rundschau« erschienen.1

Dass es 1968 zu diesem Essay und damit zu einer weit über diesen hinausgehenden ebenso intensiven wie extensiven Beschäftigung Canettis mit Kafka kam, war zunächst wohl mehr oder weniger Zufall: Die »Neue Rundschau« hatte in ihrer Septembernummer von 1967 eine Reihe von Briefen Kafkas an Felice aus dem Jahr 1912 vorabgedruckt und auf das Erscheinen der ersten Gesamtedition der Briefe im S. Fischer Verlag noch im selben Herbst hingewiesen. Die Septembernummer enthielt auch einen Text von Canetti, »Besuch in der Mellah« (ein Kapitel aus »Die Stimmen von Marrakesch«), weswegen Hartung ihm das Heft wohl zugeschickt hatte. Canetti war von Kafkas Briefen – es waren in dieser Frühphase der Beziehung zu Felice noch genuine Liebesbriefe – sofort sehr »ergriffen« (2.9.1967, S. 55).2 Neben Kafkas »Zärtlichkeit« in diesen Briefen und deren »Zaghaftigkeit« (im Kontrast zu seiner eigenen »Heftigkeit und Hitze«) verzeichnet er jedoch augenblicklich auch den Zusammenhang zwischen dem Briefwechsel und Kafkas literarischer Produktivität – der Vorabdruck enthielt drei Briefe aus der Zeit, in der Kafka an der »Verwandlung« schrieb. »Das Herz blieb mir stehen, als ich las, um welche Geschichte es sich handelt«, notiert Canetti. Der eigentliche Vorschlag, über die Briefe zu schreiben, muss dann wohl von Rudolf Hartung gekommen sein, und das einzige, was Canetti noch zögern lässt, ist, dass er die Kafka-Forschung nicht kennt (28.11.1967, S. 57).

Nachdem er sich bei Hartung die Lizenz für seine wohlverteidigte »Naivität« gegenüber der akademischen Kafka-Exegese geholt hat, macht er sich an die Arbeit und füllt in den nächsten neun Monaten insgesamt 14 Hefte, die mit »Aufzeichnungen und Tagebücher« überschrieben sind, manchmal zusätzlich mit »Kafka« oder »viel zu Kafka«, und aus denen der Essay hervorgegangen ist. Neben umfangreichen Exzerpten aus Kafkas Gesamtwerk und Entstehungsvarianten des Essays enthalten sie weiterführende Reflexionen zu Kafka, aber auch Notate persönlicher, teilweise sehr persönlicher, und zeitgeschichtlicher Natur, die insgesamt einen aufschlussreichen Einblick in Canettis multiple Schreibwerkstatt bieten. Gleichzeitig mit den Kafka-Heften (später versammelt in Schachtel 25a des Nachlasses) arbeitete er an weiteren Heften mit ›regulären‹ Aufzeichnungen (versammelt in Schachtel 15) und am Manuskript des Essays. Die Grenzen zwischen den Aufzeichnungstypen freilich verschwimmen. Obwohl Canetti in anderen Texten und Interviews wiederholt behauptet hat, zwischen Tagebüchern und Aufzeichnungen streng zu trennen,3 war das offenbar in der Praxis nicht der Fall. Auch außerhalb der Kafka-Hefte gibt es Aufzeichnungen zu Kafka – manchmal von Canetti eigens mit »K« gekennzeichnet –, und die Kafka-Hefte enthalten zu einem nicht unwesentlichen Teil auch persönliche Reflexionen sowie gelegentliche Kommentare zu politischen Ereignissen. »1968: sein Kafka-Jahr. Es war das Jahr der Studenten in der Sorbonne, des Prager Frühlings und der August-Katastrophe. Ein wildes, demonstratives, tragisches Jahr. Ein Jahr der abgöttischen Liebe und Verehrung, für Kafka«, notiert Canetti noch 25 Jahre später (14.9.1993, S. 241), und kurz darauf: »Ende der Kleinheits-Lehre. Periode Kafka – Hera beschlossen.« (7.11.1993)

Die noch in diesen späten Aufzeichnungen geltend gemachte und an den Textträgern aus dem Jahr 1968 unmittelbar ablesbare Verflechtung der Kafka-Phase mit ›anderen Prozessen‹ (persönlichen und politischen) wurde in der vorliegenden Ausgabe respektiert, das heißt, es wurde nicht versucht, die Ebenen zu trennen oder die Kafka-Hefte um scheinbar ›nicht zur Sache Gehöriges‹ zu erleichtern. Im Kapitel »Aus der Arbeitszeit am Essay« (S. 53ff.) wurden Aufzeichnungen aus den Kafka-Heften mit Aufzeichnungen aus Schachtel 15 in chronologischer Reihenfolge kombiniert. Weggelassen wurden lediglich Canettis umfangreiche Exzerpte aus Kafka-Texten sowie zahlreiche Entstehungsvarianten zu einzelnen Passagen seines Essays, die für diese Leseausgabe zu redundant gewesen wären und deren Edition einer historisch-kritischen Ausgabe vorbehalten bleiben muss. Was Canettis Sache 1968 war, ist allerdings aus der auf diese Weise sichtbar werdenden Entstehungsgeschichte des Essays neu zu bestimmen. Im Sinne Canettis dürfte das schon insofern sein, als er – im Gegensatz zu Kafka – seinen Nachlass erhalten wissen wollte: Er hat ihn selbst in Schachteln gepackt und vor seinem Tod der Zentralbibliothek Zürich übergeben.

 

 

Canettis Prozesse


 

»Von den Gebilden führt kein Weg zurück zu den Prozessen«, notiert Canetti Anfang Februar 1968: »Bedenke die Prozesse, nichts sonst.« (S. 65)

Bereits in dieser frühen Arbeitsphase ist die Rede von den »Prozessen« mehrdeutig. Bezieht sie sich im gegebenen Zusammenhang zunächst auf Kafkas Prozess-Roman, den darin geschilderten Gerichtsprozess und auf jenen seinem Essay den Titel gebenden »anderen Prozess«, als den Canetti die unglückliche Ver- und Entlobungsaffäre zwischen Kafka und Felice Bauer interpretiert, so gilt sie mit dem Verhältnis von »Gebilden« und »Prozessen« doch gleichzeitig in einem allgemeineren Sinn dem Verhältnis der Werke zu den Prozessen, aus denen sie entstehen. Führt von den »Gebilden kein Weg zurück zu den Prozessen«, so kann man doch, wenn man »nur die Prozesse bedenkt«, vielleicht den umgekehrten Weg beschreiten.

Dass Kafkas Verlobung mit Felice zur Verhaftung Josef K.s im ersten Kapitel des Prozess-Romans geworden sei, die Entlobung im Askanischen Hof in Berlin (von Kafka selbst als »Gericht« über ihn bezeichnet) zur Hinrichtung Josef K.s im letzten Kapitel, ist die entsprechende Kernthese des Essays, die Canetti unter anderem mit Tagebucheinträgen Kafkas stützt. Er sei sich »sehr wohl dessen bewusst, wie anfechtbar solche Eingriffe in gültige Dichtung« seien, konzediert er, und über den »Prozess« als Ganzes sei damit überhaupt nichts ausgesagt. Bei der »unfassbaren Originalität Kafkas« sei es jedoch »von Bedeutung, den Vorgängen in ihm nachzugehen und so vielleicht dem Wesen wahrhaftiger dichterischer Prozesse näherzukommen.« (31.7.1968, S.161) Diese »dichterischen Prozesse« sieht er wiederum in Zusammenhang mit dem »Prozess der Selbsterkenntnis«, den er in Kafkas Briefen an Felice dokumentiert findet (25.2.1968, S. 96).

Für Literaturwissenschaftler ist die biographische Annäherung an einen literarischen Text, wie Elias Canetti sie in seinem Essay und auch in seinen Aufzeichnungen betreibt, eine Art Todsünde – droht sie doch das, was Adorno noch den »objektiven Gehalt der Gebilde« genannt hätte, auf die subjektive Befindlichkeit und die Lebensprobleme ihres Autors zu reduzieren, deren Ausdruck sie seien. Die biographische Lesart, so das Credo der akademischen Philologie, verfehle durch die Rückführung der Texte auf ihren ›Sitz im Leben‹ des Autors gerade das, worin sie über die Beschränkungen dieses individuellen Lebens hinausreichen: das, worin sie der Sache der Literatur mehr verbrüdert oder verschwistert sind als dem Leben des Autors, und damit das,...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angst • Antisemit • Aufzeichnung • Brief • Brod • Deleuze • Einflussangst • Essay • Exil • felice • Guattari • Jude • Judentum • Kafka • Kleine • Liebe • Literatur • Literaturwissenschaft • Poetik • Poetologie • Prag • Prozess • Schreiben • Schreibprozess • Tagebuch • Vorbild • Zionismus
ISBN-10 3-446-26547-3 / 3446265473
ISBN-13 978-3-446-26547-9 / 9783446265479
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