Die im Dunkeln sieht man nicht (eBook)
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491145-8 (ISBN)
Ursprünglich wollte Andreas Götz seine Kriminalromane in der Nazi-Zeit ansiedeln. Doch bei der Recherche wurde ihm schnell klar, dass sich die 1950er Jahre viel besser eignen. Ein gesellschaftliches Klima von Schuld, Verdrängung und Selbstbetrug, wie es in dieser Zeit herrschte, bringt alle Voraussetzungen mit, die ein fesselnder Roman braucht. Der Handlungsort München hat sich nicht zuletzt deshalb aufgedrängt, weil Andreas Götz ganz in der Nähe als freier Autor lebt und arbeitet und daher Land und Leute gut kennt. Seine Trilogie umfasst die Jahre 1950, 1955 und 1958.
Ursprünglich wollte Andreas Götz seine Kriminalromane in der Nazi-Zeit ansiedeln. Doch bei der Recherche wurde ihm schnell klar, dass sich die 1950er Jahre viel besser eignen. Ein gesellschaftliches Klima von Schuld, Verdrängung und Selbstbetrug, wie es in dieser Zeit herrschte, bringt alle Voraussetzungen mit, die ein fesselnder Roman braucht. Der Handlungsort München hat sich nicht zuletzt deshalb aufgedrängt, weil Andreas Götz ganz in der Nähe als freier Autor lebt und arbeitet und daher Land und Leute gut kennt. Seine Trilogie umfasst die Jahre 1950, 1955 und 1958.
Die vielen Personen machen die Handlung zwar kompliziert und unübersichtlich, aber auch irgendwie glaubwürdig …
Ein spannender, eigentümlich fremder Kosmos, in den Andreas Götz (...) hier eingetaucht ist.
Man merkt wie sehr ihn die Recherche für ›Die im Dunkeln sieht man nicht‹ begeistert hat.
Montag, 3. April 1950
Geboren aus Sonne, Wind und Wasser, so kommen ihm die beiden kleinen Geschöpfe vor. Wie der Meeresschaum ihre nackten Beinchen umspült. Wie der Wind ihre blonden Löckchen umzärtelt und ihnen das gicksende Lachen von den Mündern pflückt. Mami! Papi! Guckt mal! Sie springen gleichzeitig in die auslaufende Welle, dass es nur so spritzt. Gundi und Gerti – er kann es nicht fassen, seine Mädchen sind wieder da! Etwas löst sich in ihm. Etwas fällt von ihm ab. Heidi, im Strandkorb neben ihm, ihre gebräunten schlanken Beine, die feingliedrige Hand, die locker auf ihrem Knie liegt. Er fasst danach. Spürt sie. Hält sie. Ist alles immer da gewesen? Alles ist gut. Und so bleibt es jetzt. Für immer.
»Mutti, warum weint der Mann?«, flüsterte ein Junge.
Karl wusste nicht, wo er war. Eben noch am Ostseestrand, zur Sommerfrische mit der Familie, aber jetzt …? Sah aus wie ein Zugabteil. Hastig wischte er sich über die Augen. Er vermied es, die Mutter und den Jungen am Fenster anzusehen. Floh in den Speisewagen. Zündete sich eine Zigarette an. Sog gierig den Rauch ein. Wie er diese Träume hasste.
Das Rattern der Räder unter ihm, das Hin und Her der Menschen, die Stimmen, das teils laute, teils verhaltene Lachen – all das machte ihn nervös. Wann waren sie endlich in München? Es war kurz vor halb acht, und sie waren noch nicht einmal in Augsburg. Die Zeit, die sie an der Zonengrenze verloren hatten, holten sie nicht mehr auf. Er war ungeduldig und zugleich dankbar für den Aufschub. Wünschte sich, dass der Zug niemals ankäme. Dass er verlorenginge im Ungefähren zwischen Abfahrt und Ankunft.
Hinter den mit Wassertropfen gesprenkelten Scheiben zog die Landschaft vorüber. Der Himmel hing heute tief. Der Frühling war hier schon weiter als in Berlin. Bäume und Büsche schlugen aus, noch eine oder höchstens zwei Wochen, dann war alles grün.
Er schaute auf die Uhr. Kurz vor acht. Jetzt heizte Tante Frederike den Ofen an oder vielleicht setzte sie bereits Kaffeewasser auf; Onkel Herbert stopfte seine Meerschaumpfeife, die er nach dem Frühstück schmauchen würde. Wilhelm und Rudolf wälzten sich noch in den Federn. Fünf Jahre, so war ihm vor kurzem klar geworden, nächtigte er selbst inzwischen auf dem durchgelegenen Sofa in der Küche, während Heidis Onkel und Tante in seinem Ehebett schliefen und ihre erwachsenen Söhne im Mädchenzimmer, in den viel zu kleinen Betten. Was hatte er mit diesen Leuten zu schaffen, deren Dialekt er bis heute nur mit Mühe verstand? War es nicht seine Wohnung? Nein, es war längst die ihre, und das wussten sie.
Karl holte die Zigaretten aus der Jacketttasche, schüttelte eine heraus, ließ sein altes Wehrmachtfeuerzeug aufschnappen. Knisternd ergriff der Tabak die Flamme. Der Rauch brannte angenehm auf der Zunge. Niemand wusste, dass er heute ankam, nicht mal Georg. Er konnte es sich also immer noch anders überlegen und gleich wieder den Nachtzug zurück nach Berlin nehmen. Dann wäre es fast so gewesen, als hätte er Berlin nie verlassen.
Er kehrte ins Abteil zurück. Die Frau am Fenster lächelte verlegen, der Junge beobachtete ihn aus dem Schutz der mütterlichen Achselhöhle.
Karl zwinkerte ihm zu und ließ die Verschlüsse seines Koffers aufschnappen.
»Will der junge Mann vielleicht ein Stück Schokolade?«
Noch ehe der Zug in den Bahnhof einfuhr, stellte Karl sich mit seinem Koffer in den Gang. Jetzt konnte er es kaum mehr erwarten, eine andere Luft zu atmen. Er zog das Fenster herunter, nahm den Hut ab und steckte den Kopf hinaus. Der Fahrtwind zerzauste ihm das Haar. Einzelne Regentropfen trafen sein Gesicht.
Quietschend und schnaufend kam der Zug im Hauptbahnhof zum Stehen. Karl drängte mit den anderen Fahrgästen nach draußen. Allerlei Volk lungerte auf dem Bahnsteig herum. Kofferträger, Schlepper, Taschendiebe. Einer hatte ihn auch gleich aufs Korn genommen. Ein hagerer Kerl in einem abgewetzten Mantel. Karl vermied Augenkontakt und beschleunigte die Schritte.
»Zimmer?«, redete ihn ein junger Mann von der Seite an. »Zimmer gefällig? Billig!«
»Einen öffentlichen Fernsprecher suche ich«, sagte Karl, doch der junge Mann war schon beim Nächsten.
In der notdürftig geflickten Schalterhalle hingen an der Front zwei meterlange Fahnen: eine weißblaue und eine schwarz-rot-goldene. Von draußen drang der Lärm von Baumaschinen herein: Bagger, Presslufthämmer, Lastwagen. Karl fand ein Telefon. Das Münzgeld hatte er lose in der Hosentasche. Während er sich nach dem Hageren im abgewetzten Mantel umsah, kramte er den Zettel mit Georgs Adresse hervor.
»Bei Borgmann«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Hier spricht Karl Wieners. Ist Georg Borgmann zu sprechen?«
»Augenblick, bitte.«
Der Hagere stand jetzt bei einem anderen, sie redeten. Über ihn?
»Karl!«, rief Georg aufgeregt in sein Ohr. »Bist du’s wirklich?«
»Höchstpersönlich.«
»Ich hab nicht mehr dran geglaubt, dass du dich meldest. Kommst du nach München?«
»Ich bin schon da. Eben angekommen.«
»Was? Ja, warum –? Dann gehst du wahrscheinlich erst mal heim zu deinen Leuten, oder?«
Heim? Seltsames Wort. Und wer sollten seine Leute sein?
»Eigentlich hätte ich lieber gleich dich gesehen. «
»So. Na, komm einfach vorbei, dann lernst du auch gleich die anderen kennen. Es ist Schellingstraße 60, genau zwischen der Osteria Italiana und dem Schellingsalon. Aber lass dir Zeit. Wir sind noch in einer Besprechung.«
Karl hängte ein.
Waren die beiden dunklen Gestalten noch da? Er schaute sich nach allen Seiten um. Zu sehen waren sie nicht mehr.
Das Klappern der Schreibmaschine drang bis ins Stiegenhaus. Karl musste ihm nur folgen, es führte ihn vor eine Tür, an der auf einem Schildchen aus Emaille der Name Borgmann stand. Er drückte den Klingelknopf.
»Nur herein«, hörte er von drinnen jemanden rufen, »es ist offen!«
Hinter der Tür tat sich eine großzügige Diele auf. An der Garderobe hingen mehrere Mäntel und Hüte. Eigenes Heim, Glück allein, las er goldgerahmt und hinter Glas. Vor ihm lagen Bauklötze, wie sie auch seine Mädchen gehabt hatten. Die Schreibmaschine verstummte und hob gleich wieder an.
Georg kam ihm entgegen und strahlte übers ganze Gesicht.
»Da bin ich«, sagte Karl verlegen.
Georg klopfte ihm auf die Schulter. »Ja, da bist du. Komm rein, altes Haus.«
In der Küche hing dicker Zigarettenqualm unter der Decke. Zwei Männer saßen an der langen Seite eines Küchentisches, eine Frau an der schmalen, sie tippte etwas ab, das jemand handschriftlich aufgesetzt hatte. Sie hielt kurz inne, schaute hoch und grüßte, dann glitten ihre Finger weiter über die Tasten.
»Die beiden Herren sind« – Georg deutete auf die Männer, die aufgestanden waren – »Hermann Gabler und Reinhard Schollgruber. Meine Mitherausgeber des Blitzlichts. Ich bin in Personalunion auch noch Schriftleiter. Und diese Rose ohne Dornen«, er deutet auf die Frau, »ist Inge, mein Eheweib und bis auf weiteres Redaktionssekretärin.«
Karl hatte den Koffer abgestellt und seinen Mantel, den er auf dem Arm trug, über eine Stuhllehne gehängt. Nun schüttelte er Hände.
»Hier wird noch gearbeitet«, sagte Georg, »da drücken wir uns lieber. Ihr kommt eine Zeitlang ohne mich aus, oder? Hast du Hunger?«
Im gut besuchten Lokal ein paar Häuser weiter ließ Karl sich von Georg noch einmal erklären, was es mit dem Zeitschriftenprojekt auf sich hatte. Das Blitzlicht sollte ein neuartiges illustriertes Wochenmagazin für den Herrn von heute werden, mit Politik, Gesellschaft, Unterhaltung und einer Prise Erotik. »In der Mitte einer jeden Ausgabe wird ein attraktives Fräulein über eine Doppelseite abgebildet, sinnlich, aber geschmackvoll. Das Blitzlicht-Mädel der Woche. Dazu eine kleine Geschichte, niveauvoll, aber mit Schuss, wenn du verstehst.« Georg grinste, und Karl wunderte sich. Bis ihm einfiel, dass Georg ja auch auf dem Schulhof Schmuddelbilder für fünf Pfennige verkauft hatte.
Eine Bedienung brachte eine Porzellanschüssel, in der sechs Weißwürste in dampfendem Wasser schwammen, dazu einen Korb mit Brezen und ein Töpfchen mit süßem Senf. Karl lief das Wasser im Mund zusammen. Die ersten Weißwürste seit zwölf Jahren.
»Dass wir unsere Sitzungen in meiner Wohnung abhalten, ist natürlich nur provisorisch«, erklärte Georg beim Essen. »Wir suchen fieberhaft nach passenden Räumen. Mit einer Druckerei und einem Pressevertrieb stehen wir gerade in Verhandlungen. Sobald das alles geklärt ist, können wir richtig loslegen.«
»Und was mach ich?«
»Reporter. Ich kann dir leider noch keine feste Stelle anbieten. Nur Spesen und, je nach Kassenlage, noch was oben drauf.«
Das ist besser als alles, was ich im Moment habe, dachte Karl, aber nicht ganz das, was Georg versprochen hat. Trotzdem schwieg er und tunkte bloß ein Stück Wurst in den süßen Senf.
Georg dämpfte die Stimme, als er sagte: »Ich hab auch schon eine interessante Geschichte für dich.«
»Da bin ich ja gespannt.«
»Also, pass auf. Stell dir vor: München, Königsplatz, Führerbau. Es ist das Jahr fünfundvierzig, Ende April. Die Nazis sind verduftet, die Amis noch nicht da. Die Stadt liegt da wie eine alte Schlampe und macht die Beine breit. Und was tun die Münchner? Sie stürzen sich natürlich auf sie mit Gebrüll.«
»Sehr plastisches Bild.«
»Es wird geplündert, was das Zeug...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2019 |
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Reihe/Serie | Die Karl-Wieners-Reihe | Die Karl-Wieners-Reihe |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 1950 • 50er Jahre • Buchgeschenk • gestohlene Kunst • Haidhausen • Historischer Kriminalroman • Krimi • Kriminalroman • Kunst • Kunstraub • Mechtild Borrmann • München • München-Krimi • Nachkriegszeit • Nazis • Raubkunst • Schwarzmarkt • Spannung • Stunde Null • Volker Kutscher • Weihnachten • Weihnachtsgeschenk • Wirtschaftswunder • Zeitgeschichte • Zeitgeschichte Neuerscheinungen • zeitgeschichtliche Kriminalromane • zeitgeschichtliche Krimis |
ISBN-10 | 3-10-491145-2 / 3104911452 |
ISBN-13 | 978-3-10-491145-8 / 9783104911458 |
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