Totenland (eBook)
320 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1728-8 (ISBN)
Von Opfern und Tätern.
Ende April 1945. Der Krieg geht zu Ende. Nachdem er schwer verwundet wurde, ist Jens Druwe aus Berlin nach Schleswig-Holstein abkommandiert worden. Hier soll er als Polizist für Ordnung sorgen. Als ein hoher Funktionär der NSDAP ermordet wird, wollen seine Vorgesetzten sogleich den ersten Verdächtigen, einen entflohenen Häftling, aburteilen. Doch Druwe stellt sich gegen die Profiteure des untergehenden Regimes. Ihm zur Seite steht allein die Schwester des Verdächtigen, die wie er voller Mut und Hoffnung den Kampf gegen einen übermächtigen Gegner aufnimmt ...
Ein Mordfall vor einer ungewöhnlichen historischen Kulisse - und ein Ermittler, der dem Grauen des Krieges eines entgegenhält: die Liebe zur Wahrheit.
Michael Jensen wurde 1966 im Norden Schleswig-Holsteins geboren. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg und Flensburg. Im Hauptberuf ist er als Arzt und Therapeut tätig. Seine beruflichen Erfahrungen hat er in zwei Sachbüchern zusammengetragen. Dabei interessieren ihn besonders die seelischen Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs, vor allem bei den Nachkommen von Opfern und Tätern. »Totenland« ist sein erster Kriminalroman. Für sein literarisches Schreiben hat er ein Pseudonym gewählt.
2
In einem Theater brach hinter den Kulissen Feuer aus.
Der Pierrot trat an die Rampe, um das Publikum davon zu unterrichten.
Man glaubte, es sei ein Witz, und applaudierte.
Er wiederholte seine Mitteilung; man jubelte noch mehr.
So, denke ich mir, wird die Welt eines Tages untergehen.
Søren Kierkegaard (1813–1855), Entweder – Oder
Endzeit
27. April 1945
Jens Druwe erwachte auf dem Revier. Er sah auf die Uhr. Erst zehn. Sein Atem ging schnell, Schweiß stand auf seiner Stirn. Die Träume. Wie so oft. 1914 hätte sein Jahr werden können. Wenn die Welt nicht anders entschieden hätte. Er war damals seit knapp einem Jahr Polizeianwärter. Ausbildung an der kaiserlichen Polizeischule in Hamburg. Und dann Krieg. Deutschland gedemütigt und bereit, seine Ehre zu verteidigen. Zwei Tage nach Kriegsausbruch kamen die Werber an die Schule. Schneidige Offiziere, die von Pflicht und Ruhm sprachen. Fünf Tage später war der junge Druwe Rekrut in einer Rendsburger Kaserne am neuen Kaiser-Wilhelm-Kanal. Dreißig Tage Schleifen. Hoch. Raus. Laufen. Rein. Runter. Hoch. Eine Parabel auf sein Leben, aber das wusste er damals noch nicht. Einen Tag Freigang nach Leck in Friesland zu den weinenden Eltern.
Danach hing vier Jahre lang Deutschlands Ehre an Druwes Stiefeln. Und an den Stiefeln vieler anderer junger Männer. Sie klebte wie Scheiße, aber sie roch nach Blut. Er konnte sie noch heute riechen. Könnte aber auch der Mundgeruch sein, dachte er, als er sich langsam erhob. Der Kopf schmerzte. Die Pritsche in der Zelle war ziemlich hart. Druwe hatte am Nachmittag zwei Klare gekippt. Und abends eine Luminal eingeworfen. Dann war er zu einer der leeren Zellen gegangen und dort offenbar eingenickt. Er hatte zwar als Revierleiter ein eigenes Zimmer mit Schreibtisch und einem kleinen Sofa. Aber wenn er melancholisch wurde, war er gern hier in der Zelle. Der Knast macht die Leute kaputt, also ist er perfekt für mich, dachte er oft. Ich bin es ja schon. Vor dem Krieg saßen viele Leute für ein paar Tage im Bau. Diebstahl, Schlägerei, Beleidigung. Seit Kriegsbeginn waren die Gäste dann aber zunehmend ausgeblieben. Wer auffällig wurde, kam entweder an die Front oder ins KL. Mit etwas Glück wurde es nur Zuchthaus. Aber in den ländlichen Dienststellen der Ordnungspolizei – wie hier in Glücksburg an der Ostsee – standen die Zellentüren meistens offen.
Glücksburg im April 1945. Nicht gerade der Nabel der Welt. Jens Druwe war seit etwas mehr als einem Jahr Revierleiter der hiesigen Polizeidienststelle. Er stammte aus Nordfriesland, das lag quasi um die Ecke. Man konnte also fast sagen, er wäre ein wenig nach Hause zurückgekehrt, als man ihn hierher versetzte. Fast ein Vierteljahrhundert war vergangen, seit er seine Heimat verlassen hatte. Anfang der zwanziger Jahre war er erst nach Hamburg gegangen, dann nach Berlin. Schließlich hatte ihn Hitlers blutig-heißer Atem bis nach Stalingrad geweht, aber das wollte er lieber vergessen. Hier oben im Norden hörte er wieder das vertraute Moin. Und Moin Moin, wenn die Leute in Sabbellaune waren. Dazu ein angedeutetes Nicken, wenn sie sich freuten, dich zu sehen. Es hieß, Friesen seien wortgewandt, weltoffen und kontaktfreudig. Sofern sie wollten. Und meistens wollten sie nicht.
Druwe hatte in seinen fast fünfzig Lebensjahren viel gesehen. Und viel erlebt. Überlebt. Kaiser, Krieg, Revolution, Weimar, wieder Krieg. Hitler und sein Tausendjähriges Reich. Zugegeben, es schien, als würden sich die Nazis schwertun, die verbleibenden 988 Jahre noch zusammenzubekommen. Und Druwe hatte zwei Weltkriege erlebt. Für den ersten hatte er sich noch jubelnd freiwillig gemeldet, und diese vier Jahre hatten keinen Raum für Illusionen in ihm zurückgelassen. Er kannte den Tod. Er war schmutzig. Und schmerzhaft. Für ihn waren Soldaten nur abgerichtete Tiere, die auf Befehl ihrer Herren handelten. Man vergaß seine Ehre, wenn man die eigene Pisse soff. Ruhm wurde eigenartig klebrig, wenn man dem Gegner mit dem Bajonett die Gedärme aus dem Bauch riss. Das Vaterland verkam zu einem großen Hundezwinger, wenn Tausende im Granatregen zerfetzt wurden.
So hatte Druwe die Weimarer Zeit in einem seltsam zynischen Abstand erlebt. Er war ein Mensch, der wusste, was es hieß, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Die Explosionen um ihn herum hatten zu einer Art Implosion seiner selbst geführt. Viele seiner Kameraden waren daran zerbrochen. In seiner Berliner Zeit in den Zwanzigern hatte er es erlebt. Alkohol, Laudanum und Kokain. Huren und Schlägereien. Nicht nur im Milieu wurde so etwas hoch gehandelt. Auch unter Polizisten und Militärs fanden sich viele Koks-Köppe. Manche Leute sprachen wehmütig von den vergangenen wilden Zeiten in Berlin. Das waren aber eher jene guten und braven Bürger, die ein bestrumpftes Frauenbein in einer Kabarettvorstellung schon für anrüchig hielten. Wilde Zeiten waren immer Ausdruck einer inneren und äußeren Auflösung, ja sogar einer gewissen Zerstörungswut. Altes ging, Neues kam. Leider war dann diesmal das Neue für Deutschland kein Erfolgsmodell gewesen. Noch schärfere Schäferhunde und noch verlogenere Herren. Ein ganzes Volk, das sich fortan prostituierte. Nationale Erektion im Führergruß. Und dann noch ein zweiter Krieg. Wieder war Druwe dabei. Dieses Mal wurde die Tragik der Einzelschicksale durch die totale Entmenschlichung abgelöst. Er hatte erlebt, wie das Konzept »Mensch« auf das Schafott mechanisierter Kriegsführung getragen wurde. Jeder Versuch, das damit einhergehende Grauen zu beschreiben, war zum Scheitern verurteilt. Auch Jens Druwe hatte es längst aufgegeben, für sich nach Erklärungen zu suchen.
Mitternacht. Es würde wieder eine Nacht ohne Schlaf. Lesen oder etwas Musik halfen manchmal. Apfelkorn und Luminal nicht immer. Druwe war zu seinem Zimmer auf der Wache zurückgekehrt, hatte dem diensthabenden Kollegen nur kurz zugenickt. Seine Leute kannten die Eigenheiten ihres Chefs, keiner fragte mehr. Auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa lag ein zerlesener Kriminalroman. Der Hund von Baskerville. Arthur Conan Doyle. Sherlock Holmes. In englischer Sprache. Gleich vorn auf dem Deckblatt der Stempel Freigegeben mit dem roten Reichsadler. Fremdsprachige Lektüre musste von der Reichskulturkammer, Abteilung Reichsschrifttum, genehmigt werden. Überall witterten sie Verschwörung, Verrat und Spionage. Beim Kauf solcher Bücher musste man sich ausweisen können. Meldung und Ordnung. Druwe las die Geschichte schon zum hundertsten Mal. Inspektor Oberleutnant Druwe. Er schmunzelte frustriert. Was sollte er hier? Flensburg-Land war das genaue Gegenteil von dem, was er gewohnt war. Schlägereien im Satruper Krug oder Koppelschäden in Großsolt, wahrscheinlich durch Wildfraß. Einbruchsdelikt in Gelting. Feuer auf dem Olsenhof. Grober Unfug durch drei Jugendliche in der Geltinger Birk. Verstoß gegen die Verdunklungsverordnung bei Friedrichsens Geburtstag. Für einen ehemaligen leitenden Kripo-Beamten, der in Hamburg und Berlin tätig gewesen war, waren dies nicht gerade Herausforderungen, die den Geist schulten. Aber so machten sie es eben. Kaltstellen. Entweder ganz kalt oder nur eine Versetzung an den Arsch der Welt. Wenigstens konnte Druwe hin und wieder ein paar Verwandte in Nordfriesland besuchen. Aber dort war er auch schon ein Fremder geworden. Fast schon war er kein echter Freesche, kein Friese, mehr, eher ein Unbekannter. Es wurde still in den Kneipen von Leck und Umgebung, wenn er eintrat. Auf diese Weise, mit Schweigen, begrüßte man überall auf dem Land die Fremden. Und fremd war er mittlerweile sogar sich selbst.
Mehrmals hatte er sich auch entschlossen, seine beiden Kinder zu besuchen. Seit der Trennung von seiner Frau Inge sah er sie nur noch selten. Inge mied ihn, sie hasste ihn. Und sie wusste, dass sie ihn verletzen konnte, wenn sie ihm die Kinder vorenthielt. Sie hatte einen Karriere-Polizisten gewollt, er aber liebte die Arbeit an der Basis, auf der Straße. Sie hatte ihm gedroht, ihn angefleht. Berlin, die Polizei, die SS. Sie wollte nach oben. In die feine Gesellschaft aufgenommen werden. Und er hatte es versaut. Sagte sie. Scheidung, Kleinkrieg. Anzeigen wegen Trunkenheit. Denunziationen. Druwes Sohn Heiner hatte sich abgewendet. Er war ein Kind für den Führer, wie Inge es nannte. Und jetzt hatte sie ihm stolz geschrieben, er habe sich im März freiwillig als Flakhelfer gemeldet. Mit fünfzehn! Blöde Kuh. Seine Tochter Lena war anders. Sie war zwei Jahre älter als ihr Bruder, und er erinnerte sich gern an einige Briefwechsel. Sie war sanft und nachdenklich. Und wie er liebte sie Bücher. Mehrmals hatte er die Fahrkarten nach Berlin bereits gekauft. Und jedes Mal hatte er sie verfallen lassen. Du bist ein Feigling, sagte er sich. Vielleicht hat Inge ja doch recht.
Dabei ahnte Druwe, dass er noch Glück gehabt hatte. Hier oben in Schleswig-Holstein kriegen wir von dem Scheiß nur wenig mit, dachte er. Die Bauern und ihre Familien waren satt. Die Kleinstädter hatten noch ein Dach über dem Kopf. Und auch dieses Jahr blühten die Krokusse in Husum wieder. Dennoch kam er hier nicht zur Ruhe. Es war, als hätte man ihn mit laufendem Motor auf den Parkplatz gestellt. Und dann vergessen. Seine Augen hatten zu viel gesehen. Seine Ohren zu viel gehört. Wie oft hatte er sich vor Stalingrad gewünscht, noch einmal die Sonne auf der Haut zu spüren? Den Duft des Grases einzuatmen? Die Schwalben zu beobachten? Jetzt schien es so, als hätte er dafür keine Sinne mehr. Sie waren abgestorben in der langen Zeit. Vielleicht brauche ich die Unruhe, den Lärm, die Schreie, überlegte er. Und den...
Erscheint lt. Verlag | 12.7.2019 |
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Reihe/Serie | Inspektor Jens Druwe | Inspektor Jens Druwe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Flensburger Förde • Gestapo • Goldfasan • Hehlerei • Michael Jensen • Mord • NSDAP • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-8412-1728-1 / 3841217281 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1728-8 / 9783841217288 |
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