Oktober 1946 in Clanton, Mississippi. Pete Banning ist einer der angesehensten Bürger der Stadt. Der hochdekorierte Kriegsveteran hat es als Oberhaupt einer alt eingesessenen Familie mit dem Anbau von Baumwolle zu Reichtum gebracht. Er ist ein aktives Mitglied der Kirche, ein loyaler Freund, ein guter Vater, ein verlässlicher Nachbar. Doch eines Morgens wendet sich das Blatt. Pete Banning steht in aller Früh auf, nimmt ein leichtes Frühstück zu sich, fährt zur Kirche und erschießt den Pfarrer. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Gemeinde ist erschüttert, und es gibt nur eine einzige Frage: Warum? Pete Banning aber schweigt. Sein einziger Kommentar lautet: »Ich habe nichts zu sagen.« Und auch als ihm die Todesstrafe droht, bricht er sein Schweigen nicht. Ein Aufsehen erregender Prozess beginnt, an dessen Ende in Clanton nichts mehr ist, wie es zuvor war.
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
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An einem kalten Morgen Anfang Oktober 1946 wurde Pete Banning vor Sonnenaufgang wach, und ab dem Moment war an Schlaf nicht mehr zu denken. Lange lag er flach ausgestreckt auf dem Rücken, starrte an die dunkle Zimmerdecke und fragte sich wie schon viele Male zuvor, ob er den Mut aufbringen würde. Als hinter einem Fenster das erste Licht der Dämmerung aufzog, hatte er sich schließlich mit der bitteren Wahrheit abgefunden. Es war Zeit für den Mord. Der Gedanke daran trieb ihn derart um, dass er seinen Alltag nicht mehr bewältigen konnte. Solange er den Mord nicht beging, war er nicht er selbst. Die Planung war nicht schwer gewesen, doch die Ausführung erschien ihm immer noch unvorstellbar. Die Tat würde jahrzehntelang nachwirken und das Leben vieler verändern, nicht nur der Menschen, die er liebte, sondern auch das anderer, die er nicht liebte. Sie würde ihm zu trauriger Berühmtheit verhelfen. Dabei ging es ihm gar nicht um Ruhm. Im Mittelpunkt zu stehen war ihm von Natur aus zuwider. In diesem Fall jedoch würde es sich nicht vermeiden lassen. Er hatte schlicht keine Wahl. Nach und nach war die Wahrheit ans Licht gekommen, und seit er ihre Tragweite voll erfasst hatte, erschien ihm der Mord so unabwendbar wie der Sonnenaufgang.
Wie immer nahm er sich viel Zeit zum Anziehen – seine im Krieg zerschossenen Beine waren steif und schmerzten von der Nacht. Dann ging er durch das dunkle Haus in die Küche, wo er ein schummriges Licht einschaltete und sich Kaffee aufbrühte. Während der Kaffee durchlief, stellte er sich kerzengerade neben den Küchentisch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und begann, vorsichtig die Knie zu beugen. Gequält verzog er das Gesicht. Obwohl der Schmerz von seinen Hüften bis in die Knöchel ausstrahlte, hielt er die Kniebeuge zehn Sekunden lang durch. Er entspannte sich und wiederholte die Übung mehrfach, wobei er jedes Mal ein wenig tiefer sank. In seinem linken Bein steckten Metallstäbe, in seinem rechten Granatsplitter.
Pete goss sich Kaffee ein, gab Milch und Zucker hinzu und trat nach draußen auf die hintere Veranda, wo er auf den Stufen stehen blieb und über seine Ländereien blickte. Die im Osten durchbrechende Sonne warf ihr gelbliches Licht auf ein Meer aus weißer Baumwolle, die aussah wie Schnee. An jedem anderen Tag hätte die Aussicht auf eine reiche Ernte Pete ein Lächeln entlockt. Heute jedoch gab es keinen Anlass zum Lächeln, heute war ein Tag der Tränen. Andererseits, den Mord nicht zu begehen wäre feige, und Pete Banning war kein Feigling. Er trank seinen Kaffee und bewunderte sein Land, dessen Beständigkeit er als tröstlich empfand. Unter der weißen Oberfläche verbargen sich fruchtbare Äcker, die seit über hundert Jahren im Besitz der Bannings war. Man würde ihn von hier wegbringen und vermutlich hinrichten, doch das Land würde für immer überdauern und seine Familie ernähren.
Sein Hund – Mack, ein Bluetick Coonhound – schüttelte den Schlaf ab und tapste zu ihm auf die Veranda hinaus. Pete strich ihm zur Begrüßung über den Kopf.
Die Baumwolle platzte förmlich aus den Kapseln. Bald würden Pflücker auf Traktoranhängern zu den entlegeneren Feldern gebracht werden. Als Kind war Pete immer mit den Schwarzen gefahren und hatte zwölf Stunden lang seinen eigenen Pflücksack übers Feld geschleppt. Die Bannings waren Farmer und Großgrundbesitzer, aber sie waren keine reichen Pflanzer, die sich auf Kosten anderer auf die faule Haut legten.
Den Kaffee in der Hand, sah er zu, wie die weite, weiße Fläche im zunehmenden Licht der aufgehenden Sonne heller leuchtete. In der Ferne, hinter den Ställen der Rinder und Hühner, hörte er die Schwarzen, die sich für einen weiteren langen Tag vor dem Traktorschuppen einfanden. Es waren Männer und Frauen, die er kannte, seit er denken konnte, bettelarme Tagelöhner, deren Vorfahren schon vor hundert Jahren auf diesen Feldern geschuftet hatten. Was würde nach dem Mord mit ihnen geschehen? Vermutlich würde sich für sie nichts ändern. Sie brauchten wenig zum Überleben, und sie kannten nichts anderes. Morgen würden sie sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort einfinden, sprachlos vor Bestürzung. Sie würden flüsternd um das Feuer stehen und sich dann auf die Felder hinausfahren lassen, beklommen und doch voller Arbeitseifer, damit sie am Abend ihren Lohn abholen konnten. Die Ernte würde ohne Unterbrechung weitergehen, bis zum letzten Sack.
Pete trank den Kaffee aus, stellte die Tasse auf das Geländer und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte an seine Kinder. Joel würde noch in diesem Semester seinen Abschluss an der Vanderbilt University in Nashville machen, und Stella besuchte seit einem Jahr das Hollins College in Virginia. Zum Glück waren sie beide weit weg. Er empfand ihre Furcht und Scham bei der Vorstellung, dass ihr Vater im Gefängnis saß, beinahe körperlich. Doch er war sicher, dass sie darüber hinwegkommen würden, genauso wie seine Feldarbeiter. Die beiden waren klug und anpassungsfähig, und das Land würde ihnen bleiben. Sie würden ihre Ausbildung abschließen, geeignete Ehepartner finden und ihr Leben meistern.
Die Zigarette zwischen den Lippen, nahm er die Kaffeetasse und ging in die Küche zurück, wo er zum Telefonhörer griff und seine Schwester Florry anrief. Mittwoch war der Tag, an dem sie sich wöchentlich zum Frühstück trafen, und er meldete sich stets vorher bei ihr an. Er kippte den letzten Rest Kaffee aus, steckte sich eine neue Zigarette an und nahm seine Stalljacke von einem Haken neben der Tür. Mack an seiner Seite, ging er über den Hof zu dem Pfad, der am Garten entlangführte, wo Nineva und Amos für die Bannings und deren Belegschaft Gemüse anbauten. Als er am Kuhstall vorbeikam, hörte er, wie Amos mit den Tieren sprach, während er das Melken vorbereitete. Pete wünschte ihm einen guten Morgen, und sie vereinbarten, welches Mastschwein am Samstag geschlachtet werden sollte.
Obwohl seine Beine schmerzten, setzte er seinen Weg fort, ohne zu hinken. Am Traktorschuppen standen die Schwarzen um eine Feuerstelle und tranken plaudernd Kaffee aus Blechtassen. Als sie ihn erkannten, verstummten sie. Einige murmelten »’n Morgen, Mista Banning«, und er erwiderte ihren Gruß. Die Männer trugen alte, schmutzige Overalls, die Frauen lange Kleider und Strohhüte. Niemand hatte Schuhe an. Die Kinder und Jugendlichen kauerten, in eine Decke gehüllt, neben einem Anhänger, mit schläfrigem Blick und ernsten Mienen, in Gedanken bei einem weiteren langen Tag im Baumwollfeld.
Bei den Bannings gab es eine Schule für die Schwarzen, ermöglicht durch die großzügige Spende eines reichen Juden aus Chicago. Petes Vater hatte die Summe aus eigener Tasche verdoppelt. Die Bannings legten Wert darauf, dass alle farbigen Kinder auf ihrem Land zumindest die achte Klasse abschlossen. Nur im Oktober, wenn sich alles um die Ernte drehte, war die Schule geschlossen, und die Schüler gingen aufs Feld.
Pete unterhielt sich leise mit Buford, seinem weißen Vorarbeiter. Sie sprachen über das Wetter, den Ertrag vom Vortag, den Baumwollpreis an der Börse in Memphis. Während der Haupterntezeit gab es nie genug Pflücker, und Buford erwartete eine Wagenladung voll weißer Feldarbeiter aus Tupelo. Sie hätten am Vortag kommen sollen, waren aber nicht erschienen. Es hieß, ein Farmer zwei Meilen weiter zahle fünf Cent mehr pro Pfund, doch solche Gerüchte grassierten ständig in der Hochsaison. Die weißen Feldarbeiter gingen immer dorthin, wo sie den höchsten Lohn bekamen. Man wusste nie, womit zu rechnen war. Die Schwarzen hingegen konnten es sich nicht aussuchen, und die Bannings waren dafür bekannt, dass sie alle gleich bezahlten, egal, ob schwarz oder weiß.
Die beiden John-Deere-Traktoren tuckerten los, und die Pflücker kletterten auf die Anhänger. Pete sah ihnen nach, wie sie sich schwankend und schaukelnd im Schneefeld verloren.
Er zündete sich eine weitere Zigarette an und ging mit Mack am Schuppen vorbei auf einen Feldweg zu. Florry wohnte etwa anderthalb Kilometer entfernt auf ihrer...
Erscheint lt. Verlag | 4.3.2019 |
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Übersetzer | Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter, Imke Walsh-Araya |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Reckoning |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Agententhriller • Clanton • Die Jury • eBooks • ford county • Kriegsveteran • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mississippi • New-York-Times-Bestseller • Politthriller • Prozess • SPIEGEL-Bestsellerautor • Thriller • Todesstrafe |
ISBN-10 | 3-641-24358-0 / 3641243580 |
ISBN-13 | 978-3-641-24358-6 / 9783641243586 |
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