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Der Letzte meiner Art (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
272 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9394-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Letzte meiner Art -  Lukas Linder
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'Der Letzte meiner Art' erzählt die Geschichte des jüngsten Sprosses einer eher dekadenten Familie. Alfred fühlt sich neben seiner starken, aber abgedrehten Mutter, seinem genialen Bruder und seinem umnachtet wirkenden Vater wie eine Karikatur. Trotzdem hat er es sich zur Aufgabe gemacht, seiner alteingesessenen Familie zu neuem Ruhm zu verhelfen. Ein Held möchte er werden. Dazu hat er verschiedene Möglichkeiten: Er könnte, wie sein Vorbild und Namensvetter, vierzig Franzosen erschlagen, einen Gesangswettbewerb gewinnen, oder, ja, ein Freiherr der Liebe werden! Doch zunächst ist Alfred nichts weiter als ein Realist, der sich selbst als die enttäuschende Pointe einer Geschichte sieht, deren größtes Vergehen darin besteht, viel zu lange gedauert zu haben. Lukas Linder schreibt mit einer solchen Genauigkeit und Schonungslosigkeit über das alltägliche Scheitern, dass man zwischen den Lachern immer wieder etwas erschreckt, aber amüsiert, auf das eigene Leben schielt.

LUKAS LINDER, geboren 1984 im Kanton Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Basel. Er ist Dramatiker, schrieb unter anderem für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Kleist-Förderpreis und dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts, ausgezeichnet. »Der Letzte meiner Art« ist sein Romandebüt.

Lukas Linder, geboren 1984, studierte Germanistik und Philosophie. Er ist Dramatiker, schrieb u. a. für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Kleist-Förderpreis, dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts und 2021 mit dem Kasseler Förderpreis Komische Literatur.

Nach seinen Romanen Der Letzte meiner Art (2018) und Der Unvollendete (2020), dem Geschenkbuch Die Kunst der Guten Woche (2022), erscheint nun sein dritter Roman Charly Broms Dilemma bei Kein & Aber. Lukas Linder lebt in der Nähe von Zürich.

DIE TÄTOWIERUNG

Meine Mutter war eine Frau von Welt. Man erkannte es an ihrem duftenden Haar und dem Rudel schnuppernder Verehrer in ihrem Rücken. Die von Ärmels galten als eine der vornehmsten Berner Familien. In meiner Kindheit gab es noch Leute, die uns auf der Straße salbungsvoll zunickten oder sogar salutierten. Ich erinnere mich noch gut, wie an meinem ersten Schultag der Lehrer unsere Namen an die Tafel schrieb. Bei meinem Namen schnappte er sich eine Buntkreide.

Ihre Kindheit und Jugend hatte Mutter überwiegend in Privatschulen, verteilt über den ganzen Globus, verbracht. Sie behauptete immer, sieben Sprachen fließend zu beherrschen.

»Aber was nützt mir das? In Bern?«

Durch die lange Zeit in all den vielen Ländern war sie später zu einer Fremden im eigenen Leben geworden, was sich in einer kühlen Distanz allem und jedem gegenüber äußerte. Ihre Bewunderer wollten darin ein Zeichen ganz besonderer Vornehmheit erkennen. Sie galt als die schönste Frau der ganzen Stadt. Und sie wusste es. Wenn sie sich auch selten mit solchen Details beschäftigte. Mit Kleinigkeiten gab sie sich nicht ab, und auch mit dem Denken nicht wirklich. Für ihren Geschmack war das eine viel zu profane Angelegenheit.

Statt zu denken, zog sie es vor, zu wirken.

Mit sechzehn lief sie an Weihnachten von zu Hause weg. Die ersten paar Tage bemerkte es niemand. Großmutter war viel zu beschäftigt, um Subtilitäten wie eine entflohene Tochter wahrzunehmen. Sie hatte sich kürzlich eine Husky-Zucht zugelegt und erzählte nun überall herum, die Huskys seien der Grund, warum sie lebe. Großmutter war stets auf der Suche nach solchen Gründen. Sie sammelte sie wie andere Leute Schneekugeln.

Ihr Mann, mein späterer Großvater, hatte schon vor langer Zeit vergessen, dass er eine Tochter hatte. Er war ein knallharter Armeeoffizier gewesen, der sich im Krieg bei der Grenzsicherung hervorgetan hatte. Wegen seiner Vorliebe für Gewaltmärsche hatten ihm seine Soldaten den Beinamen »Der Gnadenlose« verliehen. Später wurde der Name von meiner Großmutter weiterverwendet. Nach dem Krieg verlor er dann relativ schnell den Verstand, wobei böse Zungen behaupteten, dass er sowieso nie einen gehabt hätte. »Ich kenne diesen Mann nicht. Keine Ahnung, wer das ist«, pflegte Mutter über ihn zu sagen. Sowieso sprach sie selten von ihm, was nicht weiter erstaunlich ist: Es muss seltsam sein, einen Vater zu haben, der alle militärischen Dienstgrade auswendig weiß, nicht aber, wer seine Tochter ist.

Wenn Großvater Geburtstag hatte, gingen wir zum Mittagessen zu ihnen. Es war immer eiskalt im Haus. Großmutter heizte nur, wenn jemand Besonderes vorbeikam. Ich mochte diese Besuche nicht, denn wir mussten die Schuhe ausziehen und stattdessen Pantoffeln überziehen, die einen säuerlichen Geruch verströmten, den ich auch an meiner Großmutter bemerkte. In den ersten Jahren beschäftigte sie noch einen ältlichen Diener, der sehr bleich war und auch sonst einen ungesunden Eindruck machte. Er hustete oft und war dauernd verschnupft. Wahrscheinlich ein Ergebnis der eisigen Kälte, in der er die ganze Zeit servieren musste. Auch der Diener hatte diesen säuerlichen Geruch. Niemand kannte seinen Namen, auch meine Großmutter nicht. Natürlich hätte man ihn fragen können, doch aus irgendeinem Grund kam damals niemand von uns auf den Gedanken.

Zu essen gab es immer den gleichen Fisch, den Großmutter mit den Worten »Er schmeckt zwar nicht besonders, aber er nährt« ankündigte.

Großvater saß am Ende des Tisches. Immer trug er seine alte Armeeuniform, die voller Suppenflecken und anderer ominöser Kleckse war. Warum hat man die Uniform damals nie gewaschen? Jedenfalls sah er nicht mehr besonders gnadenlos aus, eher schien mir die Zeit gnadenlos mit ihm. War das nun die berühmte ausgleichende Gerechtigkeit?

Ich musste zu ihm gehen und ihm zum Geburtstag gratulieren. Wie jedes Mal, wenn er mich erkannte, nahm er meine Hand und fragte: »Wie viele Kilometer?«

Worauf ich antworten musste: »Fünfzig, Herr Kommandant.«

»Zu wenig«, kritisierte er. »Setzen.«

Mein zwei Jahre älterer Bruder Thomas, der schon damals raffinierter und mutiger war als ich, dachte sich jeweils eine originelle Antwort aus, um Großvater zu begeistern.

»Ich habe das Flugzeug genommen.«

»Sehr gut. Das gefällt mir«, lachte Großvater und klopfte Thomas anerkennend auf den Rücken. Daraufhin gab er ihm eine Zwanzigernote.

Wenn ich aber beim nächsten Mal »Ich habe das Flugzeug genommen« sagte, zog mich Großvater wütend am Ohr: »Du fauler Rotzbengel! Was fällt dir eigentlich ein?«

Ich mochte diese Besuche wirklich überhaupt nicht.

Während des Mittagessens war es mein Vater, der sich um Konversation bemühte. Dabei ignorierte er gekonnt, dass Großvater unmöglich in der Lage war, seinen Ausführungen zur Tagespolitik zu folgen, geschweige denn eine Ahnung hatte, wer mein Vater eigentlich war.

Mutter saß wortlos neben ihm und rührte ihre Suppe um. Sie rührte immer schneller, als ginge durch ihr Rühren die Zeit schneller vorbei.

Nachdem sie von zu Hause weggelaufen war, fehlte von ihr einen Monat lang jede Spur. Bis heute weiß keiner, wo sie in dieser Zeit gewesen ist. Doch als sie zurückkam, hatte sie eine riesige Tätowierung auf dem Rücken, die später der Grund dafür war, dass Vater nie mit uns ins Schwimmbad wollte. Die Tätowierung war ein gewaltiges Massaker, das das gesamte Farbspektrum abzudecken schien. Und dazu noch ein paar weitere Farben, die nur auf Mutters Rücken existierten. Trotzdem war ich der festen Überzeugung, dass die Tätowierung mehr darstellen musste. Ein Bild. Einen Gegenstand. Eine Geschichte.

Mit abstrakter Kunst konnte ich damals noch nicht viel anfangen.

»Was ist es, was ist es?«, fragte ich Mutter immer wieder. Und bettelte darum, mir die Tätowierung noch mal ansehen zu dürfen. Da stand ich schließlich und betrachtete das Massaker mit einer Akribie und Hingabe, wie sie mir kein Gemälde der Welt hätte entlocken können.

»Ist es ein Pfau?«

»Nein.«

»Aber diese Augen. Das ist doch ein Pfau.«

»Schluss damit! Anständige Kinder studieren nicht den Rücken ihrer Mutter.«

Sie mochte es nicht, wenn man sie auf diesen Monat in ihrer Vergangenheit ansprach. Diese Zeit blieb ihr Geheimnis. Dennoch gab es immer wieder kleine Zeichen, Bruchstücke, die eine, wenn auch unbefriedigende, Ahnung davon vermittelten, was sie damals möglicherweise gemacht haben könnte. Es waren gewisse Lieder, die sie manchmal vor sich hin sang, die eine Art Showcharakter hatten, so als singe sie auf einer Bühne und nicht in unserem Wohnzimmer.

Einmal äußerte ich kurz vor meinem Geburtstag den Wunsch nach einem Zauberkasten.

»Was fällt dir eigentlich ein?!«, schrie Mutter.

Zauberkasten, ein prima Geschenk für sympathische Kinder, würde man eigentlich denken. Doch offensichtlich vertrat Mutter da eine andere Position.

»Niemals!«

»Aber warum denn nicht?«

»Kinder wie du sollten nicht zaubern.«

Was blieb nach dieser ernüchternden Logik für einen im Leben noch zu tun? So hätte ich argumentieren können. Ich war so eingeschüchtert, dass ich nie wieder von Zauberkästen redete.

Einmal fragte ich sie direkt: »Was hast du in diesem Monat denn gemacht?«

Sie lächelte und sagte: »Ich habe wahnsinnig gut gegessen.«

Danach schmeckte mir eine Zeit lang das Essen nicht mehr.

Ein Andermal fragte ich sie: »Was ist passiert, als du wieder nach Hause kamst? Waren sie böse? Haben sie dich verprügelt?«

Ich fragte nicht ohne Grund. Als ich Großmutter zu Weihnachten ein paar selbst gehäkelte Topflappen geschenkt hatte, hatte sie in einer leidenschaftlichen Rede die Prügelstrafe für Kinder gefordert. Es konnte natürlich sein, dass sie diese Rede ganz ohne Bezug zu den Topflappen gehalten hatte. Manchmal hatte man ja einfach Lust auf eine leidenschaftliche Rede.

»Verprügelt?«

Mutter lachte ihr unwirkliches Lachen.

Als sie damals nach einem Monat zurückgekommen war, hatte in der Einfahrt ein rostrot funkelnder Viehtransporter gestanden. Einer der Husksys hatte Großmutter in den Oberschenkel gebissen. Nach diesem Eklat waren die Hunde natürlich nicht mehr der Grund, warum sie lebte. Sie kamen nach St. Moritz, wo sie bis zum Rest ihrer Tage gelangweilte Russen in Schlitten durch den Schnee ziehen mussten. Großmutter legte sich ein Aquarium mit kostbaren Fischen zu. Die Fische bissen sie zwar nicht in den Oberschenkel, waren aber, wie Großmutter bald herausfinden sollte, auch nicht der Grund, warum sie lebte.

In ihrem Zimmer fand Mutter den Abschiedsbrief, den sie einen Monat zuvor geschrieben hatte. Er lag ungeöffnet auf dem Kissen. Dort, wo sie ihn selber hingelegt hatte.

Später entwickelte Mutter ein Faible für amerikanische Straßenkünstler. Sie flog nach New York, nach Chicago und San Francisco, wo man diese Straßenkünstler »regelrecht wie Pilze« pflücken konnte.

Als sie in der Kunsthalle eine Vernissage für ein paar von ihnen organisierte, war ich noch ganz klein. Sie hatte die ganze Berner Schickeria zu dem Anlass eingeladen. Allesamt Männer, allesamt Bewunderer. Ich erinnere mich noch genau an den Abend, denn es war das erste und das letzte Mal, dass Großmutter zu unserer Betreuung abberufen wurde. Damals schwärmte ich für Mary Poppins, Großmutter aber hatte sich vorgenommen, als deren Antithese aufzutreten. Sie kam mit einem grotesken Hut und den Worten »Abmarsch ins Bett, und wer nicht spurt, der kann was erleben«....

Erscheint lt. Verlag 18.9.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Debüt • Familie • Familienroman • Friedrich Dürrenmatt • Groteske • Humor • lit-ebook • Literatur • Pfauen • Roman • Schwarzer Humor • Schweiz • Witz
ISBN-10 3-0369-9394-0 / 3036993940
ISBN-13 978-3-0369-9394-2 / 9783036993942
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