Nachtschwalbe (eBook)
352 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1659-5 (ISBN)
Ein neuer Fall für Ann Lindell.
In der Nacht zum 10. Mai hat die Polizei in Uppsala alle Hände voll zu tun. Schaufenster werden eingeworfen, ein Haus am Stadtrand geht in Flammen auf und in einer Buchhandlung wird ein junger Schwede tot aufgefunden. Kurz darauf tauchen Flugblätter auf, in denen die Schuld für die Unruhen jungen Immigranten zugewiesen wird. Die Stimmung kocht und Forderungen nach einem Ende der unbegrenzten Zuwanderung werden immer lauter.
Ann Lindell und die Kripo von Uppsala übernehmen die Mordermittlungen. Zwar gibt es einen 'dunkelhaarigen' Verdächtigen, allerdings auch Hinweise auf eine Tat aus Eifersucht. Beim Exfreund der Freundin des Toten finden sich sogar Blutspuren des Opfers. Doch es gibt auch einen Zeugen: Der fünfzehnjährige Iraner Ali war vor Ort und glaubt den Täter erkannt zu haben ...
Kjell Eriksson, geboren 1953, hat Erfahrungen in mehreren Berufen gesammelt. Er lebt in der Nähe von Uppsala. Für seinen ersten Kriminalroman um die Ermittlerin Ann Lindell erhielt er 1999 den schwedischen 'Krimipreis für Debütanten'. Sein Roman 'Der Tote im Schnee' wurde zum 'Kriminalroman des Jahres 2002' gekürt, eine Ehrung, die bereits Autoren wie Liza Marklund, Henning Mankell und Håkan Nesser bekommen hatten.
4
Samstag, 10. Mai, 7.55 Uhr
Marcus’ Blick war starr auf die Tasse gerichtet. Er hatte seinen Kaffee ebenso wenig angerührt wie den Zwieback, den Martin Nilsson auf den Tisch gestellt hatte.
»Hast du Hunger?«
Marcus blickte erstaunt auf, schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln.
»Hat sie dunkles Haar, oder ist sie blond?«
»Dunkel.«
»Die sind immer schwierig«, sagte Martin Nilsson. »Trink deinen Kaffee.«
Marcus gehorchte mechanisch. Seine kurzen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab, die Stirn war mit roten Flecken übersät, die von kleinen weißen Punkten umgeben waren. Martin musste an einen Apfel denken, dessen Schale zu lange der prallen Sonne ausgesetzt gewesen war. Als Marcus die Tasse an den Mund hob, traten zwei tiefe Furchen auf seine Wangen, und er sah plötzlich wesentlich älter aus.
»Möchtest du vielleicht ein richtiges Brot?«
»Nein, danke.«
»Was treibst du denn sonst so?«
»Ich studiere. Medienwissenschaft.«
»Lina besucht das Grafische Ausbildungszentrum, sie belegt Kurse in Fotografie und so.«
Der Junge zeigte sich nicht sonderlich interessiert.
Martin Nilsson spürte, dass er allmählich müde wurde. Er sollte Lina wecken, sich eine Viertelstunde mit ihr unterhalten, während sie frühstückte, und sich anschließend ein paar Stunden aufs Ohr legen, aber die Unruhe, die ihn auf seiner Fahrt durch die Stadt erfasst hatte, war noch nicht verflogen.
»Bevor ich dich aufgelesen habe, sollte ich eigentlich noch eine Fahrt übernehmen, aber ich habe abgelehnt«, sagte er.
»Kommt das öfter vor?«
»Nein, eher selten. Es sei denn, jemand randaliert.«
»War der Typ voll?«
»Nein«, erwiderte Martin, »das nicht, aber es war ein alter Kumpel. Wir sind zusammen in die Schule gegangen, haben viele Jahre zusammengehangen.«
»Und Sie wollten ihn nicht fahren?«
»Er hieß Magnus, Quatsch, er heißt sicher immer noch so. Ich glaube nicht, dass er mich erkannt hat. Oder er hat so getan, als würde er mich nicht kennen.«
»Warum sollte er das tun? Haben Sie sich gestritten?«
Zum ersten Mal an diesem Morgen zeigte Marcus Interesse an etwas. Er trank einen Schluck Kaffee und nahm sich einen Zwieback.
»Ich sollte jetzt vielleicht Lina wecken«, sagte Martin Nilsson.
»Und ich werde wohl nach Hause latschen und mich in die Koje hauen«, sagte der Junge. Eine Redewendung, die Martins Vater oft gebraucht hatte.
Martin Nilsson erhob sich, blieb aber am Tisch stehen.
»Wir haben uns tatsächlich gestritten«, sagte er leise, nahm seine Kaffeetasse und stellte sie auf die Spüle. »Er hielt sich auf einmal für so verdammt wichtig. Wir gingen damals in die Hjalmar-Branting-Schule. Seinem Vater gehörte ein Spielzeuggeschäft, aber der hatte sich umgebracht. Die Mutter hat dann einen Wirt geheiratet, der später pleiteging und aus der Stadt verschwand.«
»Wird man dadurch denn so wichtig?«
»Nein, nicht unbedingt. Heute ist er Politiker oder irgendwas bei der Stadt. Ich sehe ihn manchmal im Fernsehen.«
Martin drehte die Tasse auf der Spüle. Warum erzählte er das alles?
»Man weiß so wenig, wenn man in die Schule geht«, fuhr er fort. »Es scheint einem alles zuzufliegen. Die Welt steht einem offen. Oder auch nicht«, korrigierte er sich selbst.
»Man ist doch noch ein Kind«, meinte Marcus altklug.
»Aus den meisten werden bestimmt anständige Leute.«
»Es können ja nicht alle Politiker werden«, sagte Marcus. »Es ist bestimmt ganz schön hart, wenn sich der eigene Vater umbringt.«
»Er hat sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich muss jetzt Lina wecken, aber bleib ruhig sitzen«, fügte er hinzu, als Marcus sich anschickte aufzustehen.
Wenn ich die Fahrt zum Flughafen übernommen hätte, wäre ich diesem Jungen niemals begegnet, dachte Martin.
Lina hatte wie ihr Vater dunkle Haare. Als sie schlaftrunken die Küche betrat, glaubte Marcus für einen Moment, Ulrika stünde vor ihm. Der verwaschene Bademantel, das leicht verwirrte, schlaftrunkene Gesicht und die trägen Bewegungen, das alles führte dazu, dass er sofort vom Stuhl aufspringen und sie an sich ziehen wollte. Es war seine Ulrika, aber sie war es eben doch nicht.
Trotz ihrer Müdigkeit schien Lina seine Reaktion bemerkt zu haben, denn sie sah ihn erstaunt und fast ein wenig ängstlich an.
»Wer bist du?«
»Ich heiße Marcus. Ich bin mit deinem Vater hergekommen.«
»Aha«, stellte sie sachlich fest, als wäre es ganz normal, dass am frühen Morgen fremde Menschen in ihrer Küche saßen. Sie beobachtete Marcus mit neugierigem Interesse, während sie Müsli und Schwedenmilch auf den Tisch stellte und sich ihm anschließend gegenübersetzte. Martin Nilsson kam zurück und schaltete das Radio ein.
»Vielleicht sagen sie ja was«, meinte er.
Die zertrümmerten Schaufenster waren die erste Meldung in den Nachrichten des Lokalsenders. Nach einer kurzen Zusammenfassung aus dem Studio wurde das Wort einem Reporter übergeben, der live von der Drottninggatan berichtete. Die Verwüstungen umfassten das gesamte Areal von der Nybron bis zu dem Hang, der zur Universitätsbibliothek hinaufführte. Die Stimme im Radio beschrieb fast schon poetisch den Anblick der Glasscherben auf Bürgersteig und Straße und verglich ihn mit Bildern aus einem Bürgerkriegsland. Die Polizei hatte die Straße für den Autoverkehr gesperrt, nur Bussen war es erlaubt, in der Straßenmitte zu passieren, wo man die Glasscherben notdürftig weggekehrt hatte.
Inzwischen hatten sich auch Schaulustige eingefunden, einige von ihnen wurden interviewt. Eine junge Frau berichtete, sie sei von einer Bombenexplosion ausgegangen, ein Mann vermutete als Täter betrunkene Einwanderer. Ein Sprecher der Polizei beschrieb knochentrocken und bürokratisch gestelzt das Ausmaß der Zerstörung und erklärte, die Polizei ermittle in alle Richtungen.
Der Journalist hatte schon das meiste aus der Geschichte herausgeholt und war gerade dabei, seine Reportage abzurunden, als er mitten im Satz verstummte.
Nur sein angespanntes Atmen war zu hören. Martin Nilsson lehnte sich vor und drehte den Ton lauter. »Was ist denn jetzt los?«, sagte er.
»Wir bleiben dran«, verkündete die Stimme des Reporters erregt, und man begriff, dass seine Worte eine Aufforderung an das Studio waren, ihn weiter auf Sendung zu lassen.
Plötzlich hörte man einen durchdringenden Schrei. In Tausenden von Wohnungen und an Hunderten von Arbeitsplätzen in Uppsala erklang der verzweifelte Schrei einer Frau.
»Hier ist gerade etwas geschehen«, sagte der Radioreporter.
»Ja, das haben wir auch schon kapiert«, zischte Martin Nilsson.
»Eine Frau steht vor einem der demolierten Geschäfte in der Drottninggatan«, fuhr die Stimme fort. »Sie starrt entsetzt ins Ladeninnere. Polizisten laufen zu der Frau. Ich werde jetzt näher herangehen.«
Seine schnellen Schritte vermischten sich mit erregten Stimmen.
»In dem Geschäft liegt ein toter Junge«, hörte man eine Frauenstimme in den Äther sagen.
»Das gibt’s doch gar nicht«, sagte Martin und sah Marcus an. »Hast du das gehört?«
»Gehen Sie!«, rief jemand, aber der Journalist war viel zu routiniert, um sich dadurch abschrecken zu lassen.
Stattdessen berichtete er, wie die Frau durch die eingeschlagene Tür zeigte und dass man in dem Geschäft, inmitten wahllos verstreuter Bücher, zwei Füße erkennen konnte, die hinter der Ladentheke hervorschauten. Der Reporter berichtete, wie ein uniformierter Polizeibeamter den Laden betrat und sich über den Körper beugte.
Dann wurde die Übertragung kurzzeitig unterbrochen – offenbar hatte man versucht, den Reporter zurückzudrängen.
»Diesen Pressefritzen ist wirklich nichts heilig«, brummte Martin Nilsson.
»War das eine Bombe?«, fragte Lina, die bisher keinen Ton von sich gegeben hatte.
Ihre Stimme klang unsicher. Martin sah sie an, streckte die Hand aus und hielt ihren Arm fest. »Mach dir keine Sorgen, Kleines«, sagte er.
»Wer ist denn da gestorben?«
»Keine Ahnung. Sie haben ihn gerade erst gefunden.«
»Kann das ein Terroranschlag gewesen sein?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte ihr Vater, »was für Terroristen sollten denn das sein?«
Marcus schwieg, beobachtete Vater und Tochter, sah, wie nahe sie einander standen, und fragte sich, wo Linas Mutter war. Vielleicht war sie tot, vielleicht hatte Lina sich entschieden, bei ihrem Vater zu wohnen. Oder wohnte sie abwechselnd bei Vater und Mutter?
»Wir fahren hin«, sagte Lina plötzlich.
»Du musst doch lernen«, wandte ihr Vater ein.
»Das kann ich auch später noch.«
»Nun hör sich einer die an«, meinte Martin Nilsson und sah liebevoll seine Tochter an. Sie lebt, dachte er erneut. Vielleicht ist es ja gut für sie, wenn sie die Verwüstung in der Stadt sieht. Vater und Tochter hatten zwar hin und wieder über Bali gesprochen, aber nicht genug. Lina ging sicher so vieles durch den Kopf, das irgendwann herausmusste.
»Du musst es als einen Teil meiner Ausbildung sehen. Kommst du mit?«, fragte Lina und wandte sich an Marcus.
Er sah völlig übermüdet aus...
Erscheint lt. Verlag | 3.9.2018 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Ann Lindell |
Ein Fall für Ann Lindell | |
Übersetzer | Paul Berf |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nattskärran |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ann Lindell • Ann Lindell ermittelt • Ausländer • Ausländerfeindlichkeit • Brandanschlag • Eifersucht • Ein Fall für Ann Lindell • Einwanderer • Jugendliche • Kommissarin • Krimi • Kriminalroman • minderjährige Einwanderer • Mord • Rassismus • Schweden • Schwedenkrimi • unbegrenzte Einwanderung • Uppsala • weibliche Ermittlerin • Zerstörung • Zeuge |
ISBN-10 | 3-8412-1659-5 / 3841216595 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1659-5 / 9783841216595 |
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