Die stumpfe Ecke (eBook)
208 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-421-0 (ISBN)
Die 'Stumpfe Ecke' ist eine alte Arbeiterkneipe in Berlin. Bei einigen Bier kann man hier Lebensgeschichten erfahren, die sonst kaum zur Sprache kommen. Man erfährt etwas von Kohlen-Kalle und seinem Knochenjob, den Abenteuern eines umgeschulten Privatdetektivs, den kurzen Freuden eines Karnevalsprinzen, der Liebe zu einem Fußballclub und dem Ende des guten alten Landfilms.
Alexander Osang liefert keine Porträts im engen Sinne, sondern gesellschaftliche Momentaufnahmen, feinsinnige Reportagen über Ereignisse, bei denen die Menschen viel von sich preisgeben und seltene Einblicke ermöglichen.
In einem ausführlichen Gespräch mit dem Filmemacher und Autor Alexander Kluge beschreibt der mehrfach preisgekrönte Reporter Osang seine Arbeitsmethode, seine literarischen Vorbilder und seine neuen Erfahrungen in New York.
Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Seit 1999 berichtet er als Reporter für den Spiegel, acht Jahre lang aus New York, und bis 2020 aus Tel Aviv. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Er lebt heute mit seiner Familie in Berlin.
Sein Roman 'Fast hell' (Aufbau Verlag, 2021), stand mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sein Erzählungsband »Winterschwimmer« ist als Aufbau Taschenbuch lieferbar. Seit 30 Jahren erscheint sein essayistisches Werk im Ch. Links Verlag. Zuletzt erschien dort »Das letzte Einhorn. Menschen eines Jahrzehnts«.
Jahrgang 1962; Studium der Journalistik in Leipzig; Wirtschaftsredakteur, später Chefreporter der Berliner Zeitung; seit 1999 Reporter für den Spiegel, u.a. in New York und Tel Aviv; 1993, 1999, 2001 Egon-Erwin-Kisch-Preis, 1995 Theodor-Wolff-Preis, 2009 Auszeichnung als "Reporter des Jahres" durch das Medium Magazin; er veröffentlichte zahlreiche Bücher mit Reportagen und Porträts, Erzählungen und Romanen.
Vorwort
Über den Unterschied zwischen »Stumpfer Ecke« und »V.I.P.-Schaukel«
Einmal war ich Talkgast. Das Thema der Talkshow lautete: Kommunalpolitische Interessen und ihre lokaljournalistische Umsetzung oder so ähnlich. Klang langweilig, ich wußte nicht andeutungsweise, worum es gehen soll, habe aber aus lauter Eitelkeit zugesagt. Und, weil Regine Hildebrandt versprochen hatte, auch zu kommen. Leider fehlte sie zuerst. Da saßen nur ein CDU-Politiker aus Oranienburg, der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky, ein lustiger, älterer Professor aus Süddeutschland und jemand von einer Potsdamer Werbeagentur.
Die Diskussion begann etwas schleppend, aber dann kriegten sich der CDU-Mann und der lustige Professor in die Haare, und schließlich mischte sich auch Bisky ein. Nur der Mann von der Werbeagentur und ich hatten noch nichts gesagt. Ich hatte auch nicht das Bedürfnis. Ich trank Wasser, hoffte, daß mich jemand anspricht und dem Mann von der Werbeagentur auch nichts einfällt. Doch dann meldete er sich zu Wort und redete nicht einmal Unsinn, wie ich fand.
Das ganze begann mich an meine schlimmsten Seminare in Politischer Ökonomie zu erinnern, in denen ich heimlich durchzählte, wer außer mir noch nichts gesagt hatte. Es wurden immer weniger, immer weniger, bis ich schließlich ganz allein dasaß …
Ich goß Wasser nach und wartete auf eine Idee. Schließlich ging die Tür auf und Regine Hildebrandt stürzte herein, brüllte: »’N Abend. Tschuldigung, dit ick zu spät komme« und riß die Diskussion dankenswerterweise für eine Viertelstunde an sich. Sie beschimpfte Bonn, die CDU, den Westen und ein bißchen auch die Journalisten. Sie stocherte drohend mit dem Finger in meine Richtung, was meine erste Äußerung, ein kokettes Na-Na-Na-Räuspern, möglich machte, welches mir eigenartigerweise eine gewisse Erleichterung verschaffte. Ich hoffte, daß das Publikum vielleicht vergessen könnte, daß ich der einzige war, der noch nichts gesagt hatte.
Aber irgendwie lief dann alles weiter wie bisher, alle redeten, nur ich nicht, die Talkrunde näherte sich ihrem Ende, wahrscheinlich hielt man mich im Publikum für den Ziehungsleiter oder den Notar, mein Mineralwasser war schon lange alle, ich hatte immer noch keine Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Kommunalpolitik und Lokaljournalismus, da sprach mich die Moderatorin an. Ich lächelte in das große schwarze Loch.
Und redete los. Ich berichtete von der Unterhaltungsfunktion des Journalismus, davon, daß Politiker aber oft langweilige Sachen sagen, selbst Kommunalpolitiker, und sich deshalb nicht zu wundern brauchen, daß sie sich kaum in der Presse wiederfinden. Niemand widersprach, mehr noch, ich glaubte, in einer der hinteren Reihen ein zustimmendes Nicken erkannt zu haben. Ich redete weiter und weiter, schließlich endete ich mit der Feststellung, daß die Presse vor allem ein Gewerbe und im übrigen nur eine schlechte Nachricht überhaupt eine Nachricht sei.
Die erste Reihe guckte zweifelnd. Regine Hildebrandt bellte kurz: »Dabei sehen Sie ganz vernünftig aus, junger Mann«! Der Saal lachte. Mir fiel nichts ein. Die Moderatorin sprach das Schlußwort, dann meldete sich noch einmal Regine Hildebrandt und sprach ihr Schlußwort, dann war aus. Ein Alptraum ging zu Ende.
Das sollte mir nicht noch einmal passieren.
Von nun an sah ich Talkshows aus anderem Blickwinkel. Ich saß nicht mehr vorm Fernseher, ich saß bei Biolek im Korbstuhl, lümmelte auf Gottschalks Couch, stand bei Meyer an der Schranke. Ich gab Antworten. Ich trainierte Antworten. Schnell, schlagfertig, komisch. Die besten Antworten sind universell einsetzbar. Sie haben nichts mit der Frage zu tun. Was interessiert die Frage, wenn der Saal über die vermeintliche Antwort brüllt. Ich wußte nun, daß ich, statt blöd zu grinsen, Frau Hildebrandt ins Gesicht hätte schleudern müssen: »Gerade Sie müßten doch wissen, daß man Menschen nicht nach ihrem Äußeren einschätzen soll.«
Ich begriff, wie man zum perfekten Talkshowgast wird. Und endlich wußte ich auch, warum Prominente in Talkshows und in Interviews immer das gleiche erzählen. Die universell einsetzbaren Antworten!
Es ist ja so: Selbst der abgebrühteste Journalist behält immer ein wenig Hoffnung, daß er dem berühmten Menschen mehr entlockt, als alle anderen Reporter zuvor. Er bildet sich ein, bessere, intelligentere, überraschendere, andere Fragen zu stellen und dafür ehrlichere Antworten zu bekommen. Und die Prominenten tun auch so, als sei man der erste, dem sie das jetzt erzählen. Und natürlich spielt man mit. Obwohl man die Pointe mitsprechen könnte.
Gunter Emmerlich vertraute mir an, welche Augen sie in der ersten Reihe machten, als er Helga Hahnemann zurief, sie sei als Schokoladenmädchen nicht die einzige Fehlbesetzung im Lande. Hundertmal gelesener Beweis seiner Aufmüpfigkeit. Der Berliner Jugendsenator Thomas Krüger prahlt seit Jahren damit, daß er immer noch aus den sozialistischen Balladen von »Kuba«, Kurt Barthel, zitieren kann, und der Fußballer Frank Rohde berichtete mir, was ich aus der Zeitung wußte: Er hat im Politunterricht beim BFC Dynamo immer geschlafen. Ein verführerisch gutes Bild für sanften Widerstand.
Deshalb schreibt man es auch immer wieder auf. Die Journalisten sind die, die das Spiel begonnen haben. Sie fragen und fragen und fragen, sie zwingen die Prominenten zum Stereotyp. Weil, soviel neue Geschichten gibt’s nicht einmal in einem abwechslungsreichen Prominentenleben zu erleben.
Gut zu wissen, daß auch Journalisten in die von ihnen ausgelegten Fallen tappen. Sobald sie prominent sind. Als die Reporter der Berliner Zeitung einmal, was wirklich nur ganz selten vorkommt, ein Bier mit unserem Herausgeber Erich Böhme tranken, fragten wir ihn nach seiner Talkshow zum Thema »Outing«, die durch die Anwesenheit des völlig zugedröhnten, schwer lallenden Schauspielers Helmut Berger einen gewissen Kultstatus erlangte. Böhme überlegte einen Moment, lächelte kurz und sagte dann: »Was wollen Sie denn, das paßte doch zum Thema. Der Berger hat sich doch selbst geoutet.« Geradeso als sei ihm diese kleine Wortspielerei eben eingefallen, erzählte er es. Ein paar Tage später las ich in einem Wochen vorher geführten Stern-Interview mit Erich Böhme eben diesen Satz. Genau die gleiche Formulierung.
Manchmal trifft es einen nach all den Porträts immer noch wie am Anfang. Man will einfach nicht glauben, daß sie das alles schon zigmal erzählt haben. Daß man, je nach dem Bekanntheitsgrad seines Gesprächspartners, nur der dritte, vierte oder fünfzigste ist, dem er die Geschichte jetzt auftischt. Sie wissen ganz genau, was ankommt. Sie schmücken es aus, feilen an den Pointen, bis sie hundertprozentig passen, manchmal erzählen sie sie auch immer wieder deckungsgleich. Und irgendwann, wenn sie richtig bekannt sind, besteht ihr ganzes Leben aus kleinen lustigen Geschichten. Eine Perlenschnur von Anekdötchen, die sie hunderte Male erzählt haben.
Das ist ein bißchen tragisch für sie. Und ein bißchen langweilig für die Journalisten. Wenn man aber überlegt, was für interessante Lebensgeschichten, Beichten und einmalige Schicksale von weniger prominenten Menschen ein Reporter so wegwirft, ist es sogar ein bißchen ärgerlich.
Neulich habe ich Anton Odars Lebensbeichte weggeworfen.
Wir saßen in einer verräucherten Kneipe in Waltersdorf bei Berlin. Ein kleines Dorf, dem gegenüber ein riesiges hochmodernes Einkaufszentrum aus dem märkischen Acker gewachsen war. Ich recherchierte ein bißchen rum, redete mit dem halben Dorf und traf Odar in der »Hecke«, einer Imbißbude, in der man nicht weiß, ob einem vom ranzigen Pommesöl, dem Zigarettenqualm oder dem Bauarbeiterschweiß die Augen tränen. Weil das Flaschenbier billig ist und Odar sowieso den ganzen Tag zu Hause sitzt, kommt er manchmal abends hierher. Meistens sitzt er allein am Tisch, der neben der Getränkeluke steht. Er ist ein Außenseiter geblieben.
1940, als Odar sieben Jahre alt war, kam seine Familie aus Jugoslawien zurück ins Reich. Sie landete in Waltersdorf, sein Vater fand Arbeit im Flugzeugmotorenwerk, ging dann zum Volkssturm nach Berlin und wurde später von der sowjetischen Administration als »Verantwortlicher« herangezogen, weil er die russische Sprache von allen Dorfbewohnern am ehesten deuten konnte. »Er war ein ziemlich beweglicher Typ«, sagt Odar.
Sein Vater wurde LPG-Chef und 1950, als Odar siebzehn Jahre alt war, von einem LKW der Nationalen Front über den Haufen gefahren. Es war glatt, der LKW war irgendwie ins Schleudern gekommen und hatte den alten Odar vom Fahrrad gerissen. Sie luden ihn auf und fuhren ihn ins nahegelegene Krankenhaus Hedwigshöh, dort gab ihm eine Krankenschwester ein Bier und schickte ihn erst mal wieder nach Hause. Anton Odar hakte seinen Vater unter, gemeinsam stapften sie über die Felder zurück. Am nächsten Morgen war der Vater tot. An inneren Blutungen verstorben. Niemand stellte die Schuldfrage.
Odars Mutter begann als Reinigungskraft zu arbeiten, er selbst fing im Betonwerk Grünau als Anlagenfahrer an. Er heiratete, zeugte drei Kinder und tat alles dafür, daß sie studieren konnten. Sie studierten, heute sind sie arbeitslos. Wie die Eltern. Der Sohn, ein diplomierter Lebensmitteltechnologe, findet vielleicht, wenn alles gut geht, eine Arbeit als Tischler.
...Erscheint lt. Verlag | 31.5.2018 |
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Reihe/Serie | Literarische Publizistik |
Co-Autor | Alexander Kluge |
Illustrationen | Wulf Olm |
Zusatzinfo | 25 s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | 1. FC Union • Erich Schmidtke • Günther Krause • Reinhard Lauck • Seelow • Trabrennbahn Karlshorst • Wulf Olm |
ISBN-10 | 3-86284-421-8 / 3862844218 |
ISBN-13 | 978-3-86284-421-0 / 9783862844210 |
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