Neapolitanische Geschäfte (eBook)
246 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561956-8 (ISBN)
Attilio Veraldi, 1925 in Neapel geboren, schlug sich jahrzehntelang schreibend durch die Welt. Mailand, Stockholm, Trinidad, Rio de Janeiro, San Francisco und Mexiko waren Stationen seines bewegten Lebens. Später arbeitete Veraldi als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Amerikanischen und den skandinavischen Sprachen in Rom und Neapel. Er starb 1999.
Attilio Veraldi, 1925 in Neapel geboren, schlug sich jahrzehntelang schreibend durch die Welt. Mailand, Stockholm, Trinidad, Rio de Janeiro, San Francisco und Mexiko waren Stationen seines bewegten Lebens. Später arbeitete Veraldi als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Amerikanischen und den skandinavischen Sprachen in Rom und Neapel. Er starb 1999.
1
Beim Betreten dieser schäbigen Räume drehte sich mir stets aufs neue der Magen um, wenn mein Blick auf das wackelige und wurmstichige Mobiliar fiel, das mir von Mal zu Mal häßlicher erschien.
Und das waren nun die Geschäftsräume von Michele Miletti, einem der reichsten Männer Neapels, für den ich eine Menge Sachen zu erledigen hatte. Unter anderem mußte ich ihm jedes Jahr eine Steuererklärung zurechtschneidern, die aber immer ein paar Nummern zu eng war. Seine Garderobe war mir also mehr oder weniger bekannt:
Import-Export, um was es dabei genau ging, war nicht ganz klar, Schiffslieferungen, Schiffsagentur, Obst- und Gemüsegroßhandel, Bauunternehmen und verschiedene andere Dinge. Alles das wurde von diesen drei Zimmern in der Via Marina aus dirigiert.
Das Vorzimmer war gleichzeitig das Büro des Sekretärs Marullo. Einfach Marullo, der nackte Familienname, sonst nichts. Niemand redete ihn mit seinem Vornamen an, offenbar weil er von niemandem, von Miletti ganz bestimmt nicht, als vollwertiger Christenmensch angesehen wurde. Wenn man ihn so geduckt wie einen Buckligen, klein und verschrumpelt mit schuppiger Haut dasitzen sah, erschien er einem eher wie eine Art Echse.
»Don Michele?« fragte ich den hinter einem schreibtischähnlichen Gebilde hockenden Marullo.
Statt einer Antwort blickte er mich mit seiner immer etwas wütenden und angeekelten Miene an und deutete mit dem Kopf in die Richtung der Tür direkt vor mir. Das einzige, das ihn von dem erwähnten Tier unterschied, war sein Kopf, der fast größer war als sein Brustkorb mitsamt Buckel.
Ich ging in das zweite Zimmer, das eigentliche Wartezimmer. Die Einrichtung bestand aus armseligen Korbmöbeln, einem Tischchen, zwei Stühlen und einem kleinen Sofa, die vor undenklichen Zeiten einmal schwarz gewesen sein mußten. Da über der Tür, die in Milettis Büro führte, das rote Lämpchen brannte, setzte ich mich auf das Sofachen.
Außer dem Telefon war diese Art Verkehrsampel das einzige Zugeständnis, das Don Michele dem technischen Fortschritt schuldig zu sein glaubte. Sie war fast immer auf Rot gestellt, weil der Alte nie gestört sein wollte, vor allem wenn er allein war.
Doch an diesem Nachmittag war er nicht allein. Nach gut zwanzig Minuten öffnete sich die Tür, und aus ihr trat sich immer wieder verbeugend ein ziemlich kleiner alter Mann in einem verschlissenen dunklen Anzug, eine schwere Stoffmütze in der Hand, obwohl wir schon Juni hatten. Seine Katzbuckelei hätte fast dazu geführt, daß er gegen die andere Tür geknallt wäre.
Jetzt ertönte die Stimme, vielmehr das bronchitische Krächzen von Miletti:
»Iovine.« Mit seinen neunundsechzig Jahren qualmte er noch immer alle fünf Minuten eine Esportazione. »Kommt herein, Avvocato.«
Mit dem Titel eines Rechtsanwalts bedacht zu werden, war nichts besonderes und wollte im allgemeinen nichts besagen, jedenfalls nicht in Neapel. Oder durfte ich heute vielleicht annehmen, daß es sich um eine Art Beförderung handelte im Hinblick auf die Verhandlungen und Aufträge, die er mir anvertraute? Ich legte die uralte Nummer von ›Oggi‹ auf das Tischchen und ging hinein.
»Die Tür, Avvocato.«
Ich machte kehrt, um sie zu schließen, und setzte mich vor den alten dunklen Tisch, der ihm als Schreibtisch diente und den nur ein ewiger Optimist als ein ehemaliges Klostermöbel hätte identifizieren können: Dementsprechend war das ganze Zimmer so karg wie eine Franziskanerzelle eingerichtet. Zwei Korbstühle, die offensichtlich aus dem Warteraum stammten, vor dem Schreibtisch, in einer Ecke ein Folterinstrument von Rippenstuhl und ein grauer Metallschrank, der im Hinblick auf das übrige Mobiliar wie die Faust aufs Auge wirkte. Der hierzulande Savonarola genannte unbequeme Sitz war übrigens absurderweise in einem Rot gestrichen worden, das dem der Damasttapete an den Wänden entsprach.
Miletti saß ebenfalls auf einer Savonarola in Schwarz, offensichtlich äußerst unbequem, denn mit seinen unter dem Tisch baumelnden Füßen konnte er noch nicht einmal den Fußboden berühren. Aber auch diese Lächerlichkeit schmälerte in keiner Weise den Eindruck von Autorität, der vor allem von dem eiskalten Blick seiner blauen Augen ausging.
Für sein Alter war er erstaunlich schlank und straff, ohne die geringste Andeutung eines Bäuchleins, fast faltenlos, auch um die Augen herum. Nichts in seinem hageren Gesicht ließ auf sein Alter schließen. Doch direkt darunter hing ein unübersehbares zitterndes Etwas, das dem Betrachter ermöglichte, dem Eis dieser blauen Augen zu entgehen, die nur fixierten und sondierten: das Doppelkinn. Nein, es war mehr ein Dreifachkinn, das ein dreifaches Eigenleben hatte und völlig unabhängig bei jedem Wort vibrierte, zitterte und zuckte, und welches genauso auffällig war wie die außergewöhnliche Schlankheit dieses Mannes, der ungefähr ein Meter sechzig war.
»Ich wußte, daß Ihr nebenan wart. Im allgemeinen seid Ihr ja pünktlich.«
Tatsächlich hatte ich mich schon gefragt, woher er wissen konnte, daß ich draußen wartete.
Dann verkündete er: »Das eben war Catello, der Hausmeister meiner Villa oben auf dem Monte Faito. Er war aus demselben Grund hier, weswegen ich auch Euch habe kommen lassen.«
Diesen Morgen hatte er mich angerufen. Nicht in meinem Büro, weil er wußte, daß ich mich nicht dort aufhielt, sondern direkt unten in der Bar, wo ich im allgemeinen den ersten Teil meines Arbeitstages verbringe. Hier finde ich die Geschäftemacher, also meine kleinen Kunden. Direkt gegenüber ist das Finanzamt. Alles klar.
»Und hier der Grund.«
Er zog einen Fetzen Papier aus der Jackentasche seines grauen Anzugs – desselben Zweireihers, den er auch im Winter trug, es sei denn, er hatte zwei davon – und reichte es mir.
Es war ein Blatt Briefpapier, das sorgfältig durchgerissen worden war, denn man konnte deutlich die Spuren eines Fingernagels an einer Seite entdecken, und das paßte genau zu der Abneigung gegen Verschwendungen, die Haus und Firma Miletti beherrschten. Auf dem Papier war in einer ungleichmäßigen, fast noch kindlichen Schrift zu lesen: »Ich verrecke vor Empörung und Ekel, wenn ich auch nur noch eine weitere Minute in diesem Hause bleibe. Laß mich nicht suchen. Vergiß mich, wie ich dich vergesse. G.« Der Buchstabe G war kaum zu entziffern.
Ich gab ihm den Zettel zurück in Erwartung einer Erklärung und sagte nichts. Übrigens hatte ich überhaupt noch nicht den Mund aufgemacht, seit ich in diesem Zimmer war.
Er schien enttäuscht zu sein, denn was für ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen sein mußte, schien mich völlig kalt zu lassen.
»Ihr sagt nichts dazu?«
»Was soll ich dazu sagen, Don Michele?« Ob nun Zufall oder nicht, aber jedesmal schaffte er es, meinen Blutdruck in die Höhe zu treiben, und auch das Sausen in meinem linken Ohr stellte sich wieder ein, das mich mittlerweile schon ein Jahr quälte. Ein Superspezialist hatte es Tubenkatarrh genannt, um das saftige Honorar zu rechtfertigen, das ich ihm zahlen mußte. Mich davon zu befreien, darauf kam er nicht. »Ich nehme an, daß Ihre Tochter das geschrieben hat.« Seine derzeitige Frau – er war schon zweimal Witwer gewesen und einmal geschieden – hieß Tina, also T. »Wann haben Sie den Schrieb bekommen?«
»Ich habe ihn nicht bekommen, ich habe ihn gefunden.« Sein Gekrächze war etwas klarer geworden, und wenn das der Fall war und seine Stimme diesen Klang annahm, dann war es ein Beweis dafür, daß er sehr nervös war, und wenn Don Michele nervös war, dann war er unausstehlich. Auch sonst war er nicht gerade besonders sympathisch, doch alles in allem hatte er auch seine Vorzüge. Unter anderem war er nämlich mein einziger großer und wirklicher Klient und Auftraggeber.
»Gestern abend habe ich ihn gefunden, als ich nach Hause kam«, fuhr er fort. »Auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Und noch nicht einmal in einem geschlossenen Kuvert, Herrgottnochmal. Lag einfach so da, um alle in unsere Angelegenheiten schielen zu lassen. Zum Beispiel diese Schnüfflerin Idillia, um nur eine zu nennen.«
Idillia war seine Haushälterin, und mit diesem Namen konnte sie nur aus der Ecke um Venedig herum kommen. Sie war schon eine Ewigkeit bei ihm, und dennoch konnten sie sich nur mit Schwierigkeiten verständigen.
»Das ist doch wohl das geringere Übel«, bemerkte ich. Es mußte noch etwas Schlimmeres geben, denn sonst konnte ich mir seine Aufregung nicht erklären.
»Allerdings, das geringere«, wiederholte er meine Worte. »Zum Abendessen hat Giulia sich nicht eingestellt.« Bisher hatte er sie mir gegenüber niemals mit Namen genannt. Giulia war immer einzig und allein ›Meine Tochter‹ gewesen, wie ein Besitztum.
»Ihre Tochter?« fragte ich betont zurück, um die Dinge wieder in die rechte Ordnung zu rücken.
»Meine Tochter, jawohl.« Er hatte sie, als er schon ganz schön bei Jahren war, von seiner zweiten Frau bekommen, die bei der Geburt Giulias gestorben war, und er mußte ihr das Leben zur Hölle gemacht haben, einmal durch seinen herrischen Charakter und zum anderen durch die beiden nachfolgenden Heiraten.
»Noch nicht einmal in der Nacht ist sie zurückgekommen.«
»Haben Sie die Polizei verständigt?«
Er sah mich an, als sei ich eine Schabe. Sein Riesengewächs unter dem Kinn war in voller Aktivität, es vibrierte wie eine dreifache Membrane. Wenn er größer gewesen wäre, hätte er mich mit einem einzigen Fußtritt hinausbefördert.
»Und da sagt Ihr mir immer, daß ich leicht die Geduld verliere, Avvocato«, sagte er schließlich, ruhiger geworden. »Warum hätte ich sie verständigen sollen? Schmutzige Wäsche erledigt man im Familienkreis.« Ich...
Erscheint lt. Verlag | 29.12.2017 |
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Übersetzer | Heinrich Arndt |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alessandro Iovine • Attilio Veraldi • Auto • Belletristik • Domodossola • Don Michele • Don Nicola • Einfühlungsvermögen • Entführung • Formia • Halteplatz • Heuhaufen • Ironie • Italien • Krimi • Leihwagen • Mailand • Mietshaus • Miletti • Neapel • Nicola Casali • Piana • Pino Gargiulo • Polizei • Roman • Sonnenstrahl • Spannung • Tankstelle • Verbrechen • Zigarette |
ISBN-10 | 3-10-561956-9 / 3105619569 |
ISBN-13 | 978-3-10-561956-8 / 9783105619568 |
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