Der Kreidemann (eBook)
416 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-21415-9 (ISBN)
C.J. Tudor wuchs in Nottingham auf, wo sie auch heute mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter lebt. Ihr erster Thriller »Der Kreidemann« sorgte international für Furore und wurde in 40 Länder verkauft. Auch ihre nachfolgenden Thriller, alle im Goldmann Verlag erschienen, waren große SPIEGEL-Bestsellererfolge.
1986
»Heute gibt’s ein Gewitter, Eddie.«
Mein Dad liebte es, mit seiner tiefen autoritären Stimme das Wetter vorherzusagen, wie die Leute im Fernsehen. Er sprach jedes Mal mit absoluter Überzeugung, auch wenn er meist danebenlag.
Ich sah aus dem Fenster in den vollkommen blauen Himmel, so strahlend blau, dass man blinzeln musste.
»Sieht mir nicht nach einem Gewitter aus, Dad«, sagte ich mit einem Bissen Käsesandwich im Mund.
»Weil es keins geben wird«, sagte Mum, die plötzlich lautlos wie ein Ninja-Krieger in die Küche gekommen war. »Die BBC sagt, das ganze Wochenende wird warm und sonnig … und sprich nicht mit vollem Mund, Eddie«, fügte sie hinzu.
»Hmmmm«, machte Dad, wie immer, wenn er anderer Meinung war als Mum, ihr aber nicht zu widersprechen wagte.
Niemand wagte Mum zu widersprechen. Mum war – und ist – irgendwie unheimlich. Sie war groß, hatte kurzes dunkles Haar und braune Augen, die vor Vergnügen funkeln konnten oder fast schwarz wurden, wenn sie wütend war (und ähnlich wie den unglaublichen Hulk wollte niemand sie wütend machen).
Mum war Ärztin, aber keine normale Ärztin, die den Leuten wieder ihre Beine annähte oder einem irgendwelche Spritzen gab. Dad hat mir mal erzählt, dass sie »Frauen hilft, die in der Klemme sind«. Was genau das sein sollte, sagte er nicht, aber ich nahm an, es musste schon was ziemlich Schlimmes sein, wenn man dafür einen Arzt brauchte.
Dad arbeitete auch, aber von zu Hause aus. Er schrieb für Zeitschriften und Zeitungen. Doch nicht immer. Manchmal stöhnte er, niemand wolle ihm Arbeit geben, oder meinte mit bitterem Lachen: »Diesen Monat einfach nicht mein Publikum, Eddie.«
Als Kind kam es mir nicht so vor, als hätte er einen »richtigen Job«. Nicht für einen Dad. Ein Dad sollte Anzug und Krawatte tragen und morgens zur Arbeit gehen und abends zum Essen nach Hause kommen. Mein Dad ging zur Arbeit ins Gästezimmer und setzte sich manchmal sogar ungekämmt in Schlafanzug und T-Shirt an den Computer.
Mein Dad sah auch nicht aus wie andere Dads. Er hatte einen Zottelbart und lange, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare. Er trug abgeschnittene Jeans mit Löchern drin, sogar im Winter, und verwaschene T-Shirts mit den Namen alter Bands wie Led Zeppelin oder The Who. Manchmal trug er auch Sandalen.
Fat Gav nannte meinen Dad einen »beknackten Hippie«. Wahrscheinlich hatte er damit recht. Aber damals empfand ich das als Beleidigung und schubste ihn, worauf er mich brutal zu Boden stieß und ich zerschrammt und mit blutiger Nase nach Hause wankte.
Später vertrugen wir uns natürlich wieder. Fat Gav konnte ein richtiger Mistkerl sein – einer dieser Fettklöße, die immer die Lautesten und Fiesesten sein müssen, um die echten Schlägertypen auf Abstand zu halten – aber er war auch einer meiner besten Freunde und so treu und großzügig wie sonst keiner, den ich kannte.
»Kümmere dich um deine Freunde, Eddie Munster«, sagte er einmal feierlich zu mir. »Freunde sind das Wichtigste.«
Eddie Munster war mein Spitzname. Weil ich mit Nachnamen Adams hieß, wie in Addams Family. Natürlich hieß der Junge in der Addams Family Pugsley, und Eddie Munster war aus The Munsters, aber damals schien es irgendwie logisch und blieb, wie es mit Spitznamen so geht, an mir hängen.
Eddie Munster, Fat Gav, Metal Mickey (wegen seiner riesigen Zahnspange), Hoppo (David Hopkins) und Nicky. Das war unsere Gang. Nicky hatte keinen Spitznamen, weil sie ein Mädchen war, auch wenn sie sich alle Mühe gab, das zu verbergen. Sie fluchte wie ein Junge, kletterte auf Bäume wie ein Junge und prügelte sich fast so gut wie die meisten Jungen. Aber sie sah schon wie ein Mädchen aus. Ein echt hübsches Mädchen mit langen roten Haaren und blasser Haut voller Sommersprossen. Nicht dass mir das wirklich aufgefallen wäre oder so.
An diesem Samstag waren wir verabredet. Samstags trafen wir uns fast immer, entweder bei einem von uns zu Hause oder auf dem Spielplatz, manchmal auch im Wald. Aber an diesem Samstag war Jahrmarkt, also was Besonderes. Der wurde einmal im Jahr veranstaltet, in dem Park am Fluss. Und dieses Jahr durften wir zum ersten Mal allein dahin, ohne Erwachsene, die auf uns aufpassten.
Wir hatten uns seit Wochen darauf gefreut. Überall in der Stadt hingen die Plakate, auf denen Autoscooter, ein Meteor, ein Piratenschiff und eine Rakete angekündigt wurden. Sah spitze aus.
»Ich treff mich um zwei mit den anderen vorm Park«, nuschelte ich, während ich den Rest meines Käsesandwiches verschlang.
»Bleib auf der Hauptstraße, wenn du da hingehst«, mahnte Mum. »Nimm keine Abkürzungen, sprich mit keinem, den du nicht kennst.«
»Ist gut.«
Ich rutschte vom Stuhl und rannte zur Tür.
»Und nimm deine Gürteltasche mit.«
»Oh, Muuuum.«
»Und was, wenn dir auf dem Karussell das Portemonnaie aus der Hosentasche fällt? Keine Widerrede. Du nimmst die Gürteltasche.«
Ich machte den Mund auf und wieder zu. Meine Wangen brannten. Ich hasste diese blöde Gürteltasche. Fette Touristen trugen Gürteltaschen. Kein Mensch würde das cool finden, vor allem Nicky nicht. Doch wenn Mum so war, hatte man keine Chance.
»Okay.«
Das war es nicht, aber ich sah die Uhr in der Küche auf zwei vorrücken und musste los. Ich lief die Treppe rauf, schnappte die blöde Gürteltasche und schob mein Geld rein. Fünf Pfund. Ein Vermögen. Dann rannte ich wieder nach unten.
»Bis nachher.«
»Viel Spaß.«
Den würde ich mir nicht nehmen lassen. Die Sonne schien. Ich hatte mein Lieblings-T-Shirt und die Converse an. Schon glaubte ich das ferne Wummern der Jahrmarktsmusik zu hören und den Duft von Hamburgern und Zuckerwatte zu riechen. Heute konnte nichts schiefgehen.
Fat Gav, Hoppo und Metal Mickey warteten schon am Eingang, als ich kam.
»Hey, Eddie Munster. Hübsches Täschchen!«, kreischte Fat Gav.
Ich lief dunkelrot an und zeigte ihm den Mittelfinger. Hoppo und Metal Mickey kicherten über Fat Gavs Scherz. Hoppo, der immer der Netteste und der Friedensstifter war, sagte zu Fat Gav: »Immerhin sieht die nicht so schwul aus wie deine Shorts, Sackgesicht.«
Fat Gav packte grinsend seine Shorts am Saum und schmiss die Stummelbeine hoch wie eine Ballerina. So war das mit Fat Gav. Man konnte ihn nicht beleidigen, weil ihm einfach alles egal war. Jedenfalls erweckte er bei allen diesen Eindruck.
»Außerdem«, sagte ich, weil ich trotz Hoppos Ablenkungsmanöver immer noch fand, dass die Gürteltasche blöd aussah, »trage ich sie gar nicht.«
Ich löste die Schnalle, steckte das Portemonnaie in die Hosentasche und sah mich um. Die Hecke um den Park schien mir ein gutes Versteck. Da stopfte ich die Gürteltasche rein, damit keiner sie im Vorbeigehen sah, aber nicht so tief, dass ich sie später nicht wieder herausholen konnte.
»Willst du die wirklich dalassen?«, fragte Hoppo.
»Ja, und wenn deine Mummy das erfährt?«, säuselte Metal Mickey höhnisch.
Er war zwar in unserer Gang und Fat Gavs bester Freund, trotzdem konnte ich Metal Mickey nicht leiden. Er hatte was an sich, das so kalt und hässlich war wie die Zahnspange in seinem Mund. Aber wenn man an seinen Bruder dachte, war das eigentlich keine große Überraschung.
»Ist mir egal«, log ich schulterzuckend.
»Uns auch«, sagte Fat Gav ungeduldig. »Können wir jetzt diese dämliche Tasche vergessen und endlich reingehen? Ich will als Erstes zum Orbiter.«
Metal Mickey und Hoppo setzten sich in Bewegung – wir machten eigentlich immer, was Fat Gav wollte. Wahrscheinlich weil er der Größte und Lauteste war.
»Aber Nicky ist noch nicht da«, sagte ich.
»Na und?«, gab Metal Mickey zurück. »Die kommt immer zu spät. Lass uns gehen. Die findet uns schon.«
Mickey hatte recht. Nicky kam wirklich immer zu spät. Andererseits war das so nicht abgemacht. Wir sollten alle zusammenbleiben. Allein war man auf dem Jahrmarkt nicht sicher. Besonders als Mädchen.
»Wir geben ihr noch fünf Minuten«, sagte ich.
»Du hast sie wohl nicht mehr alle!«, schrie Fat Gav und fuchtelte wütend herum wie einst John McEnroe, was aber bei seiner Figur ziemlich albern aussah.
Fat Gav machte dauernd irgendwen nach. Hauptsächlich Amerikaner. Und immer so schlecht, dass wir uns vor Lachen kaum noch einkriegten.
Metal Mickey lachte nicht ganz so laut wie Hoppo und ich. Er mochte es nicht, wenn er das Gefühl hatte, die Gang sei gegen ihn. Aber egal, es spielte keine Rolle, weil wir gerade aufgehört hatten zu lachen, als eine vertraute Stimme fragte: »Was ist denn so komisch?«
Wir drehten uns um. Nicky kam den Hügel hinauf auf uns zu. Wie immer bekam ich bei ihrem Anblick ein komisches Gefühl im Bauch. So eine Art Mischung aus Hunger und Übelkeit.
Heute trug sie ihre roten Haare offen, sie hingen wild durcheinander fast bis an den Bund ihrer zerfransten Jeans. Sie hatte eine ärmellose gelbe Bluse an, mit blauen Blümchen um den Kragen. Ich sah etwas Silbernes an ihrem Hals aufblinken. Ein kleines Kreuz an einer Kette. Über ihrer Schulter hing ein großer und schwer aussehender Jutebeutel.
»Du bist spät dran«, maulte Metal Mickey. »Wir haben auf dich gewartet.«
Als ob das seine Idee gewesen wäre.
»Was hast du in dem Beutel?«, fragte Hoppo.
»Ich soll diesen Scheiß hier für meinen Dad unter die Leute bringen.«
Sie nahm ein Flugblatt aus dem Beutel und zeigte es...
Erscheint lt. Verlag | 29.5.2018 |
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Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Chalk Man |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | eBooks • Hang Man • Kreide • Kreidemann • Psychothriller • Strichmännchen • Südengland • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-21415-7 / 3641214157 |
ISBN-13 | 978-3-641-21415-9 / 9783641214159 |
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