Ewige Schuld (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490347-7 (ISBN)
Linda Castillo wuchs in Dayton im US-Bundesstaat Ohio auf, schrieb bereits in ihrer Jugend ihren ersten Roman und arbeitete viele Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Die Zahlen der Toten« (2010), dem ersten Kriminalroman mit Polizeichefin Kate Burkholder. Linda Castillo kennt die Welt der Amischen seit ihrer Kindheit und ist regelmäßig zu Gast bei amischen Gemeinden. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und zwei Pferden auf einer Ranch in Texas.
Linda Castillo wuchs in Dayton im US-Bundesstaat Ohio auf, schrieb bereits in ihrer Jugend ihren ersten Roman und arbeitete viele Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Die Zahlen der Toten« (2010), dem ersten Kriminalroman mit Polizeichefin Kate Burkholder. Linda Castillo kennt die Welt der Amischen seit ihrer Kindheit und ist regelmäßig zu Gast bei amischen Gemeinden. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und zwei Pferden auf einer Ranch in Texas. Helga Augustin hat in Frankfurt am Main Neue Philologie studiert. Von 1986 - 1991 studierte sie an der City University of New York und schloss ihr Studium mit einem Magister in Liberal Studies mit dem Schwerpunkt ›Translations‹ ab. Die Übersetzerin lebt in Frankfurt am Main.
lässt die Autorin unterschwelliges Grauen aufkeimen, das im Laufe der Geschichte den Leser immer mehr an der Gurgel packt und ihm diese zunehmend zuschnürt
spannende[r] Kriminalfall.
1. Kapitel
Die überdachte Tuscawaras-Brücke ist ein Wahrzeichen von Painters Mill. Im Frühjahr und Sommer strömen Touristen die sonst kaum befahrene Landstraße entlang, um sie zu fotografieren, mit ihren Enkeln zu picknicken oder einfach über die alte Holzkonstruktion zu spazieren und sich vorzustellen, wie die Menschen hier vor einhundertfünfzig Jahren gelebt haben. An diesem Ort schlossen Paare den Bund fürs Leben, Kinder wurden gezeugt und Fotos fürs Highschool-Jahrbuch geschossen. Amische stehen regelmäßig mit ihrem Fuhrwerk auf dem Schotterplatz am Straßenrand, um Backwaren und frisches Gemüse an die Englischen zu verkaufen, die gern bereit sind, für eine Kostprobe des schlichten Lebens ein paar Dollar zu berappen.
Ich bin in den vergangenen Jahren schon unzählige Male über die Brücke gelaufen, habe ihre Konstruktion bewundert, ihre historische Bedeutung gewürdigt und auch nie vergessen, dass der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für unsere Stadt ist. Und welche Größenordnung er einnimmt, war klar und deutlich in der Stimme des Bürgermeisters, Auggie Brock, zu vernehmen, als er mich heute morgen anrief. In letzter Zeit ist die Brücke nämlich nicht mehr nur ein beliebtes Ausflugsziel für Einheimische und Touristen, sie wird zunehmend auch von Graffitikünstlern und diversen anderen Leuten aufgesucht, die dort ihren illegalen Aktivitäten nachgehen. Ich weiß jetzt schon, dass mir der Stadtrat spätestens heute Abend im Nacken sitzt.
Ich parke mit meinem Dienstwagen am Straßenrand und nehme einen letzten Schluck aus meinem Kaffeebecher. Beim Aussteigen begrüßt mich der Gesang eines einsamen Kardinals in den Kronen der Bäume, die auf dem Grünstreifen entlang des Painters Creek stehen. Im dunstigen Licht der Sonne sehe ich den schmalen Pfad, der hinunter zum Flussufer führt.
Auf dem Weg zur Brücke knirscht Schotter unter meinen Füßen. Als ich sie betrete, werde ich von Schatten umhüllt. Die Gerüche von uraltem Holz, vom schlammigen Nass des Flusses darunter und vom frischen Frühlingslaub begleiten mich beim Gang zur anderen Seite. In den Dachsparren über mir gurren Tauben, ihre Exkremente verschandeln die Fensterbänke der sechs Fenster in der Holzkonstruktion.
Auf halbem Weg zur anderen Seite entdecke ich die Graffiti, und Empörung überkommt mich angesichts ihrer Hirnlosigkeit. Es ist der übliche Mist: Fick dich. Leck mich. Panthers sind scheiße (die Panthers sind das Highschool-Footballteam). Und sogar ein Hakenkreuz. Alles wahllos hingesprüht in Farben von Königsblau bis leuchtend Orange. Aber zu meiner Erleichterung keine Symbole von Gangs. Von dieser Form der Kriminalität ist Painters Mill trotz des kürzlichen Auftauchens eines blühenden Meth-Handels bislang verschont geblieben.
Ich gehe zum nächsten Fenster und blicke in den Fluss fünf Meter unter mir. Das moosgrüne Wasser mäandert sanft plätschernd Richtung Süden. Ein Sonnenbarsch blitzt silbern auf. Keinen Meter unter der Oberfläche schimmern Felsbrocken durch. In der Flussmitte ist das Wasser olivgrün und tiefer. Ich weiß das, weil ich vor achtzehn Jahren als Mutprobe aus diesem Fenster gesprungen bin. Als ich pitschnass und nach Flusswasser stinkend nach Hause kam, verstand meine Mamm zwar nicht, warum ich das gemacht hatte, aber ich durfte die Kleider wechseln, bevor mein Datt vom Feld zurückkam. Sie wusste, dass er Jugendsünden manchmal zu hart bestrafte.
Als ich das andere Ende der Brücke erreiche, fliegt eine Taube auf. Das aufgeregte Zischen ihres Flügelschlags fügt sich harmonisch in den Gesang der Vögel im Wald. Ich drehe mich um und sehe zurück. Der Explorer brät in der Sonne, der abkühlende Motor tickt, und heiße Luft steigt von der Motorhaube auf wie Dampf aus einer Kaffeetasse.
Eigentlich bin ich nicht überrascht, einen so idyllischen, ehrwürdigen Ort wie diesen mit Graffiti beschmiert vorzufinden. Denn obwohl ich als Amische aufgewachsen bin, war mir der Rest der Welt bei weitem nicht so fremd, wie meine Eltern es gern gehabt hätten. Ich habe selbst einigen Mist verzapft und gehörte für kurze Zeit auch zu jenen rücksichtslosen, wütenden Teenagern, die sich unbedingt hervortun wollten, auch wenn es destruktiv oder selbstzerstörerisch war.
Auf dem Weg zurück zur Brückenmitte blicke ich hoch zu den Dachsparren, wo ein riesiges rotes Hakenkreuz auf mich herabgrinst. Kopfschüttelnd stelle ich mir vor, wie ein besoffener Idiot mit einem Haufen Stroh im Hirn auf der Ladefläche seines Pick-ups steht mit einer Sprühdose in der Hand. Wer immer das war, hatte es nicht eilig. Er hat sich Zeit gelassen und Stellen ausgesucht, die nicht so leicht zu erreichen sind.
Ich gehe weiter und frage mich, was dieser Ort in den vielen Jahren wohl alles schon gesehen hat. Als ich ein Kind war, hatte mir meine Großmuder erzählt, dass es Orte gibt, die besondere Erinnerungen hervorrufen. Damals hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach, und es hatte mich auch nicht interessiert. Erst jetzt, als Erwachsene, weiß ich ihre Weisheit zu schätzen.
Als ich an einem der Fenster vorbeikomme, fällt mein Blick auf die vielen Dutzend Initialen, die in die uralten Balken und Bretter geritzt sind. Die meisten wurden mehrmals überritzt, und ein paar davon kenne ich. Irgendwo müssen auch meine eigenen Initialen und die meiner damals besten Freundin, Mattie, sein, aber ich kann sie nicht finden.
Die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, bin ich in meine Tagträume versunken, als ein Motorengeräusch mich zurück in die Gegenwart holt. Ich richte mich auf und sehe, wie das Cadillac-Coupé des Bürgermeisters hinter meinem Explorer hält. Die Fahrertür geht auf, der Bürgermeister hievt sich heraus und schlägt die Tür hinter sich zu.
Ich lasse die Vergangenheit hinter mir und gehe ihm entgegen. »Guten Morgen, Auggie.«
»Hallo, Chief.« Bürgermeister Auggie Brock ist ein korpulenter Mann mit Wangen wie ein Bluthund und Augenbrauen, die sein Friseur beharrlich ignoriert. Er trägt einen Anzug von JCPenney, ein lila, bereits zerknittertes Hemd und eine Krawatte, die ich niemandem antun würde.
»Tut mir leid, ich bin spät dran.« Einen Kaffeebecher aus LaDonna’s Diner in der Hand, betritt er die Brücke. »Hab in einer Stadtratssitzung festgesessen. Wir wären schon vor einer Stunde fertig gewesen, wenn Janine Fourman sich nicht wieder über das Graffiti-Problem ausgelassen hätte. Die Frau redet wie ein Wasserfall.«
Der Gedanke an Stadträtin Fourman lässt mich innerlich stöhnen. Wir haben über die Jahre schon öfter miteinander zu tun gehabt, und es war kein einziges Mal angenehm. »Sie haben mein ganzes Mitgefühl.«
Er bleibt neben mir stehen. Ich kann den Kaffee in seinem Becher riechen und das Aftershave von Polo, das er nach der morgendlichen Dusche aufgetragen hat. Er ist etwas kleiner als ich und wirkt wie ein Fuchs, der von Jagdhunden gehetzt wird.
»Die Vorsitzende vom Geschichtsverein war auch da, Kate. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass sie mit der Situation sehr unzufrieden ist.« Er sieht an mir vorbei und macht eine so ruckartige Handbewegung, dass Kaffee aus der Öffnung des Bechers schwappt. »Haben Sie sich das mal angesehen?«
»Es ist schwer zu übersehen.«
Er sieht mich an, als frage er sich gerade, ob ich ihn ernst nehme. Was ich durchaus tue. Normalerweise kann ich ihm ein Lächeln entlocken, auch wenn wir unangenehme Dinge oder Probleme besprechen, aber heute morgen scheint das aussichtslos.
»Himmelherrgott, ein Hakenkreuz?«, sagt er. »Wer schmiert denn so ein Zeug an die Wände?«
»Junge Leute mit zu viel Zeit.« Ich zucke die Schultern. »Die zu wenig Verantwortung tragen oder schlecht erzogen sind oder auch beides.«
»Haben Jugendliche denn heute keine Jobs mehr?« Er geht zum Fenster und zeigt auf eine besonders obszöne Schnitzerei. »Kate, wir haben gerade achttausend Dollar für den Anstrich der Brücke ausgegeben. Das war das zweite Mal in drei Jahren. Wir haben kein Geld, um sie schon wieder streichen zu lassen. Die Leute vom Geschichtsverein machen mir die Hölle heiß.«
»Verstehe«, sage ich diplomatisch.
»Wir müssen verhindern, dass hier weiter Graffitis gesprüht werden. Himmelherrgott, ganze Grundschulklassen machen Ausflüge hierher! Oder können Sie sich vorstellen, wie ein Lehrer sich fühlt, wenn er dieses vulgäre Wort hier sieht? Ich hab erst in der Armee begriffen, was es bedeutet. Wenn ein Sechsjähriger anfängt, so zu reden, haben wir ganz schnell eine Klage am Hals, und dann?«
»Auggie, vielleicht können wir ja ein paar Freiwillige dazu kriegen, die Sachen zu überstreichen«, schlage ich vor. »Einige meiner Leute wären bestimmt dazu bereit. Das schaffen wir schon.«
»Das waren bestimmt die kleinen Scheißer von der Maple-Crest-Siedlung«, knurrt er. »Diese Highschool-Kids haben einfach keinen Respekt. Wir sollten endlich mal was unternehmen, Kate. Eine gemeinsame Aktion, um sie zu erwischen.«
»Ich könnte Pickles auf sie ansetzen«, sage ich. Mein ältester Officer, Roland »Pickles« Shumaker, gilt als jemand, der bei allen unter dreißig hart durchgreift. Bis...
Erscheint lt. Verlag | 27.6.2018 |
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Reihe/Serie | Kate Burkholder ermittelt | Kate Burkholder ermittelt |
Übersetzer | Helga Augustin |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amisch • Böse Seelen • Entführung • Geiselnahme • Geständnis • Glaube • Grausame Nacht • Mörder • Ohio • Religion • Texas • USA |
ISBN-10 | 3-10-490347-6 / 3104903476 |
ISBN-13 | 978-3-10-490347-7 / 9783104903477 |
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