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Liebe deinen Nächsten (eBook)

Roman

(Autor)

Thomas F. Schneider (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
560 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31751-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Liebe deinen Nächsten -  E.M. Remarque
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»Selbst dort, wo er zurückblickt, ist es die Gegenwart, die er anspricht.« Wilhelm von Sternburg über Erich Maria Remarque. Das Schicksal einer kleinen Gruppe politischer Flüchtlinge in den Jahren 1937-1938: Auf der Flucht in die Schweiz über Wien und Prag sind sie auch im benachbarten Ausland nicht vor der Verfolgung durch die Nazis sicher. Umgeben von Denunzianten, ohne Pass und Wohnung werden sie in die Illegalität getrieben. In Paris spitzt sich ihre Situation dramatisch zu. »Das Buch hat etwas von der Qualität der Bergpredigt, etwas von der Einfachheit aller großen Poesie.« Chicago Daily News

Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1939 lebte Remarque in den USA und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin.

Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1939 lebte Remarque in den USA und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin. Thomas F. Schneider, Leiter des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums an der Universität Osnabrück, veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Kriegs- und Antikriegsliteratur im 20. Jahrhundert und zur Exilliteratur. Er hat die Romane Erich Maria Remarques einer kritischen Durchsicht unterzogen und jeweils mit Anhang, Nachwort und weiterführender Literatur versehen.

Erster Teil


I


Kern fuhr mit einem Ruck aus schwarzem, brodelndem Schlaf empor und lauschte. Er war, wie alle Gehetzten, sofort ganz wach, gespannt und bereit zur Flucht. Während er unbeweglich, den schmalen Körper schräg vorgeneigt, im Bette saß, überlegte er, wie er entkommen könnte, wenn der Aufgang schon besetzt wäre.

Das Zimmer lag im vierten Stock. Es hatte ein Fenster nach der Hofseite, aber keinen Balkon und kein Gesims, von denen aus die Dachrinne zu erreichen gewesen wäre. Nach dem Hofe zu war eine Flucht also unmöglich. Es gab nur noch einen Weg: über den Korridor zum Dachboden und über das Dach hinweg zum nächsten Hause.

Kern sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war kurz nach fünf. Das Zimmer war noch fast finster. Grau und undeutlich schimmerten die Laken der beiden anderen Betten durch die Dunkelheit. Der Pole, der an der Wand schlief, schnarchte.

Vorsichtig glitt Kern aus dem Bett und schlich zur Tür. Im selben Augenblick rührte sich der Mann, der im mittleren Bette lag. »Ist was los?« flüsterte er.

Kern gab keine Antwort; er hielt das Ohr an die Tür gepreßt.

Der andere richtete sich auf. Er wühlte in den Sachen, die am Pfosten des eisernen Bettgestells hingen. Eine Taschenlampe blitzte auf und fing in ihrem fahlen, zitternden Lichtkreis ein Stück der braunen, abgeblätterten Tür und die Gestalt Kerns, der mit wirrem Haar und zerdrücktem Unterzeug am Schlüsselloch lauschte.

»Verdammt, sag, was los ist!« zischte der Mann im Bett.

Kern richtete sich auf. »Ich weiß nicht. Bin aufgewacht, weil ich irgendwas gehört habe.«

»Irgendwas! Was irgendwas, du Dummkopf?«

»Irgendwas unten. Stimmen, Schritte oder sowas.«

Der Mann stand auf und kam zur Tür. Er hatte ein gelbliches Hemd an, unter dem im Schein der Taschenlampe ein Paar stark behaarte, muskulöse Beine hervorkamen. Er horchte eine Weile. »Wie lange wohnst du schon hier?« fragte er dann.

»Zwei Monate.«

»War in der Zeit schon mal ’ne Razzia?«

Kern schüttelte den Kopf.

»Aha! Wirst dich dann wohl verhört haben. Ein Furz im Schlaf klingt ja manchmal wie ein Donnerschlag.«

Er leuchtete Kern ins Gesicht. »Na ja, knapp zwanzig, was? Emigrant?«

»Natürlich.«

»Jesus Christus tso siem stalo –« gurgelte plötzlich der Pole in der Ecke.

Der Mann im Hemd ließ den Lichtkreis hinüberwandern. Ein schwarzes Bartgestrüpp mit aufgerissener Mundhöhle und aufgerissenen Augen unter buschigen Brauen tauchte aus dem Dunkel auf.

»Halt’s Maul mit deinem Jesu Christo, Pollak«, knurrte der Mann mit der Taschenlampe. »Der lebt nicht mehr. Ist als Kriegsfreiwilliger an der Somme gefallen.«

»Tso?«

»Da! Da ist es wieder!« Kern sprang zum Bett. »Sie kommen von unten! Wir müssen übers Dach!«

Der andere drehte sich wie ein Kreisel um. Man hörte Türen klappen und gedämpfte Stimmen. »Verflucht! Raus! Polski, raus! Polizei!«

Er riß seine Sachen vom Bett. »Weißt du den Weg?« fragte er Kern.

»Ja. Rechts, den Korridor entlang! Die Treppe hinter dem Ausguß rauf!«

»Los!« Der Mann im Hemd öffnete lautlos die Tür.

»Matka boska!« gurgelte der Pole.

»Halt’s Maul! Verrat’ nichts!«

Der Mann zog die Tür zu. Kern und er huschten den schmalen, schmutzigen Korridor entlang. Sie liefen so leise, daß sie den schlecht zugedrehten Wasserhahn über dem Ausguß tröpfeln hörten.

»Hier rum!« flüsterte Kern, bog um die Ecke und rannte gegen etwas. Er taumelte, sah eine Uniform und wollte zurück. Im gleichen Augenblick bekam er einen Schlag auf den Arm. »Stehen bleiben! Hände hoch!« kommandierte jemand aus dem Dunkel.

Kern ließ seine Sachen zu Boden rutschen. Sein linker Arm war taub von dem Schlag, der den Ellenbogen getroffen hatte. Der Mann im Hemd sah eine Sekunde lang so aus, als wolle er sich in das Dunkel auf die Stimme stürzen. Aber dann blickte er auf den Lauf des Revolvers, der ihm von einem zweiten Beamten gegen die Brust gehalten wurde, und hob langsam die Arme.

»Umdrehen!« kommandierte die Stimme. »Ans Fenster stellen!«

Die beiden gehorchten.

»Sieh nach, was in den Brocken ist«, sagte der Polizist mit dem Revolver.

Der zweite Beamte untersuchte die Kleider, die auf dem Boden lagen. »Fünfunddreißig Schillinge – eine Taschenlampe – eine Pfeife – ein Taschenmesser – ein Lausekamm – sonst nichts –«

»Keine Papiere?«

»Paar Briefe oder sowas –«

»Keine Pässe?«

»Nein.«

»Wo habt ihr eure Pässe?« fragte der Polizist mit dem Revolver.

»Ich habe keinen«, erwiderte Kern.

»Natürlich!« Der Polizist stieß dem Mann im Hemd den Revolver in den Rücken. »Und du? Muß man dich extra fragen, du Hurensohn?« sagte er.

Die beiden Polizisten sahen sich an. Der ohne Revolver fing an zu lachen. Der andere leckte sich die Lippen. »Sieh mal an, ein feiner Herr!« sagte er langsam, »Exzellenz, der Stromer! General Stinktier!« Er holte plötzlich aus und schlug dem Mann die Faust gegen das Kinn. »Hände hoch!« brüllte er, als der andere taumelte.

Der Mann sah ihn an. Kern glaubte noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben. »Dich meine ich, du Scheißerl« sagte der Polizist. »Wird’s bald? Oder soll ich dir dein Gehirn noch mal aufschütteln?«

»Ich habe keinen Paß«, sagte der Mann.

»Ich habe keinen Paß«, äffte der Polizist nach. »Natürlich, Herr Hurensohn hat keinen Paß. Konnte man sich ja wohl denken! Los, anziehen, aber flott!«

Eine Gruppe Polizisten lief den Korridor entlang. Sie rissen die Türen auf. Einer mit Achselstücken kam heran. »Was habt ihr denn da?«

»Zwei Vögel, die übers Dach verduften wollten.«

Der Offizier betrachtete die beiden. Er war jung. Sein Gesicht war schmal und blaß. Er trug einen sorgfältig gestutzten, kleinen Schnurrbart und roch nach Toilettewasser. Kern erkannte es; es war Eau de Cologne 4711. Sein Vater hatte eine Parfümfabrik gehabt, daher wußte er so etwas.

»Die beiden werden wir uns mal besonders vornehmen«, sagte der Leutnant. »Handschellen!«

»Ist es der Wiener Polizei erlaubt, bei Verhaftungen zu schlagen?« fragte der Mann im Hemd.

Der Offizier sah auf. »Wie heißen Sie?«

»Steiner. Josef Steiner.«

»Er hat keinen Paß und hat uns bedroht«, erklärte der Polizist mit dem Revolver.

»Es ist noch viel mehr erlaubt, als Sie denken«, sagte der Offizier kurz.

»Marsch, runter!«

Die beiden zogen sich an. Der Polizist holte Handschellen hervor. »Kommt, ihr Lieblinge! So, jetzt seht ihr schon besser aus. Passen wie nach Maß.«

Kern spürte den Stahl kühl an seinen Gelenken. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er gefesselt wurde. Die Stahlreifen hinderten ihn beim Gehen nicht sehr. Aber ihm schien, als fesselten sie mehr als nur seine Hände.

 

Draußen war es früher Morgen. Vor dem Hause hielten zwei Polizeicamions. Steiner verzog das Gesicht. »Begräbnis erster Klasse! Nobel, was, Kleiner?«

Kern antwortete nicht. Er versteckte die Handschellen, so gut es ging, unter seinem Rock. Ein paar Milchkutscher standen neugierig auf der Straße. Gegenüber in den Häusern waren Fenster offen. Gesichter schimmerten wie Teig aus den dunklen Öffnungen. Eine Frau kicherte.

Ungefähr dreißig Verhaftete wurden auf die Camions gebracht. Es waren offene Polizeiflitzer. Die meisten der Leute stiegen ohne ein Wort hinauf. Auch die Besitzerin des Hauses war darunter, eine dicke, hellblonde Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufälligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, daß man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit Pässen und polizeilicher Anmeldung, – einen Hausierer, einen Kammerjäger und zwei Huren. Die übrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Rußland und Italien.

»Los, los!« sagte der Leutnant zu der Vermieterin. »Sie können das alles auf der Wache erklären. Da haben Sie Zeit genug dazu.«

»Ich protestiere!« schrie die Frau.

»Protestieren können Sie, soviel Sie wollen. Vorläufig kommen Sie mit.«

Zwei Polizisten faßten die Frau unter die Arme und hoben sie auf das Camion.

Der Leutnant wandte sich zu Kern und Steiner. »So, jetzt diese beiden. Extra aufpassen auf sie.«

»Merci«, sagte Steiner und stieg auf. Kern folgte ihm.

Die Camions fuhren los. »Auf Wiedersehen!« kreischte eine Frauenstimme aus den Fenstern.

»Schlagt das Emigrantenpack tot!« brüllte ein Mann hinterher. »Dann spart ihr das Futter. Heil Hitler!«

 

Die Camions fuhren ziemlich schnell. Denn die Straßen waren noch fast leer. Der Himmel hinter den Häusern wich zurück, er wurde heller und weiter und durchsichtig blau, aber die Verhafteten standen dunkel auf den Wagen wie Weiden im Herbstregen. Ein paar Polizisten aßen belegte Brote. Sie tranken Kaffee aus flachen Blechflaschen.

In der Nähe der Franz-Josefs-Brücke kreuzte ein Gemüseauto die Straße. Die Camions bremsten und zogen dann wieder an. Im gleichen Augenblick kletterte einer der Verhafteten über den Rand des zweiten Wagens und sprang ab. Er fiel schräg auf den Kotflügel, verfing sich mit dem Mantel und schlug mit einem...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2017
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutschland • Flucht • Flüchtlinge • Illegal • Klassiker • Nationalsozialismus • Nazis • Schicksal • Verfolgung • Welt-Literatur
ISBN-10 3-462-31751-2 / 3462317512
ISBN-13 978-3-462-31751-0 / 9783462317510
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