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Das Wüten der Stille (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
400 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8973-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Wüten der Stille -  Iris Grädler
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Die ersten Herbststürme jagen über Cornwalls Küste, und DI Collin Brown ist in melancholischer Stimmung. Seine Frau ist für mehrere Wochen verreist, er und die Kinder sind auf sich allein gestellt. Ausgerechnet jetzt wird er mit einem beunruhigenden Fall konfrontiert: Die sechzehnjährige Carla Wellington ist verschwunden. Collin versucht das Mädchen mithilfe von Hundertschaften und Freiwilligen zu finden, doch nach einigen Tagen fehlt immer noch jede Spur. Da stößt er auf einen ungeklärten Vermisstenfall, der sich vor acht Jahren im Nachbarort ereignete: Auch dort verschwand ein Mädchen nach einem Schulfest spurlos, auch sie war Mitglied des Schulorchesters und sehr begabt. Das kann kein Zufall sein. Doch gibt es eine Verbindung? Collin bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn er Carlas Leben retten will ... Mit erstaunlicher Beobachtungsgabe und großem Gespür für die Psychologie ihrer Figuren leuchtet Iris Grädler die Leerstelle aus, die das Verschwinden eines Kindes in einer Familie hinterlässt. >Das Wüten der Stille< ist ebenso ein packender Kriminalroman wie ein einfühlsam erzähltes Familiendrama.

Iris Grädler wurde 1963 in Halle/ Westfalen geboren. Sie veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten und hat mehrere Anthologien herausgegeben. Bei DuMont erschienen bislang ihr Debütroman >Meer des Schweigens< (2015), der für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert war, >Am Ende des Schmerzes< (2016) und >Das Wüten der Stille< (2017). Iris Grädler lebt in Swakopmund, Namibia.

1


Jory Kellis schob die Gardine ein Stück zur Seite, bis er den Garten ganz im Blick hatte. Neben dem Haselnussbaum stand die Schaukel, die er einst eigenhändig zwischen Holzpfosten angebracht hatte. Sie schwankte sachte und quietschte in der verrosteten Aufhängung. Das Geräusch zerrte an seinen Nerven. Eine Axt sollte ich nehmen, sie endlich zu Kleinholz hacken, dachte er und ließ den Blick über die wuchernde Hecke streifen. Dahinter lag eine steil ansteigende Wiese mit kurzem, blassem Gras, das von der Meeresbrise gestreichelt wurde. Schafe im Winterpelz grasten gemächlich und in aller Unschuld darauf. Jory heftete die Augen an eins mit dunklerem Fell. Das schwarze Schaf. Manche bleiben unerkannt. Ungeschoren zu bleiben ist der Wunsch aller Schafe, fiel ihm ein Ausspruch seines Vaters ein. Er setzte sich, schlug das Tagebuch auf, schrieb wie jedes Jahr zuerst das Datum, unterstrich es zwei Mal, fügte ein Aufrufezeichen hinzu. Er blätterte um, fuhr mit der Hand über die Seite und notierte, Buchstabe für Buchstabe, bedächtig wie ein Erstklässler, der das Gewicht des Füllers und die Saugkraft des Papiers spürt, den Satz, der ihn schon den ganzen Morgen quälte wie eine Feile an der Magenwand: »Sie wäre nun – heute auf den Tag genau – vierundzwanzig Jahre alt.« Er ließ den Füller sinken, ein Geschenk zur Meisterprüfung, hörte die Tür zum Garten zuschlagen und sah Heather mit der Gießkanne den Plattenweg entlanggehen. Ihre Holzpantinen, eine sentimentale Erinnerung an ihre holländischen Vorfahren, schabten über den Waschbeton, den er vor langer Zeit, als alles noch hell war, in Sand gelegt hatte. Inzwischen waren einige der Platten eingesackt, Moos hatte sich ihrer bemächtigt und in den Fugen spross Unkraut, um das sich niemand kümmerte, ebenso wenig wie um den Garten. Bis auf die Trachycarpus fortunei, eine chinesische Hanfpalme. Im milden Klima Cornwalls gedeihen Palmen so gut wie an der Südsee, hatte ihnen damals der Verkäufer im Gartencenter versprochen. Heather stand nun vor dem wie in einen Leinensack gehüllten Stamm mit den drei fächerförmigen Blättern, die dem Spiel des Windes, der beständig vom Meer wehte, ausgesetzt waren. In den acht Jahren war die Palme allerdings kaum gewachsen, ein Zwerg, der Erde näher als dem Himmel. Das Wasser aus der Kanne sickerte zwischen den Muschelsteinen ein, die auf der Umfriedung lagen, gesammelt an einem fernen Tag, als das Meer ruhig und voll flüsternder Versprechungen war. Hatte die Palme bei dem vielen Regen der letzten Wochen nicht genug Feuchtigkeit bekommen?, überlegte Jory. Aber natürlich hatte das Bewässern für Heather eine höhere Bedeutung. Ein paar Tropfen Zuversicht aus der rosafarbenen Kindergießkanne, Weihwasser und Glaube.

Jory zog die Gardine mit einem Ruck zu und einen Strich unter den ersten Satz und schrieb, nun mit rascher Hand, was ihm durch den Kopf fuhr: »Retten wird es sie nicht. Ihr Blattwerk färbt sich schon braun. Vermutlich wird sie sterben.« Oder sie ist schon tot, dachte er, wagte aber nicht, die Worte dem Papier anzuvertrauen. Was einmal blau auf weiß in seinem Tagebuch stand, war so etwas wie die Wahrheit. Er pustete über die frische Tinte und musterte durch die Spitzengardine seine Frau, die reglos neben der Palme stand und auf die schmale Landstraße dahinter blickte. Doch es kam niemand. Der Zufahrtsweg war eine Sackgasse, die zwischen den hügeligen Wiesen bergab in die Senke führte, wo ihr Cottage stand. Die Sonne ging hier immer etwas später auf und früher unter. Feuchtigkeit kroch aus dem Unterholz des Waldstücks und aus dem hohen Farn am Ufer des Bachs hinter dem Haus. Vor über einem Jahrhundert war das Cottage eine Mühle gewesen. Das Mühlrad an der Außenwand hat inzwischen Moos angesetzt, und der Mühlstein liegt uns nun auf den Schultern, dachte Jory und wandte den Blick von seiner Frau ab. Einst hatte er es geliebt, sie zu betrachten wie ein Stillleben. Jetzt hatte ihr Rücken, ihre ganze Gestalt nichts mehr, was ihn gefangen hielt. Heather war gealtert. Über Nacht war ihr Haar weiß geworden und ihr gerader Rücken in sich zusammengesunken. Heute war ein weiteres Jahrzehnt hinzugekommen, ein weiterer Faltenwurf in ihrem erloschenen Gesicht. Sie bückte sich zu dem Windlicht, das sie am Vormittag neben die Palme gestellt hatte, und zündete ein neues Teelicht darin an. Wie an jedem 25. September. In diesem Jahr ausgerechnet ein Sonntag. An jedem anderen Tag würde er jetzt in seinem Laden an der Fräsmaschine sitzen.

Sein Handy summte, und er las die fast gleichlautende Nachricht, die er schon vor einer Stunde bekommen hatte, löschte sie und schaltete es aus. Es war keine Lösung, sich davonzustehlen. Die Erinnerung, die Fragen, die Hoffnung, die mit jedem Tropfen aus der Gießkanne in die Wurzeln der Palme flossen, würde er in jenes warme Bett mitnehmen, in das er sich sonst nur allzu gern hineinlocken ließ. Es war schon schwer genug, Theater zu spielen, und an diesem Tag stand ihm zu allem Überfluss noch das alljährliche Drama bevor. Kein Weg, der daran vorbeiführte. Jory öffnete das Fenster, sah neuen Regen aus den wie Trauerflor wehenden Wolken fallen, räusperte sich und hörte seiner Stimme zu, als er rief: »Komm rein! Erkältest dich noch.« Heather hielt kurz an dem verkrüppelten Rhododendron inne und wandte sich zum Haus. Vom Haus zum Gartentor und zurück. Weiter war seine Frau im letzten Jahr selten gegangen.

Jory schlug das Tagebuch zu und legte den Füller in den Kasten. Im Laufe der Zeit hatte er kaum mehr etwas geschrieben. Schließlich nur noch zwei Mal im Jahr und dann auch nur ein paar abgehackte Sätze. Was gab es zu sagen? Nichts.

Das Tagebuch bestand aus handgeschöpftem Papier, war in Leder gebunden und mit einem Schloss versehen. Eine Anschaffung von seinem ersten Lohn als Lehrjunge. Auf der ersten Seite hatte er ein Versprechen verfasst. Drei Dinge, die er in seinem Leben bewerkstelligen wollte: »Von meinem Leben wahrheitsgemäß und ungeschönt Zeugnis ablegen. Die Insel einmal zu Fuß umwandern. Einen Baum pflanzen.«

Alle Vorhaben hatte er nur halb erfüllt. Zwei Sommer lang war er Teilabschnitte des Küstenwanderwegs entlanggepilgert, nur um festzustellen, dass er lieber vom Wandern träumte und das tagelange Laufen nicht aushielt. Ich habe einen Baum gepflanzt, ja, dachte er. Er hatte eine Palme ausgewählt, weil sie an ein Südseeparadies erinnerte, aber nun goss Heather sie nur noch zwei Mal jährlich. Solange sie überlebte, sich vom Regen ernährte und vom Grundwasser, war Hoffnung da. Das hatte Heather beschlossen. Wenn es ihr half, nun gut. Er würde nichts tun, um die Palme zu retten. Im Gegenteil, dachte er und schloss das Tagebuch im Schreibtisch ein. Es war ihm nicht gelungen, wahrheitsgemäß und ungeschönt von seinem Leben zu berichten, als verdeckte das Aquamarinblau der fließenden Tinte das Eigentliche und hinderte ihn daran, sich der Wahrheit zu nähern.

Was Jory in seinem Leben bewerkstelligen wollte war ein Gemisch aus jenen Dingen gewesen, die ihm seine beiden Großväter einst mit auf den Weg gegeben hatten. Schreibe ein Buch, lerne eine fremde Sprache, pflanze einen Baum, hatte Großvater Conrad gesagt. Mach eine lange Schiffsreise, durchschwimme den Ärmelkanal, wandere einmal um die Insel, hatte Großvater Hayden gesagt. Baue ein Haus, errichte ein Geschäft, zeuge einen Sohn und Erben, hatte sein Vater ihm bei der Hochzeitsrede mit wedelndem Zeigefinger befohlen. Immerhin hatte Jory mit dem Schlüsseldienst sein eigenes Geschäft gegründet, doch wenn es so weiterging, würde er es schließen müssen. Sie wohnten in dem Cottage, eine Erbschaft von Heathers kinderloser Tante, und sie hatten keinen Sohn. Hätten sie einen, gäbe es nicht viel zu vererben. Jory hatte nichts unversucht gelassen, einen Sohn zu zeugen. Was vorbei war, war vorbei. Wiedergutmachung gab es nur im Traum. Und war nicht sowieso alles schon lange zum Albtraum geworden?

Im Esszimmer begann Heather den Frühstückstisch abzuräumen. Das dritte, unbenutzte Gedeck, das jeden Tag für ihren unsichtbaren Gast zwischen ihnen stand, verstaute sie im Geschirrschrank, zupfte an dem Herbststrauß auf dem Tisch herum und pustete die Kerze auf der Anrichte aus, die sonntags angezündet wurde. Eine weitere der langen Altarkerzen war inzwischen auf mehr als die Hälfte geschrumpft. Der Pfarrer, der in den ersten Tagen nach der Tragödie täglich teetrinkend und mit geschlossenen Augen verständnisvoll nickend auf dem Sofa saß, hatte Heather gleich mehrere davon geschenkt. Zweiundfünfzig mal acht, überschlug Jory im Kopf. Also rund vierhundert Sonntage hatten die Kerzen bereits gebrannt. Bald würden sie die nächste anstecken müssen oder die Zeremonie abschaffen. Diese und alle anderen.

»Wir müssen dann«, sagte Heather mit einem Blick zur Küchenuhr und machte sich im Flur zu schaffen. Es war kurz vor eins.

»Was soll’s bringen?«, fragte Jory mehr sich selbst als seine Frau, zog die Jacke an und rückte den Hut in die Stirn.

»Der Kuchen.« Heather eilte in die Küche und holte das Blech. Jory brauchte nicht zu fragen, was sie gebacken hatte. Es stand im Drehbuch. Zwischen Baiserschaum das satte Rot von Himbeeren, Erdbeeren und Rhabarber. Jenifers Lieblingskuchen. Ihr Name stand in einem rosa Herzen, das auf einem Zahnstocher steckte. »Also dann.« Sie trug den schwarzen Mantel mit den bunten Knöpfen, in dem sie einst elegant gewirkt hatte.

»Kennst doch kaum mehr jemanden«, murmelte Jory, griff nach den Regenschirmen und wandte sich zur Haustür. »Es gibt nur eine Leitkuh«, hatte Cliff neulich beim Kartenspielen erklärt. »Und wenn’s nich’ der Mann is’, dann isses die Frau Es war immer Heather gewesen, die die Richtung, die Abzweigungen, das Tempo, die Rastorte, ja selbst das Schuhwerk...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2017
Reihe/Serie Cornwall-Krimi-Reihe
Cornwall-Krimi-Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Am Ende des Schmerzes • Charlotte Link • Cornwall • Cornwall-Krimi • Cory Crime • Cozy Crime • DI Collin Brown • Familendrama • Familiengeheimnis • Friedrich-Glauser-Preis • Großbritannien • Inspektor Brown • Kind verschwunden • Kriminalroman • Krimis • Krimis & Thriller • Meer des Schweigens • Mord in der Provinz • Serienmörder • Verlust
ISBN-10 3-8321-8973-4 / 3832189734
ISBN-13 978-3-8321-8973-0 / 9783832189730
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