Die Moortochter (eBook)
384 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-20846-2 (ISBN)
Karen Dionne hat in jungen Jahren mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ein alternatives Leben in einer Hütte auf der Upper Peninsula geführt. Ihre Erfahrungen in der Wildnis von Michigan inspirierten sie zu ihrem Psychothriller-Debüt und großen Bestseller »Die Moortochter«, dem mit »Die Rabentochter« wieder ein packender Psychothriller folgt. Heute lebt Karen Dionne mit ihrem Mann in einem Vorort von Detroit, wo sie an weiteren Spannungsromanen schreibt. »Die Mohrtochter« wurde mit Daisy Ridley und Ben Mendelsohn in den Hauptrollen unter dem Titel »Das Erwachen der Jägerin« erfolgreich verfilmt.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 39/2017) — Platz 12
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 38/2017) — Platz 10
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 37/2017) — Platz 9
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 36/2017) — Platz 8
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 35/2017) — Platz 6
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 34/2017) — Platz 5
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 32/2017) — Platz 8
2
Der Schotter spritzt unter den Reifen weg, als ich wieder anfahre. Angesichts der Geschehnisse dreißig Meilen weiter südlich bezweifle ich, dass auf diesem Abschnitt des Highways irgendwelche Polizeistreifen unterwegs sind, und selbst wenn es so wäre – die Gefahr, wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten zu werden, ist im Moment meine geringste Sorge. Ich muss so schnell wie möglich nach Hause, ich muss meine beiden Töchter im Auge haben, muss wissen, dass sie bei mir und in Sicherheit sind. Laut der Warnmeldung müsste mein Vater sich von meinem Haus weg in Richtung des Wildreservats bewegen. Aber ich weiß, dass er das nicht tut. Der Jacob Holbrook, den ich kenne, würde nie etwas so Naheliegendes tun. Ich wette jede beliebige Summe, dass der Suchtrupp nach ein paar Meilen seine Spur verlieren wird, wenn er sie nicht schon verloren hat. Mein Vater bewegt sich im Moor wie ein Geist, wie ein schamanischer Spiritwalker. Wenn der Suchtrupp eine Fährte von ihm findet, dann nur, weil mein Vater will, dass sie ihr folgen. Wenn er will, dass sie ihn im Wildreservat vermuten, dann werden sie ihn im Moor nicht finden.
Ich umklammere das Lenkrad. Vor meinem inneren Auge sehe ich meinen Vater zwischen den Bäumen lauern, als Iris aus dem Bus aussteigt und unsere Zufahrt hinaufgeht, und ich gebe noch mehr Gas. Ich sehe ihn aus seinem Versteck springen und sie schnappen, in dem Moment, als der Bus wieder losfährt, so wie er immer aus dem Gebüsch platzte, um mich zu erschrecken, wenn ich aus dem Häuschen kam. Doch meine Angst um Iris ist nicht begründet. Laut der Warnmeldung ist mein Vater zwischen vier und Viertel nach vier entflohen, und jetzt ist es Viertel vor fünf – er kann unmöglich in einer halben Stunde dreißig Meilen zu Fuß zurückgelegt haben. Doch das macht meine Angst nicht weniger real.
Mein Vater und ich haben seit fünfzehn Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Höchstwahrscheinlich weiß er nicht, dass ich meinen Nachnamen geändert habe, als ich achtzehn wurde, weil ich es gründlich satt hatte, nur für die Umstände bekannt zu sein, unter denen ich aufgewachsen war. Und er weiß wohl auch nicht, dass seine Eltern, als sie vor acht Jahren starben, mir dieses Anwesen vermacht haben. Oder dass ich den Großteil des Erbes darauf verwendet habe, das Haus, in dem er aufgewachsen ist, abreißen zu lassen und stattdessen das Doppel-Mobilheim daraufzustellen. Oder dass ich jetzt mit meinem Mann und zwei kleinen Töchtern hier wohne. Mit den Enkelinnen meines Vaters.
Aber vielleicht weiß er es doch. Nach dem heutigen Tag ist alles möglich. Denn heute ist mein Vater aus dem Gefängnis entkommen.
Ich bin eine Minute zu spät. Ganz bestimmt nicht mehr als zwei. Mit der immer noch kreischenden Mari hänge ich hinter Iris’ Schulbus fest. Mari hat sich derart in ihren Schreianfall hineingesteigert, dass sie wahrscheinlich längst vergessen hat, was der Auslöser war. Ich kann den Bus nicht überholen, um in unsere Auffahrt einzubiegen, weil er das Stoppschild ausgeklappt hat und die roten Lichter blinken. Da ist es egal, dass außer meinem weit und breit kein Auto zu sehen ist und dass es meine Tochter ist, die der Fahrer hier absetzt. Als ob ich aus Versehen mein eigenes Kind überfahren könnte.
Iris steigt aus dem Bus. Die Art, wie sie den Kopf hängen lässt, als sie sich unsere leere Auffahrt hinaufschleppt, verrät mir, dass sie glaubt, ich hätte wieder einmal vergessen, rechtzeitig für sie zurück zu sein. »Schau mal, Mari.« Ich zeige es ihr. »Da ist unser Haus. Und da ist Sissy. Schsch. Wir sind fast da.«
Mari folgt der Richtung, in die mein Finger weist, und als sie ihre Schwester erblickt, ist sie schlagartig still. Sie hickst, dann lächelt sie. »Iris!« Nicht »I-I« oder »Isis« oder »Sissy«, oder auch nur »I-wis«, sondern »Iris« – ganz klar und deutlich. Das soll noch einer verstehen.
Endlich findet der Fahrer, dass Iris weit genug von der Straße weg ist. Er schaltet die Warnblinkanlage aus, und die Tür schließt sich zischend. Sobald der Bus sich in Bewegung setzt, gebe ich Gas und biege mit Schwung in unsere Auffahrt ein. Iris’ Schultern straffen sich. Sie strahlt und winkt mir zu. Mommy ist zu Hause, und ihre Welt ist wieder im Lot. Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von mir behaupten.
Ich stelle den Motor ab und gehe um den Wagen herum zur Beifahrerseite, um Mari die Sandalen anzuziehen. Kaum haben ihre Füße den Boden berührt, da rennt sie auch schon los, quer über den Hof.
»Mommy!« Iris kommt auf mich zugelaufen und schlingt die Arme um meine Beine. »Ich hab gedacht, du bist nicht da.« Sie sagt es nicht als Vorwurf, sondern als Feststellung. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meine Tochter im Stich gelassen habe. Ich wünschte, ich könnte ihr versprechen, dass es das letzte Mal war.
»Es ist alles gut.« Ich drücke ihre Schulter und tätschele ihr den Kopf. Stephen sagt mir immer, dass ich unsere Töchter öfter in den Arm nehmen soll, aber Körperkontakt ist schwierig für mich. Die Psychiaterin, die mir nach unserer Rettung aus dem Moor vom Gericht zugewiesen wurde, meinte, ich hätte Probleme damit, Menschen zu vertrauen, und sie machte entsprechende Übungen mit mir, bei denen ich zum Beispiel die Augen schließen, die Arme vor der Brust verschränken und mich nach hinten fallen lassen musste, mit ihrem Versprechen, mich aufzufangen, als einziger Sicherheit. Als ich mich ihren Anordnungen widersetzte, nannte sie mich aggressiv. Aber ich hatte keine Probleme mit dem Vertrauen. Ich fand ihre Übungen einfach nur albern.
Iris lässt mich los und läuft ihrer Schwester hinterher ins Haus. Die Haustür ist nicht verschlossen. Das ist sie nie. Die Downstaters aus dem Süden, denen die großen Sommerhäuser an der Steilküste mit Blick über die Bucht gehören, verriegeln und verrammeln immer alle Türen und Fenster, aber wir Einheimischen machen uns nie die Mühe. Wenn ein Dieb die Wahl hätte zwischen einer unbewohnten, freistehenden Villa, voll mit teurer Elektronik, und einem Doppel-Mobilheim, das in Sichtweite des Highways steht, ist doch wohl klar, wofür er sich entscheiden würde.
Aber jetzt schließe ich die Tür ab und gehe ums Haus herum, um mich zu vergewissern, dass Rambo genug Futter und Wasser hat. Rambo läuft an der Leine entlang, die wir für ihn zwischen zwei Banks-Kiefern gespannt haben, und wedelt mit dem Schwanz, als er mich sieht. Er bellt nicht, weil ich ihm das abtrainiert habe. Rambo ist ein Plotthound, mit schwarz-braun gestromtem Fell, Schlappohren und einem Schwanz wie eine Peitsche. Früher habe ich Rambo jeden Herbst zusammen mit ein paar anderen Jägern und deren Hunden auf die Bärenjagd mitgenommen, aber vor zwei Wintern musste ich ihn aus dem Verkehr ziehen, nachdem ein Bär sich auf unser Grundstück verirrt hatte und Rambo sich einbildete, es alleine mit ihm aufnehmen zu können. Ein Zwanzig-Kilo-Hund und ein Fünf-Zentner-Bär, das ist ein ziemlich ungleicher Kampf, ganz egal, was der Hund denkt. Den meisten Leuten fällt gar nicht gleich auf, dass Rambo nur drei Beine hat, aber mit seiner fünfundzwanzigprozentigen Behinderung werde ich ihn bestimmt nicht mehr in die Schlacht schicken. Nachdem er letzten Winter aus Langeweile angefangen hatte, Hirsche zu jagen, waren wir gezwungen, ihn anzuleinen. In dieser Gegend kann ein Hund, der im Ruf steht, Rotwild anzugreifen, ohne Vorwarnung erschossen werden.
»Haben wir Kekse da?«, ruft Iris aus der Küche. Sie wartet geduldig am Tisch, mit geradem Rücken und gefalteten Händen, während ihre Schwester Krümel vom Boden aufliest. Die Lehrerin muss Iris lieben – aber wehe, wenn sie erst mal Mari kennenlernt. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, wie zwei so völlig verschiedene Menschen von den gleichen Eltern abstammen können. Wenn Mari Feuer ist, ist Iris Wasser. Eine Mitläuferin, keine Anführerin; ein stilles, hochsensibles Kind, das lieber liest als draußen herumtollt, das seine imaginären Freunde genauso liebt wie ich früher meine und das sich die kleinste Rüge viel zu sehr zu Herzen nimmt. Ich ärgere mich so, dass ich ihr diesen Moment der Panik verursacht habe. Iris, die Großherzige, hat alles längst vergeben und vergessen, aber ich nicht. Ich vergesse nie.
Ich gehe in die Speisekammer und nehme eine Tüte Kekse aus dem obersten Fach. Zweifellos wird mein kleines plünderndes Wikingermädchen irgendwann versuchen, am Regal hochzuklettern, aber Iris, die Gehorsame, würde nie auf eine solche Idee kommen. Ich lege vier Kekse auf einen Teller, gieße zwei Gläser Milch ein und gehe dann erst einmal ins Bad. Dort drehe ich den Hahn auf und spritze mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Als ich meinen Gesichtsausdruck im Spiegel sehe, wird mir klar, dass ich mich zusammenreißen muss. Wenn Stephen nach Hause kommt, werde ich sofort alles gestehen. Aber bis dahin darf ich meine Mädchen nicht sehen lassen, dass irgendetwas nicht stimmt.
Nachdem die zwei ihre Milch getrunken und ihre Kekse gegessen haben, schicke ich sie auf ihr Zimmer, damit ich die Nachrichten verfolgen kann, ohne dass sie mithören. Mari ist noch zu klein, um die Bedeutung von Ausdrücken wie »Gefängnisausbruch«, »Fahndung« oder »bewaffnet und gefährlich« zu erfassen, aber Iris könnte schon etwas verstehen.
CNN zeigt eine lange Aufnahme eines Hubschraubers, der dicht über die Baumwipfel hinwegfliegt. Wir sind so nahe an dem Suchgebiet, dass ich praktisch auf die Veranda hinaustreten und denselben Hubschrauber am Himmel sehen könnte. Eine Warnung der State Police, die am unteren Bildrand durchläuft, ermahnt alle Anwohner, in ihren Häusern zu bleiben. Bilder der ermordeten Aufseher, Bilder des leeren Gefängnistransporters, Interviews mit den trauernden...
Erscheint lt. Verlag | 3.7.2017 |
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Übersetzer | Andreas Jäger |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Marsh King's Daughter |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | atmosphärischer Krimi • eBooks • In den Wäldern Nordamerikas • Marsch • Marschland • Michigan / USA • Obere Halbinsel • Psychologischer Spannungsroman • Psychothriller • Spiegelbestseller • Thriller • Upper Peninsula • Weibliche Spannungsliteratur • Wildnis Nordamerikas |
ISBN-10 | 3-641-20846-7 / 3641208467 |
ISBN-13 | 978-3-641-20846-2 / 9783641208462 |
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