Gray (eBook)
416 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-19430-7 (ISBN)
Leonie Swann wurde 1975 in der Nähe von München geboren. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Englische Literaturwissenschaft in München und Berlin. Mit ihren ersten beiden Romanen »Glennkill« und »Garou« gelang ihr auf Anhieb ein sensationeller Erfolg: Beide Bücher standen monatelang ganz oben auf den Bestsellerlisten und wurden bisher in 25 Sprachen übersetzt. Leonie Swann lebt heute umzingelt von Efeu und Blauregen in England.
2. Konsequenzen
Sie verzehrten ihr erstes gemeinsames Abendessen an Augustus’ großem Küchentisch, am Fenster, mit Blick auf schiefergedeckte Dächer, verspielte Zinnen und einen rosafarbenen Sonnenuntergang. Kartoffelsalat, Braten, Wein und die zweite Lemon Tarte für Augustus, Banane, Trauben und etwas grünen Salat für Gray. Der Papagei erwies sich als überaus unappetitlicher Tischgenosse.
Anschließend räumte Augustus auf, sammelte Bananenfragmente und Salatfetzen von Tischplatte, Fensterbrett, Schoß, Schulter und Fußboden und wusch sich ein paarmal gründlich die Hände.
Dann wurde es ernst. Der Erfolg dieser wahnwitzigen Adoption hing wesentlich davon ab, ob er es schaffen würde, Gray ohne großes Drama von seiner Schulter zu bekommen. Er klappte seinen Laptop auf, um mehr über afrikanische Graupapageien herauszufinden. Wissen war normalerweise die beste Verteidigung.
Nach ausführlicher Internetrecherche war er sich dessen nicht mehr so sicher: Höhendominanz. Neurosen. Traumata, Futterverweigerung, Federrupfen, Aggression, Langeweile, Lungenkrankheiten – Graupapageien schienen hochkomplizierte Kreaturen zu sein. Gray, der sich anfangs noch für die Bilder anderer Papageien auf dem Bildschirm begeistern konnte, döste schnell weg. Augustus hielt durch.
Einige Stunden Recherche später hatte er so etwas wie einen Plan: Papageien wie Gray fühlten sich offenbar an hohen Standorten am sichersten. Deswegen hatte er sich Augustus’ Schulter ausgesucht, und deswegen konnte es schwierig werden, ihn in den viel niedriger gelegenen Käfig zu bekommen. Eine hohe Sitzstange, wie Augustus sie in Elliots Zimmer gesehen hatte, würde Gray um einiges leichter unterzujubeln sein, vor allem wenn er sie mit Hilfe seiner Jacke attraktiv machte. Augustus’ Plan war sogar, die Strickjacke mit Gray darauf auszuziehen und beide gleichzeitig auf die Stange zu bugsieren.
Vogel und Stange würden dann ins Badezimmer kommen, wo der Papagei vermutlich am wenigsten Schaden anrichten konnte. Augustus würde seine Zahnbürste wegsperren, den Boden unter der Stange mit Zeitungen auslegen und das Beste hoffen. So weit, so theoretisch.
Erst einmal musste er sich die Vogelstange aus Elliots Räumen besorgen.
Händewaschen. Vor die Tür. Absperren. Dreimal kontrollieren.
Den Gang hinunter, linker Fuß voran.
Alles lag ruhig und dunkel. Die tintenschwarzen Dielen knarzten.
Fast unheimlich.
Es war Examenszeit. Die meisten Studenten saßen in ihren Zimmern und lernten. Die Lehrenden genossen die Flaute oder waren damit beschäftigt, endlich etwas Publizierbares aufs Papier zu bringen. So gesehen war die Stille hier draußen keine große Überraschung, doch Augustus kam sich auf einmal sehr allein vor.
Der letzte Mensch im College. In Cambridge. Auf der Welt.
Allein mit Papagei.
Er wurde von Zweifeln geplagt: Hatte er seine Tür wirklich gut verschlossen? Fast wäre er umgekehrt, aber im letzten Moment nahm er sich zusammen. Er wusste, dass er abgeschlossen hatte – nur fühlte er es nicht.
Schnell legte er die letzten Schritte zu Elliots Tür zurück und drehte den Knauf. Ein Knarzen und dann ein gedämpftes, klackendes Geräusch. Offen. Zum Glück. Hatte Elena nicht abgesperrt? Zögernd steckte Augustus den Kopf in den Raum. Das letzte Mal war er auf Bitten des Reinigungspersonals hier gewesen, sozusagen als offizieller Vertreter des Lehrkörpers, diesmal fühlte er sich wie ein Dieb in der Nacht. Kein Licht brannte, natürlich nicht, aber Mondlicht fiel durch das große Fenster auf den Holzboden, spielte mit dem Spiegel und warf Flecken an die Wand. Der Gobelin lag dunkel. Der Schreibtisch ruhte in der Nacht wie ein Schiff.
Augustus tastete nach dem Lichtschalter.
Hell.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Unordnung. Keine große, auffällige, skandalöse Unordnung wie die vorhin auf seinem Schreibtisch, sondern etwas Vorsichtiges, Verstohlenes: Ein Buch stand etwas zu weit aus dem Regal, eine Schublade war nicht ganz geschlossen, eine Teppichecke umgeklappt, der Spiegel hing schief, etwas Rußstaub schwärzte den Marmor vor dem Kamin. Aha! Augustus, der sein halbes Leben im Kampf gegen die kleinen Unordnungen des Alltags verbrachte, erkannte die Zeichen sofort.
Jemand war hier gewesen, ganz eindeutig, und hatte … etwas gesucht. Im Kamin. In Büchern und Schubladen. Hinter dem Spiegel. Unter dem Perserteppich. Gesucht – und gefunden?
»Kalt. Ganz kalt!« Neben ihm begann Gray, vermutlich aufgeschreckt von der Helligkeit, zu plappern. »Was ist gleich? Was ist anders? Spiel das Spiel!«
Vielleicht hatte jemand Elliot etwas ausgeliehen und brauchte es unbedingt zurück. Vielleicht war jemand betrunken ins falsche Zimmer geraten – das kam gar nicht so selten vor. Vielleicht …
Augustus hörte seinem Herzen beim Klopfen zu. Es gab hundert mögliche Erklärungen für diese kleine Unordnung, aber nur eine wahrscheinliche: Jemand war hier gewesen und hatte etwas gesucht – nicht obwohl Elliot tot war, sondern weil er tot war. Etwas, das mit dem Mord zu tun hatte.
Mord.
Da war es, das Wort, das sich den ganzen Tag langsam, aber unaufhaltsam an ihn herangeschlichen hatte. Endlich war es da. Augustus ging in die Knie, um systematisch den Ruß vom Marmorsims zu wischen.
Mord. Das war es, was er die ganze Zeit halb gedacht hatte, was vielleicht jeder hier am College heimlich dachte. Klammheimlich. Augustus merkte, dass seine Handflächen feucht waren. Rußig und feucht. Er holte ein Taschentuch hervor und säuberte seine Hände, so gut es ging. Ein Mord war eine schlimme Unordnung, die schlimmste überhaupt, ein Riss im Gefüge der Welt. Ein Mord musste aufgeräumt werden. Er hatte natürlich keine Beweise, nicht den geringsten, aber das machte nichts. Was in der Welt ließ sich schon wirklich beweisen? So gut wie gar nichts! Wichtig war die Theorie, eine Theorie, die elegant und kompetent alle relevanten Fakten zu einem appetitlichen, wohlgeordneten Bündel schnürte! Wer war hier gewesen? Und wann? Was hatte er gesucht? Und was gefunden? Er? Sie?
Die Tatsache, dass jemand sowohl im Kamin als auch in Büchern und Schubladen gesucht hatte, bedeutete, dass es nicht um etwas ging, das Elliot einfach so besessen hatte, nein, es ging um etwas, das er versteckt hatte. Etwas Flaches – sonst wäre es unsinnig gewesen, auch unter den Teppich und hinter den Spiegel zu gucken. War der Sucher fündig geworden? Wie lange hatte er Zeit gehabt? Was, wenn er überrascht worden war, bevor er die kleine Unordnung wieder hatte zurechtrücken können? Was, wenn er ihn gerade überrascht hatte? Hatte er vorhin beim Öffnen nicht ein Geräusch gehört?
War es vielleicht aus Elliots Räumen gekommen?
Die unscheinbare Tür zum Erkerzimmer kam ihm auf einmal finster und ominös vor. Versteckte sich dort drinnen jemand? Ein plötzlicher Windhauch ließ Augustus zusammenfahren. Gray hatte angefangen, mit den Flügeln zu schlagen.
»Konsequenzen, Professor! Konsequenzen!« Dann hob der Papagei ab und landete etwas unbeholfen auf dem Teppich. »Die Trauben kannst du dir abschminken!«
Na wunderbar! Jetzt, wo er offizieller temporärer Halter war, ließ Gray ihn auf einmal im Stich! Augustus’ Schulter fühlte sich schlagartig zu leicht und zu kühl an. Der Papagei dagegen schien sich in der vertrauten Umgebung wohl zu fühlen und spazierte selbstbewusst auf dem Fußboden herum.
»Hau ab!«, sagte er gut gelaunt. »Stinker!«
Von wegen! So schnell ließ sich Augustus nicht abschütteln! Es galt eine Theorie zu verteidigen – und die Ordnung der Welt! Oder war es die Welt der Ordnung? Wenigstens hatte er jetzt volle Bewegungsfreiheit, wenn er den Inhalt des Erkerzimmers in Augenschein nahm. Er schob sich die Strickjackenärmel bis zum Ellenbogen, holte tief Luft und bewegte sich so leise wie möglich auf die Erkerzimmertür zu. Wenn dort drinnen wirklich jemand saß, würde es bestenfalls peinlich werden, schlimmstenfalls …
Er drückte die Klinke herunter und riss die Tür auf.
Dann kam er sich albern vor. Käfig. Regal. Sitzstange. Sonst nichts, natürlich nicht. Hatte er wirklich geglaubt, dass hier irgendwo ein Eindringling lauerte? Er knipste das Licht an. Da war sie also, die Papageiensitzstange, hoch und handlich, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte. Mal sehen … Ein...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Cambridge • eBooks • Glennkill • Graupapagei • King's College • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Tierkrimi |
ISBN-10 | 3-641-19430-X / 364119430X |
ISBN-13 | 978-3-641-19430-7 / 9783641194307 |
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