Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 27/2017) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 25/2017) — Platz 20
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 24/2017) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 23/2017) — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 22/2017) — Platz 12
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 21/2017) — Platz 9
3
Obwohl er sich lange bemühte, hielt es ihn schließlich nicht mehr im Bett. Er schlüpfte in eine Jogginghose und streifte ein T-Shirt über. Die Leuchtzahlen des Weckers zeigten auf kurz nach zwei. Er ging aufs Klo und wusch sich danach Hände und Gesicht. Einen Blick in den Spiegel vermied er. Die sommerliche Bräune täuschte allzu leicht über seinen Seelenzustand hinweg. Innerlich fühlte er sich nach wie vor blass, auch wenn ihn schon sehr lange kein depressiver Schub mehr ereilt hatte. Er war auf dem Weg der Besserung, aber noch nicht übern Berg. Kein Anlass also, sein Spiegelbild zu betrachten und sich zu fragen, wer ihm da aus graublauen Augen entgegenstarrte. Er wusste, wie er aussah. Sein Haar, in dem immer mehr graue Strähnen auftauchten, hatte er nie zuvor so lang getragen. Noch ein paar Wochen, und er konnte es mit einem Pferdeschwanz versuchen. Die Ausrede, dass er hier noch keinen Friseur gefunden hat, war bloß vorgeschoben. Das alles war Teil einer Verwandlung, die er nicht absichtlich heraufbeschwor, gegen die er sich aber auch nicht wehrte. Nicht, weil er sich dazu nicht in der Lage fühlte, sondern weil er neugierig war, was diese Metamorphose letztlich aus ihm machen würde. Zumindest habe ich nicht weiter zugenommen. Ja, das war durchaus positiv. Wobei die neunzig Kilo immer noch zehn zu viel waren. Wenigstens daran sollte er aktiv arbeiten.
Andererseits – er war einfach zu selbstkritisch. Schon immer gewesen. Auch was sein Aussehen betraf und obwohl er eigentlich wusste, dass er für Frauen nicht uninteressant war. Aber das war ein anderes heikles Thema.
In der Küche trank er ein Glas Wasser. Das würde allerdings nicht ausreichen, um wieder einschlafen zu können, weshalb er erst gar nicht zurück ins Schlafzimmer schlurfte. Die Unruhe, die ihn geweckt hatte, hielt immer noch an. Etwas hatte seinen Instinkt aktiviert. Diese Gabe, die man auf der Polizeischule nicht erlernen konnte, sondern bestenfalls mitbrachte, wenn man sich für diesen Beruf entschied. Mein einziges, wirkliches Talent, das mich zu einem guten Ermittler gemacht hat.
Er vermisste seinen früheren Job. Fühlte die Leere, die gelegentlich aufkam, seit er den Kriminalkommissar an den Nagel gehängt hatte. Doch nicht mehr im Dienst des deutschen Polizeiapparats zu stehen lief ja nicht automatisch auf komplette Untätigkeit hinaus. Lissabon hatte ihm sehr schnell deutlich gemacht, dass seine Fähigkeiten, zu beobachten, zu analysieren und die richtigen Folgerungen zu ziehen, hier nicht verkümmern würden.
Barfuß tapste er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Die hölzernen Stufen kommentierten jeden seiner Schritte mit mürrischem Knarren, so als würde sein Gewicht sie aus ihrem wohlverdienten Schlaf reißen. Vielleicht kam ihm das Ächzen der Stiege auch nur deshalb so übertrieben laut vor, weil die nächtliche Ruhe heute besonders prägnant wirkte. Selbst der übliche Lärm aus der Gasse fehlte. Keine Autos, keine knatternden Mopeds. Vor allem fehlte das Lachen und Plaudern, das Gläserklirren, untermalt von Rockmusik. Akustische Ausgelassenheit, verursacht von Leuten, die niemals schliefen. Die ihre Nächte in der Bar unter seinem Fenster verbrachten. Abgesehen von dieser Nacht. Die Polizei war zwar zum jetzigen Zeitpunkt bereits abgezogen, würde die Räumlichkeiten aber erst wieder freigeben, wenn sämtliche Untersuchungen des Tatorts abgeschlossen waren. Und selbst dann würde Victor erst mal jede Menge Blut aufwischen müssen. Diese Nacht war für ihn gelaufen. Rein ökonomisch betrachtet, ein verschmerzbarer Einnahmeverlust für den Barbetreiber. Die menschliche Schwäche der Neugier würde dafür sorgen, dass er morgen den Umsatz des Jahres machte. Darauf hätte Henrik sein Antiquariat verwettet. All jene, die davon Wind bekamen und für die Voyeurismus – wenn überhaupt – nur eine lässliche Sünde war, würden sich um den Tresen drängeln und bohrende Fragen stellen, während sie ihre Drinks orderten. Besonders dreiste Gäste würden Selfies machen, schräg von oben, damit man den dunklen Fleck auf dem Boden noch erahnen konnte, und sie dann über ihre Social-Media-Kanäle mit der Welt teilen. Henrik schüttelte sich diese pietätlosen Bilder aus dem Kopf. Gelegentlich überkamen ihn misanthropische Launen gegenüber seinen Mitmenschen. Oder vielmehr gegenüber dem rücksichtslosen Verhalten innerhalb der Gesellschaft. Ein Thema, in das er sich nur zu gerne hineinsteigerte und das zwangsläufig mit den schmerzlichen Erinnerungen an Nina endete. Wie sinnlos ihr Tod doch war, für die Welt, in der sie noch so viel Schönes hätte bewirken können. Er vermisste …
Nein, nicht Nina. Nicht jetzt!
Jetzt musste er sich auf etwas anderes konzentrieren. Brauchte einen freien Kopf, um dem Impuls nachzugehen, der ihn durchs Haus trieb. Er verzichtete darauf, Licht zu machen, und tastete sich durch die Dunkelheit wie ein Eindringling. Ein Gefühl, das ihn öfter befiel, wenn er auf die Leute traf, die mit ihm unter diesem Dach wohnten. Äußerlich stets um Freundlichkeit bemüht, vermittelten sie ihm unterschwellig, fehl am Platz zu sein, sich ihnen gegenüber falsch zu verhalten: nämlich weit weniger großzügig, als sie es all die Jahre vom Vorbesitzer gewohnt gewesen waren. Henrik war ein Fremdkörper in dieser Hausgemeinschaft, die er sich nicht ausgesucht hatte. Sein Onkel hatte ihn dort hineingedrängt, als er ihm das Gebäude in der Rua do Almada vermachte. Nun mussten sie mit ihm leben – so wie er mit ihnen. Eine Symbiose, in der er rein rechtlich der Wirt war, sich aber meistens als der Parasit fühlte, ohne etwas dagegen tun zu können.
Das Licht der Straßenlaterne, das durch das Fenster im Treppenhaus hereinfiel, wies ihm den Weg. Letztlich hätte er auch dem Geruch folgen können. Dieser unverkennbaren Ausdünstung, mit dem ihn das Antiquariat jeden Tag aufs Neue begrüßte. Selbst nach der langen Zeitspanne, die er dort nun schon ein und aus ging, hatte sich seine Nase mit diesem Bouquet der Jahrhunderte noch nicht richtig angefreundet. Schwer vorstellbar, dass sein Geruchssinn sich je daran gewöhnen würde. An das Aroma des Altertums, den eindringlichen Modergeruch, den Tausende von Büchern ausdünsteten. An das herbe Odeur des alten Leders, in das viele der Werke gebunden waren. An den Prozess der Zersetzung und den Staub, der von brüchigen, von Pilzfraß befallenen Papieren stammte, den stechenden chemischen Gestank der Komponenten, mit denen die Kladden vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten verleimt worden waren. Aufdringlich, rauchig, süß, exotisch. Abstoßend, aber auch anregend, ja sogar beruhigend, je nachdem wie er sich selber gerade fühlte. Olfaktorisch war von allem etwas dabei, jede Epoche trug ihren Duftstempel. Zeitweilig verschaffte ihm die Fülle der Gerüche das Gefühl von Verbundenheit, fast schon Geborgenheit. Nicht immer, aber immer häufiger in den letzten Wochen. Jetzt ist es passiert, ich fühle mich in diesem Mief zu Hause!
Dass er in stockdunkler Nacht in das vieldeutige Reich hinabstieg, das sein Onkel geschaffen hatte, kam jedoch eher selten vor. Die Überlegung, die ihn heute hier herunterführte, war abwegig. Und gleichzeitig auch nicht. Ein Buch dafür verantwortlich zu machen, dass man einem Mann ein Messer in den Bauch gerammt hatte, war, nüchtern betrachtet, ein ziemlich verwegener Ermittlungsansatz. Wer stach auf jemanden wegen einer vergilbten Schwarte ein? Doch jetzt, mitten in der Nacht und aus einem wirren Traum herausgerissen, schien ihm alles möglich. Vor allem, wenn das Buch im Antiquariat in der Rua do Almada gekauft worden war.
Wäre er nur aufmerksamer gewesen! Catia hätte gewusst, welches literarische Werk da über den Ladentisch gegangen war. Aber seine einzige Mitarbeiterin machte gerade Urlaub. Zwei ganze Wochen. Verdientermaßen, ohne Frage. Catia hatte das Antiquariat nach dem Tod seines Onkels allein weitergeführt. Nicht ganz uneigennützig, dennoch mit Sachverstand und Herzblut. Nachdem dann Henrik aus heiterem Himmel aufgetaucht war, sich als Erbe präsentiert und sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, waren anfängliche Schwierigkeiten nicht ausgeblieben. Doch mittlerweile hatten sie sich zusammengerauft.
Freunde waren sie dabei nicht geworden, und das würde auch in naher Zukunft kaum passieren. Aber was die Arbeit im Antiquariat anging, hatte Catia wirklich Geduld mit ihm bewiesen. Dafür war er ihr dankbar – und wollte ihr das zeigen. Allerdings bedurfte es einiges an Überzeugungsarbeit, bis Catia zu der Einsicht gelangte, man könne ihn nach dreimonatigem Einlernen durchaus einmal alleine lassen. Vielleicht sogar für vierzehn Tage.
Und nun, kaum war sie weg, brauchte er sie wieder. Womöglich hatte er ja einen Fehler begangen und eines der wenigen, wirklich kostbaren Bücher aus dem Bestand nachlässig verschleudert. Ein Buch, für das es sich lohnte, das Leben eines Menschen zu riskieren.
Ganz abgesehen vom monetären Wert der literarischen Rarität, bestand da noch eine andere Möglichkeit. Was habe ich übersehen?
Henrik machte Licht, auch wenn er sich inzwischen zugetraut hätte, im Dunkeln durch das Labyrinth aus Regalen, Möbelstücken und auf dem Boden verteilten Bücherstapeln bis zur Verkaufstheke zu wandeln. Die orientalischen Lampen, die von der ergrauten Decke baumelten, zeichneten weiche, orangefarbene Kreise, die selbst am Tag nicht ausreichten, um den verstellten und verwinkelten Raum vernünftig auszuleuchten. Wer hier ein Buch aus den Regalen nahm, um darin zu blättern oder gar etwas zu entziffern, musste über ausgezeichnete Augen verfügen. Catia hatte sich vehement gegen seinen Vorschlag gewehrt, die angelaufenen Funzeln gegen lichtstarke...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2017 |
---|---|
Reihe/Serie | Lissabon-Krimis | Lissabon-Krimis |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | eBooks • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lissabon • Pasteis de Nata • Portugal • Sommer • Thriller • Urlaub • Vinho Verde |
ISBN-10 | 3-641-17852-5 / 3641178525 |
ISBN-13 | 978-3-641-17852-9 / 9783641178529 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich