Erwin, Enten, Präsidenten (eBook)
332 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-19226-6 (ISBN)
In Versloh, der Gemeinde mit den Dörfern Bramschebeck und Pogge, steht die Wahl vor der Tür. Alle paar Jahre wieder wird Fritzwalter Kleinebregenträger hier zum Bürgermeister gewählt. Nie gab es einen Gegenkandidaten. Eines Morgens allerdings liegt Kleinebregenträger tot neben der Bundesstraße. War es Mord? Oder ein Unfall? Erwin Düsedieker, den man im Ort für trottelig hält, weil er mit seinen Enten spricht und in Gummistiefeln Spaziergänge unternimmt, macht sich so seine Gedanken. Und verstrickt sich unversehens in einen schmutzigen Wahlkampf ...
Thomas Krüger, geboren 1962 in Ostwestfalen, arbeitete zunächst als Journalist für Tageszeitungen und Magazine. Heute ist er Hörbuch- und Kinderbuchverleger, Autor von Kinderbüchern (»Jo Raketen-Po«) und zahllosen Sonetten - u.a. an Donald Duck. Thomas Krüger lebt mit seiner Familie in Bergisch Gladbach bei Köln.
… und kein bisschen weise
Erwin Düsediekers Leben nahm knapp zwei Wochen vor seinem Geburtstag eine unerwartete Wendung. Er hatte bereits mehrere Sandelholz-Schaumbäder in seiner vergoldeten Badewanne genommen, um über ein Problem nachzudenken, das ihm ausgerechnet Hilde Gerkensmeier eingebrockt hatte. Schon vor Monaten.
»Mensch, bald wirste sechzig, Äwinn. Das musste feiern. Bei uns auf der Deele. Bist doch wer! Los, komm, ’n richtiges Fest!«
Ein Fest?
»Und denn tanzte mit Lina!«
Auch das noch. Nichts gegen Lina. Aber tanzen?
Dann hatte auch noch Lina die Idee gut gefunden, wegen bist doch wer und auch wegen dem Tanzen. Und Arno? Beim Wort Feier hatte Arno auf Ausnahmezustand geschaltet. In seinen Gedanken klimperten Wacholderpinnchen, da konnte ihn Tanzmusik nicht mehr schrecken.
Seit diesem Tag stand zwischen Erwin und Lina eine gewisse Spannung. Die Idee mit der Feier gefiel ihr immer besser. Ihm immer weniger. Lina liebte Erwin, und Erwin liebte Lina. Es setzte ihr zu, dass man in Bramschebeck noch immer nicht verstanden hatte, was für ein tiefsinniger, kluger und feiner Mensch Erwin war. So eine Feier konnte das vielleicht ändern.
Manchmal war Lina ja doch naiv.
Und Erwin war ein Dickschädel.
Der 18. Februar begann neblig. Kalt war es auch. Nasskalt. Bis zum Mittag hielt sich die träge Bodenwolke um Bramschebeck und Pogge. Erwin brach um kurz nach halb acht Uhr morgens auf und marschierte Richtung Bundesstraße. Der Nebel erlaubte es ihm, einen heimlich gefassten Plan in die Tat umzusetzen. Einen Plan, von dem allein er und die Enten wussten.
Mit denen hatte Erwin noch am Abend zuvor gesprochen. Erwin unterhielt sich öfter mal mit seinen Enten. Sie waren gute Zuhörer, und wenn es zum Beispiel um Frauendinge ging, war Lothar weit erfahrener als Erwin selbst. Lothars und Lisbeths Beziehung hatte mit Alfred, ihrem Nachwuchs, immerhin ein Stadium erreicht, an das Erwin nicht mal in seinen kühnsten Träumen dachte. Immerhin war Lina mittlerweile 73 und Erwin doch eher platonisch veranlagt.
Erwin hatte gewartet, bis Lina im Bett lag. Gegen Mitternacht war er mit Taschenlampe hinaus in den Garten geschlichen, zum Entenhaus, hatte angeklopft und war eingetreten.
»Mensch, Lothar«, hatte er gesagt, »die Lina.«
Lothar hatte bloß geguckt. So reagierte er ja immer. Die drei Enten hockten im Stroh nebeneinander. Lisbeth zuppelte in ihren Federn, und Alfred wirkte abwesend, als würde er im Geist Musik hören.
Die Jugend.
»Bloß keine Feier«, hatte Erwin gesagt und Lothars Schweigen als Zustimmung gedeutet. Alfred hatte leise gequackelt, was vielleicht als Widerspruch gemeint war. Wer nachts Musik hörte, mochte einer Feier offen gegenüberstehen. Alfred war für seine Eskapaden bekannt.
Nach einigen weiteren einseitigen Wortwechseln hatte Erwin genickt.
»Na gut«, hatte er gesagt, »is vielleicht ne Idee. Vielleicht freut se sich und vergisst das mit der Feier.«
Wieder ein Quackeln Alfreds.
»Stell ich mir schön vor, Lina mit Hut.«
Hut?
Lisbeth hatte aufgesehen.
»Können den Tag ja zusammen verbringen. Da anne Fischteiche. Ihr könnt baden. Vielleicht malt se auch ’n Bild von euch, die Lina. Wär doch was, oder? Würd ihr sicher besser gefalln als ne Feier.«
Ein Bild malen? Fischteiche?
Die Enten hatten ihn angesehen, stumm und tiefgründig. Aber sie würden mitmachen bei dem, was er plante.
Vielleicht hatte das Wort Fischteiche sie überzeugt.
Den Kopf voller Gedanken an diese nächtlichen Gespräche stiefelte Erwin morgens also aus dem Haus, direkt hinein in den Nebel. Die Enten folgten zunächst. Bald aber sauste Alfred voraus, und Lothar und Lisbeth jagten ihm nach.
Die Enten tauchten ein in das dichte Grau. Lothar und Lisbeth waren sofort unsichtbar. Das Weiß ihrer Federn verschmolz mit dem gespenstischen Dunst. Alfreds Schwarz hinterließ einen intensiveren Körperschatten. Doch auch der war bald nicht mehr zu sehen, weil Alfred tiefer als seine Eltern in die Nebelsuppe eindrang.
Wo lag die Bundesstraße?
Erwin fühlte sich unsicher. Er hatte die Sichtverhältnisse unterschätzt. Er hätte den Grenzweg nehmen sollen, die schmale Straße, die am Grundstück vorbeiführte. Doch wegen der Enten zog er bei Wanderungen immer die Felder und Wiesen abseits der Straße vor.
Zum Glück bot der Versloher Matschboden Ungeheuern keine Chance. Aber die Tücken des Nebels waren nicht zu unterschätzen. Nur unter großen Mühen fand Erwin zum Bramschebach. Die Enten hatten sich bereits ins Wasser begeben und paddelten dahin. Wenn Erwin mit ihnen dem Bachlauf gegen die Fließrichtung folgte, kam er dem Ziel ein gutes Stück näher. Zudem war die Bachunterführung die einzige Möglichkeit, mit den Enten sicher auf die andere Seite der Bundesstraße zu gelangen.
Erwins Ziel hieß Pogge. Das Dorf, das er schon allein wegen der gefährlichen Bundesstraße selten besuchte. Um Punkt acht wollte er im Gemischtwarenladen von Hanno Hunke stehen. Hanno, bei dem das Angebot größer war als bei Lina und der an diesem Morgen hoffentlich nicht so viel Kundschaft hatte. Was Erwin suchte, würde ihm vielleicht auch Lina besorgen können, aber es ging ja um eine Überraschung …
Dieser Nebel. Eine solche Suppe hatte Erwin in Versloh noch nie erlebt. Der Weg von der alten Polizeiwache bis zur Bundesstraße maß etwa anderthalb Kilometer. Erwin brauchte fast eine Stunde, bis sich vor ihm schemenhaft das Wäldchen an der Bramsche abzeichnete. Unmittelbar links davon lag die Betoneinfassung der Bachunterführung: ein Schattenmaul im Nebel. Weit geöffnet.
Der Verkehr auf der B 61c kroch nur dahin. Das sonst übliche Brausen von Fahrzeugen fehlte. Von der Straße selbst war ganz und gar nichts zu sehen. Erwin hatte das Gefühl, von bleichen Geistern umgeben zu sein: Gestalten, die sich einen Spaß mit ihm machten und mit klammen Fingern am Stoff seines alten Parkas zupften.
Er stoppte. Was war das? Stimmen? Von der Straße her oder vom Ackerland, das ihn umgab, oder aus dem Wäldchen? Die Geräusche waren nicht zu orten. Dumpfe Laute umkreisten einander, stießen vor, zogen sich zurück. Minutenlang. Sie narrten Erwin. Wenn es sich um Stimmen handelte, dann lösten sich die Bedeutungen der Worte auf, bevor sie in Hörweite kamen.
Jetzt startete ein Auto. Oder waren es zwei? Die Geräusche nahmen weitere Geräusche auf, zogen sie mit sich. Als die Fahrzeuge verstummt waren, schwieg auch der Nebel.
Es gab neben der Straße auf Pogge-Seite einen Parkplatz, unmittelbar am Bachlauf, den Feldern östlich Pogges vorgelagert. Hatte dort jemand wegen des dichten Nebels gewartet?
Weshalb aber war der Wagen dann doch weitergefahren?
Die Enten plagten solche Gedanken nicht. Sie paddelten munter dahin. Gegen die Strömung. Das war ein prima Morgentraining, auch wenn die Bramsche ganz und gar nichts Reißendes hatte. Erwin begab sich nun ebenfalls ins Wasser. Er stapfte in den Bach hinein, denn der Schacht unterhalb der Fahrbahn war nur so breit wie der Wasserlauf selbst: etwa zwei Meter. Da die Bramsche nicht sehr tief war und der Bachgrund nicht übermäßig weich, sank Erwin nicht bis über die Stiefelränder ein.
Das wäre unangenehm gewesen.
Und dann, kaum dass er sich im Wasser und ein Stück weit unterhalb der Fahrbahn befand, hörte er wieder Geräusche. Diesmal waren es eindeutig Stimmen.
Ein Streit? Wo? Auf der Straße? Nah dem Fahrbahndamm?
Der Betonschacht wirkte wie ein die Laute der Umgebung verstärkender und verzerrender Trichter.
Zwei Stimmen? Eine Frauenstimme?
Eine Frau, die wütend ist, dachte Erwin.
»Nein, nein! Du darfst das nicht! Hör auf, das …!«
Fast ein Schrei. Ein brausendes Spiel von Stimmen. Nur manchmal klar und deutlich: »Das ist Erpressung! Du weißt, dass ich ihn liebe! Aber ich kann nicht … Das kann ich nicht!«
Die zweite Stimme, schwächer, antwortete. Von dieser zweiten Stimme konnte Erwin nichts verstehen. Sie erschloss sich ihm nicht. Und wieder die aufgeregte Frau: »Die Lizenz ist so wichtig! Das darfst du nicht tun …!«
Hin und her ging es. Mal lauter, mal leiser. Erwin verharrte. Minutenlang.
Er wollte nicht lauschen. Es kam ihm falsch vor. Aber er war dem Geschehen jetzt ausgeliefert.
»Du bist wahnsinnig. Dreißig Jahre Arbeit stecken da drin. Dreißig Jahre! Ein wahnsinniger Egoist bist du. Ich …!«
Sehr laut. Und dann wurde alles übertönt. Ein weiterer Motor sprang an. Erwin nutzte den Lärm, um hastig durch den Bach zu schreiten, raus aus dem Schacht. Auf die andere Straßenseite. Er hörte das Platschen seiner eigenen Schritte nicht. Nun schwappte doch noch Wasser in seine Stiefel. Es kümmerte ihn nicht. Er musste hier weg. Ins Dorf. Zu Hanno Hunke. Auch die Enten eilten los, wie getrieben. Alfred schlug mit den Flügeln, verwandelte sich in ein sehr kleines Rennboot. In Erwins Kopf dröhnte es. Sein Gehirn war eine Zone aus grauem Dunst …
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.
Das Gedicht hatte Erwin Wochen zuvor in seiner Bibliothek gefunden. Zufällig. Er wollte jetzt nur noch raus aus diesem Nebel. So schnell wie möglich. Die Verse halfen ihm voranzukommen. Er eilte Richtung Poggsiek, die erste Straße des Dorfs. Er konnte ein Haus am Ende des an den Bachlauf grenzenden Grundstücks ausmachen. Einen dunklen Block im Nebelgrau. Es war kurz...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2017 |
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Reihe/Serie | Erwin Düsedieker | Erwin Düsedieker |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bramschebeck • Dietmar Bär • eBooks • Enten • Erwin Düsedieker • Heimatkrimi • Kommunalpolitik • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Laufenten • Mord • Ostwestfahlen • pogge • Versloh • Wahlen • Wahljahr |
ISBN-10 | 3-641-19226-9 / 3641192269 |
ISBN-13 | 978-3-641-19226-6 / 9783641192266 |
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