Das falsche Gesicht (eBook)
512 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-001-5 (ISBN)
Anna Grue ist eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Dänemarks. Die in viele Sprachen übersetzten Bände ihrer Krimiserie um den Ermittler Dan Sommerdahl sind allesamt Bestseller, die von Publikum und Presse gleichermaßen für ihre Raffinesse wie für ihre menschliche Wärme gefeiert werden. Anna Grue hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Kopenhagen.
Anna Grue ist eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Dänemarks. Die in viele Sprachen übersetzten Bände ihrer Krimiserie um den Ermittler Dan Sommerdahl sind allesamt Bestseller, die von Publikum und Presse gleichermaßen für ihre Raffinesse wie für ihre menschliche Wärme gefeiert werden. Anna Grue hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Kopenhagen.
3
Pia Waage schlief, als Frank Janssen ein paar Stunden später ins Krankenhaus kam. Sie lag zusammengekauert auf der Seite, die Bettdecke hatte sie bis zu den Lippen gezogen, als würde sie frieren. Eine Haarlocke klebte ihr an der Stirn, ihre Augen umgaben dunkle Schatten. Es war fast acht Uhr abends, die einsetzende Dämmerung hatte den Himmel eine Nuance dunkler werden lassen, jemand hatte eine Leselampe eingeschaltet, sodass das grau lackierte Kopfende des Bettes in einem gedämpften, warmen Licht erschien. Frank blieb an der Tür des Einzelzimmers stehen und betrachtete seine Stellvertreterin. Als er das letzte Mal im Trauma-Zentrum des Krankenhauses von Christianssund gewesen war, hatte Pia ebenfalls hier gelegen. Doch obwohl ihre physischen Verletzungen damals erheblich schwerer gewesen waren, sah die Situation diesmal doch weitaus ernster aus.
»Sie hat etwas zur Beruhigung bekommen«, erklärte eine junge Krankenschwester, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war.
»Darf ich sie wecken?«
»Sie hat erwähnt, mit Ihnen sprechen zu wollen, sobald Sie hier sind, insofern …« Die Krankenschwester trat ans Bett. »Pia?« Sie legte eine Hand auf den Arm der schlafenden Frau.
Pia bewegte sich ein wenig und öffnete halb die Augen.
»Ihr Chef ist hier.«
»Mmm?«
Die Krankenschwester half der Patientin in eine sitzende Position und verließ das Zimmer.
»Wie geht’s dir, Waage?« Frank zog einen Stuhl ans Bett.
Pia sah ihn einige Sekunden an, und ohne Vorankündigung liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Frank blieb ruhig sitzen und ließ sie weinen. Er kannte sie zu gut, um sie zu umarmen oder sonst zu berühren. Nicht einmal in einer Krisensituation wie dieser würde Pia eine derartige Grenzüberschreitung akzeptieren. Wie klein sie ist, dachte er – nicht zum ersten Mal –, als er die weinende Frau betrachtete. Obwohl Pia durchtrainierter und um einiges schneller war als die meisten ihrer männlichen Kollegen, war sie ein Strich in der Landschaft, mit zarten Handgelenken und einem grazilen Nacken. So wie sie dort saß und versuchte, lautlos zu weinen, glich sie einem Kind.
»Entschuldige«, sagte Pia kurz darauf. Sie nahm ein Papiertaschentuch vom Nachttisch und putzte sich die Nase.
»Es gibt nichts zu entschuldigen.« Er wartete einen Moment, aber da sie nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Soweit ich die Ärzte verstanden habe, bist du unverletzt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Zumindest physisch.« Sie tupfte sich die Augen, knüllte das Taschentuch zu einer Kugel und richtete sich auf. »Schieß los.«
»Wenn du so weit bist.«
»Klarer werde ich kaum.«
»Okay.« Er beugte sich ein wenig vor. »Du hast Dorthe Bertelsen gekannt, oder?«
»Ja.«
»Seid ihr Freundinnen gewesen?«
Sie richtete den Blick auf die durchweichte Papierkugel und zögerte. Frank wusste, wie sehr Pia ihr Privatleben abschirmte. Keiner ihrer Kollegen war je bei ihr zu Hause gewesen, und sie hatte niemals über ihre sexuelle Orientierung gesprochen, noch nicht einmal, als die anderen sich über sie lustig machten, um es ihr zu entlocken. Jetzt nickte sie nur nach einer kurzen Pause.
»Ich muss dich etwas fragen, Waage.«
»Natürlich.«
»Dafür muss man sich nicht schämen.«
»Wer sagt denn, dass ich mich schäme?«
Frank zuckte die Achseln. »Du redest nie darüber.«
»Darüber? Dass ich lesbisch bin, meinst du?«
»Ja.«
Pia sah ihn an. »Ich weiß doch auch nicht alles über dich.«
»So wie ich das sehe, bist du ziemlich gut informiert. Du weißt, dass ich Single bin, eine Zeit lang mit einer Freundin zusammengewohnt habe, auf Amager aufgewachsen bin, Comics lese, nicht kochen kann, eines Tages gern Kinder haben möchte und noch eine Menge mehr. Du brauchst mich nur zu fragen, wenn du noch mehr wissen willst.« Er lächelte. »Du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, das würde auch umgekehrt gelten?«
Pia tupfte sich erneut die Nase. »Ich weiß nur nicht, was es andere Leute angeht, dass ich lesbisch bin. Mein Privatleben ist meine Sache. Oder … das war es jedenfalls bis jetzt.«
»So ist das nun mal bei Ermittlungen in Mordfällen. Es gibt kein Privatleben mehr.«
Pia zog die Augenbrauen zusammen. »Ihr habt die Fotos gesehen?«
»Ja.« An Dorthe Bertelsens Kühlschrank klebten Ferienfotos – alle mit Pia als Motiv. An einem Strand, auf einer Wanderung, sich zuprostend in einem Straßencafé. Dorthes Schlafzimmer war dekoriert mit einem Poster von Pias lächelndem Gesicht. »Das ließ sich nicht übersehen.«
»Außerdem ist meine DNA überall. Im Bett, an meiner Zahnbürste, im Sofa vor dem Fernseher. Verflucht, ich habe dort sogar eine Schublade mit Klamotten. Es wäre bescheuert, es abzustreiten.«
»Wann habt ihr euch kennengelernt?«
Ein Zucken ging durch ihr Gesicht. »Vor etwas über zwei Jahren. Sie war damals verheiratet.«
»Mit einem Mann?«
»Du musst kein so ein erstauntes Gesicht machen. Es ist schließlich nicht zum ersten Mal in der Weltgeschichte passiert, dass jemand die Seiten gewechselt hat.« Sie zog die Bettdecke mit einem gereizten Gesichtsausdruck hoch. »Muss ich hier eigentlich bleiben? Die Techniker und der Rechtsmediziner haben doch, was sie brauchen. Ich will hier raus.«
Frank stand auf. »Ich schaue mal, ob ich einen Arzt finde.« Er drehte sich an der Tür um. »Bist du bereit zu einer Aussage?«
»Ich komme mit ins Präsidium.«
*
Eine Stunde später saßen sie in Franks Büro. Er hinter seinem Schreibtisch, Pia und Lotte Andersen auf den Besucherstühlen. Die beiden Polizistinnen hätten kaum unterschiedlicher sein können. Pia zartgliedrig und geschmeidig, Lotte vollbusig und schwer. Pias dunkle, kurz geschnittene Locken hatten ihren Gegenpart in Lottes glattem, blondem Pferdeschwanz, und während Pia so dunkelbraune Augen wie ein Eichhörnchen hatte, waren Lottes blaugrau und traten ein wenig hervor. Die beiden Frauen waren sich sympathisch, seit Lotte in die Ermittlungsgruppe eingetreten war.
Pia berichtete sorgfältig und detailliert über die Ereignisse des Vormittags. Lotte schrieb mit, und Pia machte regelmäßige Pausen, damit ihre Kollegin mitkam.
»Erklär mir noch einmal, wo dieses Bügeleisen stand, als du hereingekommen bist«, bat Frank sie, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte.
»Auf dem Fußboden, direkt an der Tür.«
»Auf der Fußmatte?«
Pia dachte einen Moment nach. »Nein. Direkt davor. Also vom Flur aus gesehen. Es stand so weit von der Tür entfernt, dass sie nicht dagegenstieß, als ich sie öffnete, und so nah, dass ich fast darüber gestolpert wäre, als ich hereinkam.«
»Hast du das Blut daran nicht bemerkt?«
»Nein. Oder doch, schon …« Sie schloss die Augen und klemmte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zusammen. »In gewisser Weise wusste ich genau, dass es Blut war, aber …« Sie sah ihn an. »Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe mir gesagt, dass es Dreck oder Schlamm sein muss.«
»Was hast du dir gedacht, als du es dort auf dem Boden entdeckt hast?«
»Typisch, schmeißt dieses unordentliche Weibsstück das Bügeleisen einfach irgendwohin, ohne daran zu denken, dass man darüber stolpern könnte.«
»So war Dorthe? Unordentlich?«
Pia zuckte die Achseln. »In manchen Dingen schon. Wenn sie mit irgendetwas beschäftigt war, hatte sie nichts anderes im Kopf. Ihr habt es vielleicht in der Küche bemerkt, an der Art, wie sie die Kartons beschriftet und die leeren Regalbretter abgewischt hat. Systematisch, pedantisch, fast schon etwas autistisch. Sie wusste es selbst. Sie konnte sich nur auf eine Sache auf einmal konzentrieren. Alles andere war ihr dann egal.«
»Versuch, sie zu beschreiben«, forderte Lotte sie auf. »Ihre Persönlichkeit.«
Pias Augen füllten sich umgehend wieder mit Tränen. »Ich weiß nicht, ob ich …«
»Je mehr du uns über sie erzählen kannst, desto besser können wir arbeiten, Waage«, sprang Frank Lotte bei. »Das weißt du doch.«
Pia rieb sich die Augen mit dem Handrücken. »Ich werde es versuchen. Dorthe ist … Dorthe war Gymnasiallehrerin. Dänisch und Sozialkunde. Sie unterrichtet seit acht Jahren am Gymnasium von Christianssund, gerade hat das neue Schuljahr begonnen. Sie ist … sie war sehr beliebt.«
»Bei den anderen Lehrern? Oder den Schülern?«
»Sowohl als auch. Sie hat jedes Jahr das Schultheaterstück organisiert und ständig irgendeine andere soziale Aufgabe übernommen. Unter anderem war sie Facebook-Administratorin der Schule. Sie hat erstaunlich viel Zeit mit solchen Dingen verbracht. Oft sind Schüler zu ihr nach Hause gekommen, und ich bin ein paarmal zu verschiedenen Veranstaltungen mitgegangen. Sie war viel offener als … als ich.«
Pia versagte die Stimme. Sie starrte eine Weile selbstverloren auf ihre Hände. Dann atmete sie tief durch und fuhr fort: »Dorthes Ansicht nach war es totaler Blödsinn, dass ich sie euch nie vorgestellt habe. Sie meinte, es sei absurd, dass sie sich gerade geoutet habe und total offen gegenüber ihren Kollegen und Freunden sei, während ich keine Lust hätte, es zu zeigen, obwohl ich schon mein ganzes Leben lesbisch gewesen bin. Aber ich bin nun mal der Meinung, dass es niemanden etwas angeht. Wenn ich mit einem Mann zusammenleben würde, hätte ich auch nicht das Bedürfnis, ihn euch vorzustellen.«
»Menschen sind verschieden«, sagte Lotte freundlich. »Das ist schon okay.«
»Hatte Dorthe Feinde?«, wollte Frank wissen.
Pia schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Sie dachte nach. »Nein«,...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2016 |
---|---|
Reihe/Serie | Dan Sommerdahl |
Dan Sommerdahl | Dan Sommerdahl |
Übersetzer | Ulrich Sonnenberg |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Band 6 • Band sechs • Christianssund • Dänemark • Ermittlungen • Krimi • Mord • Privatermittler • Regionalkrimi • Serie • Sommerdahl |
ISBN-10 | 3-03792-001-7 / 3037920017 |
ISBN-13 | 978-3-03792-001-5 / 9783037920015 |
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