Der Weihnachtsabend (eBook)
136 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74374-3 (ISBN)
<p>Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport, England als zweites von acht Kindern geboren.<br /> Er wuchs in ärmlichen Familienverhältnissen auf und lernte schon früh die Erfahrung von Hunger und Not kennen, als der Vater in Schuldhaft kam. Charles mußte für die Versorgung der Familie aufkommen und arbeitete, wie zahlreiche andere Kinder auch, in einer Lagerhalle und als Hilfsarbeiter in einer Fabrik. Nachdem die widrigsten Zeiten überstanden waren, setzte er mit vierzehn Jahren seinen Schulbesuch fort und arbeitete später als Schreiber bei einem Rechtsanwalt und als Zeitungsjournalist.<br /> Mit seiner Skizzensammlung <em>Sketches by Boz </em>(1836) und <em>The Pickwick Papers </em>(1837) hatte Dickens überraschend Erfolg und wurde schnell zu einem der bekanntesten Autoren Englands. Später erlangte er auch große Bekanntheit in den USA. Dickens erste Romane erschienen alle als Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen, so auch eines seiner bekanntesten Werke, <em>Oliver Twist </em>(1837). Dickens war Herausgeber der Tageszeitung <em>Daily News</em>und der Zeitschrift <em>Household Words</em>. Neben der Schriftstellerei verdiente er sich sein Geld mit Lese- und Vortragsreisen in England und den USA. <em>A Christmas Carol </em>(1843), gehörte dabei zu seinem festen Leseprogramm. Charles Dickens starb am 9. Juni 1870 in Kent.</p>
ERSTE STROPHE
Marleys Gespenst
Marley war tot; dies zu Beginn. Daran besteht keinerlei Zweifel. Das Protokoll seiner Bestattung wurde vom Geistlichen, vom Kommis, vom Bestatter und vom ersten Leidtragenden unterzeichnet. Scrooge unterzeichnete es: und Scrooges Name war an der Börse gut für alles, womit er sich zu befassen entschied. Der alte Marley war tot wie ein Türnagel.
Je nun! Ich will damit nicht sagen, dass ich aus eigner Kenntnis weiß, was an einem Türnagel so besonders tot sein soll. Ich selbst wäre womöglich geneigt gewesen, einen Sargnagel als das toteste Stück Eisenkram überhaupt im Gewerbe anzusehen. Doch in dem Gleichnis liegt die Weisheit unsrer Ahnen, und meine ungeweihten Hände sollen es nicht stören, sonst ist's ums Land geschehen. Sie werden mir daher gestatten, voller Emphase zu wiederholen, dass Marley tot wie ein Türnagel war.
Ob Scrooge wusste, dass er tot war? Natürlich wusste er es. Wie konnte es auch anders sein? Scrooge und er waren Teilhaber, ich weiß nicht seit wie vielen Jahre, gewesen. Scrooge war sein einziger Testamentsvollstrecker, sein einziger Verweser, sein einziger Rechtsnachfolger, sein einziger Universalerbe, sein einziger Freund und einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war von dem traurigen Ereignis nicht so schrecklich ergriffen, dass er noch am Tage der Bestattung nicht ein hervorragender Geschäftsmann war und sie feierlich mit einem unzweifelhaften Gewinn beging.
Die Erwähnung von Marleys Bestattung führt mich zu dem Punkt zurück, von dem ich ausgegangen bin. Es besteht kein Zweifel, dass Marley tot war. Das muss deutlich verstanden sein, denn andernfalls kann aus der Geschichte, die ich nun erzählen will, nichts Wunderbares werden. Wären wir nicht vollkommen überzeugt davon, dass Hamlets Vater starb, bevor das Stück begann, so wäre daran, dass er nachts, im Ostwind, auf seinem eignen Schutzwall umherspazierte, nichts Bemerkenswerteres als bei jedem anderen Herrn mittleren Alters, der nach Einbruch der Dunkelheit an einem windigen Ort – sagen wir beispielsweise, dem Kirchhof von St. Paul's – eilig hinaustritt, um den schwachen Verstand seines Sohnes buchstäblich zu verblüffen.
Auch übermalte Scrooge den Namen des alten Marley nicht. Da stand er, noch Jahre später, über der Tür des Handelshauses: Scrooge & Marley. Die Firma war bekannt als Scrooge & Marley. Manchmal redeten Leute, die neu im Geschäft waren, Scrooge mit Scrooge an und manchmal auch mit Marley, doch er hörte auf beide Namen. Es war ihm gänzlich gleich.
Oh!, aber er war ein alter Geizkragen, dieser Scrooge!, ein drängender, zerrender, packender, scharrender, schnappender, habsüchtiger alter Sünder! Hart und scharf wie ein Flintstein, aus dem noch kein Stahl kräftiges Feuer geschlagen hatte, zurückhaltend, verschlossen und einsam wie eine Auster. Die Kälte in ihm ließ seine alten Züge erstarren, kniff seine spitze Nase, ließ seine Backen schrumpfen, seinen Gang versteifen, machte seine Augen rot, seine schmalen Lippen blau und sprach boshaft mit seiner raspelnden Stimme. Auf dem Kopf, den Brauen und dem kantigen Kinn lag frostiger Reif. Stets umgab ihn seine niedrige Temperatur; an den Hundstagen kühlte er damit seine Geschäftsstube, an Weihnachten minderte er sie um kein Grad.
Äußere Wärme und Kälte hatten wenig Einfluss auf Scrooge. Keine Wärme konnte ihn wärmen, kein Winterwetter ihn erkalten lassen. Kein Wind, der wehte, war bitterer als er, kein fallender Schnee mehr auf seinen Zweck bedacht, kein Regenguss für Flehen weniger offen. Schlechtes Wetter wusste nicht, wo es ihn fassen konnte. Stärkster Regen, Schnee, Hagel und Graupel konnten sich nur in einer Hinsicht eines Vorteils über ihn rühmen. Sie zeigten sich häufig »freigebig«, Scrooge indes nie.
Nie hielt ihn jemand mit heiterer Miene auf der Straße an, um zu sagen: »Mein lieber Scrooge, wie geht es Ihnen? Wann wollen Sie mich einmal besuchen kommen?« Kein Bettler bat ihn um ein Scherflein, kein Kind fragte ihn nach der Uhrzeit, kein Mann, keine Frau erkundigten sich bei Scrooge in seinem ganzen Leben nach dem Weg zu diesem oder jenem Ort. Sogar die Blindenhunde schienen ihn zu kennen, und wenn sie ihn daherkommen sahen, zerrten sie ihren Besitzer in einen Eingang oder einen Hof und wedelten dann mit dem Schwanz, als wollten sie sagen: »Gar kein Auge ist besser als ein böses, dunkler Meister!«
Doch was kümmerte es Scrooge! Genau so war es ihm ja lieb. Auf den dicht gedrängten Wegen des Lebens vorzurücken, alle menschliche Anteilnahme zu warnen, nur ja Abstand zu halten, war für Scrooge »famos«, wie die, welche Bescheid wissen, es nennen.
Nun geschah es – von allen guten Tagen im Jahr ausgerechnet an Heiligabend –, dass der alte Scrooge geschäftig in seinem Kontor saß. Es war kaltes, trübes, schneidendes Wetter, neblig obendrein, und er hörte auf dem Hof draußen die Leute, wie sie keuchend vorbeiliefen, sich die Hände auf die Brust schlugen und mit den Füßen aufs Pflaster stampften, um sich zu wärmen. Die Uhren der Stadt hatten eben erst drei geschlagen, doch es war schon dunkel – den ganzen Tag war es nicht hell gewesen –, und in den Fenstern der angrenzenden Kontorstuben flackerten Kerzen gleich rötlichen Klecksen auf der fühlbar braunen Luft. Der Nebel strömte in jede Ritze, jedes Schlüsselloch, und war draußen so dicht, dass die Häuser gegenüber, obgleich der Hof vom Schmalsten, bloße Schemen waren. Beim Anblick der düsteren Wolke, die sich da herabsenkte und alles verbarg, hätte man meinen können, dass die Natur ganz nahe war und etwas Großes gärte.
Die Tür zu Scrooges Kontor stand offen, damit er ein Auge auf seinen Kommis haben konnte, welcher in einer trostlosen kleinen Zelle dahinter, einer Art Kabuff, Briefe kopierte. Scrooge hatte ein sehr kleines Feuer brennen, das Feuer des Kommis hingegen war noch viel kleiner, sodass es aussah wie eine Kohle. Doch er konnte es nicht auffüllen, da Scrooge den Kohlenkasten bei sich im Zimmer behielt, und so sicher, wie der Kommis mit der Schaufel hereinkam, prophezeite der Meister, dass es nötig würde, sich zu trennen. Worauf der Kommis sich seinen dicken weißen Schal umband und versuchte, sich an der Kerze zu wärmen, worin er, da kein Mann von starker Phantasie, scheiterte.
»Frohe Weihnachten, Onkel! Gott schütze dich!«, rief eine muntere Stimme. Sie gehörte Scrooges Neffen, welcher so schnell hereinkam, dass er erst dadurch sein Nahen bemerkte.
»Pah!«, sagte Scrooge. »Humbug!«
So sehr hatte er sich vom schnellen Gang in Nebel und Frost erhitzt, der Neffe Scrooges, dass er ordentlich glühte; sein Gesicht war rotwangig und hübsch, seine Augen funkelten, und sein Atem dampfte wieder.
»Weihnachten ein Humbug, Onkel!«, sagte Scrooges Neffe. »Das meinst du doch gewiss nicht ernst?«
»Allerdings«, sagte Scrooge. »Frohe Weihnachten! Mit welchem Recht bist du froh? Aus welchem Grund bist du froh? Du bist doch ganz arm.«
»Na, komm«, versetzte der Neffe freudig. »Mit welchem Recht bist du trübsinnig? Aus welchem Grund bist du mürrisch? Du bist doch ganz reich.«
Da Scrooge so schnell keine bessere Antwort parat hatte, sagte er erneut »Pah!« und ließ dem ein »Humbug« folgen.
»Sei nicht verdrießlich, Onkel!«, sagte der Neffe.
»Was kann ich denn sonst sein«, versetzte der Onkel, »wenn ich in einer solchen Narrenwelt lebe? Frohe Weihnachten! Geh mir weg mit frohe Weihnachten! Was ist dir Weihnachten anderes als eine Zeit, in der du Rechnungen ohne Geld bezahlst, eine Zeit, um wieder ein Jahr älter zu sein, aber keine Stunde reicher, eine Zeit, die Bücher zu saldieren, und jeder Posten aus einem runden Dutzend Monate darin sich nur gegen dich stellt? Ginge es nach mir«, sagte Scrooge aufgebracht, »so sollte jeder Idiot, der mit ›Frohe Weihnachten‹ auf den Lippen herumläuft, in seinem eignen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmenstock im Herzen begraben werden. Wahrhaftig!«
»Onkel!«, flehte der Neffe.
»Neffe!«, erwiderte der Onkel streng, »begeh du Weihnachten auf deine Art, ich begeh's auf meine.«
»Begehen!«, erwiderte der Neffe. »Aber du begehst's doch gar nicht.«
»Dann lass mich's eben sein lassen«, sagte Scrooge. »Soll's dir viel Gutes tun! Viel Gutes hat's dir ja schon getan!«
»Es gibt freilich vieles, woraus ich vielleicht Gutes gezogen, wovon ich aber nicht profitiert habe«, versetzte der Neffe. »Auch Weihnachten war darunter. Dennoch war die Weihnachtszeit, wenn sie dann kam, für mich stets – einmal abgesehen von der Ehrfurcht wegen des heiligen Namens und Ursprungs, falls denn von etwas, was dazugehört, abgesehen werden kann – eine gute Zeit, eine freundliche, nachsichtige, gütige, angenehme Zeit, die einzige im langen Kalender des Jahres, die ich kenne, da Männer und Frauen durch einen Konsens ihre verschlossenen Herzen freimütig zu öffnen scheinen und die Leute unter ihnen so sehen, als wären sie tatsächlich Mitreisende zum Grab und nicht eine andere Rasse von Geschöpfen, die auf anderen Reisen unterwegs sind. Und daher, Onkel, auch wenn es mir noch nie ein Krümchen Gold oder Silber in die Tasche gesteckt hat, glaube ich doch, dass sie mir Gutes getan hat und tun wird, und ich sage: Gott segne sie!«
Der Kommis in dem elenden Kabuff applaudierte unwillentlich. Doch ward er sich dieser Ungehörigkeit sogleich bewusst und stocherte im Feuer, womit er den letzten schwachen Funken auf immer löschte.
»Hör ich von dir noch einen Ton«, sagte...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2015 |
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Übersetzer | Eike Schönfeld |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 50plus • A Christmas Carol in Prose. Being a Ghost Story of Christmas deutsch • Best Ager • Christoph Martin Wieland-Preis 2013 • Erzählung • Generation Gold • Geschenkbuch • Golden Ager • insel taschenbuch 4402 • Internationaler Hermann-Hesse-Preis 2014 • IT 4402 • IT4402 • Rentner • Rentnerdasein • Ruhestand • Senioren • Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2009 • Weihnachten |
ISBN-10 | 3-458-74374-X / 345874374X |
ISBN-13 | 978-3-458-74374-3 / 9783458743743 |
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