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Der Schneegänger (eBook)

Spiegel-Bestseller
Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2015
448 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-15506-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Schneegänger - Elisabeth Herrmann
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Ein kleiner Junge wird entführt - und alle Ermittlungen laufen ins Leere. Vier Jahre später wird sein Skelett im Wald gefunden. Polizeimeisterin Sanela Beara muss dem Vater die schlimme Nachricht überbringen. Doch die Begegnung mit dem gut aussehenden Darko, der in den Wäldern Brandenburgs als Wolfsforscher arbeitet, löst Zweifel in ihr aus: War es wirklich eine Entführung? Oder wurde der Junge aus einfachen Verhältnissen etwa verwechselt? Doch alle Beteiligten schweigen eisern. Für Sanela gibt es nur eine Chance, Licht ins Dunkel zu bringen: Sie schleust sich undercover in die Villa der schwerreichen Familie Reinartz ein, bei der die Mutter des ermordeten Jungen damals gearbeitet hat - und wird hineingezogen in einen Strudel aus Hass, Gier und Verachtung, der sie selbst an ihre äußerste Grenze treibt ...

Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.

1

Die Kälte erwürgte die Stadt.

Verlassen die Boulevards, klirrend die Einsamkeit über den Straßen und Plätzen. Die Schneeberge am Rand der Bürgersteige waren nur mühsam zu erklimmen. Es war noch dunkel, der Schein der Straßenlaterne erhellte kaum die Kreuzung und schon gar nicht die vereisten Spurrillen, in denen die Autos herumschlingerten wie in schlecht ausgehobenen Gleisbetten. Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring rutschte mehrfach aus und hielt sich mühsam balancierend an seinem Wagendach fest, um auf die Fahrerseite zu gelangen. Wie viel Restalkohol hatte er wohl noch im Blut? Seine Mordkommission war in Bereitschaft. Er als ihr Leiter hätte um 05:30 Uhr morgens fit und ausgeschlafen den neuen Unbekanntfall übernehmen sollen.

Stattdessen glitt ihm auch noch der Autoschlüssel aus den klammen Fingern. Die Fahrertür bekam er erst im dritten Anlauf und mit ziemlicher Kraftanstrengung auf. Die Dichtung dankte es ihm mit einem unheilvoll reißenden Geräusch, das an das Öffnen eines Klettverschlusses erinnerte. Endlich hatte er sich hinter das Lenkrad gezwängt, behindert von der dicken Winterkleidung, startete den Motor und lenkte die eiskalte Heizungsluft auf die zugefrorenen Scheiben. Er hoffte, dass ihn niemand bei diesem umweltpolitischen Frevel beobachtete. Sein Handy klingelte. Mühsam wühlte er in der Tasche seines Wintermantels, bis er es gefunden, einmal in den Fußraum fallen gelassen und endlich am Ohr hatte.

»Ja?«, bellte er.

»Ich bin’s.« Die glockenhelle Stimme von Angelika Rohwe klang exakt so, wie er sich eigentlich fühlen sollte.

Seit der Weihnachtsfeier vor sechs Wochen meldete sie sich nicht mehr mit ihrem Namen, wenn sie bei ihm anrief. Ein weiteres Indiz dafür, dass er an jenem Abend eine Grenze überschritten hatte. Sie hatten das Vereinsheim eines Schützenverbandes am Müggelsee gemietet. Es hatte von Anfang an kein guter Stern über diesem Abend gestanden, zumindest nicht für ihn. Die rustikale Enge, eine weit jenseits von Geschmacksdiskussionen liegende Musikauswahl und die Aussicht, in seine halb leere Wohnung mit halb eingepackten Weihnachtsgeschenken zurückzukehren, hatten ihn unvorsichtig werden lassen. Ein trunkener Gang über den Parkplatz weit nach Mitternacht, einer den anderen stützend, ihr keckes Lächeln, als sie seinen Wagen als Erste erreicht hatte, der flüchtige Abschiedskuss, der sich zu einer veritablen Knutscherei ausdehnte, blonde Haare, blaue Augen, Sommersprossen, sogar die Größe kam hin. Beim Aufwachen hatte er sie mit Susanne angesprochen, und bis heute hoffte er inständig, dass sie den Ausrutscher überhört hatte. Er hatte eine Entschuldigung gestammelt und war überstürzt aus ihrer Wohnung geflohen. In stillschweigender Übereinkunft hatten sie diese Nacht nie wieder angesprochen. Doch seitdem meldete Angelika sich mit »Ich bin’s«, und Gehring wusste nicht, wie er sie dazu bringen konnte, das bleibenzulassen. Er wollte sie nicht verletzen, redete er sich seine Feigheit schön.

»Ich muss sowieso über Köpenick. Soll ich dich mitnehmen?«

Gehring erinnerte sich nicht daran, Angelika gegenüber jemals erwähnt zu haben, wo er wohnte.

»Danke. Ich bin schon im Wagen. Bis gleich.«

Er legte auf und sah in den Rückspiegel. Ihm blickte das entgegen, was er im Stillen sein Montag-alle-zwei-Wochen-Gesicht nannte. Das, was von ihm übrig blieb, wenn er die Kinder am Sonntag bei seiner Ex und ihrem Neuen abgeliefert hatte und den Rest des Abends nicht in einer Wohnung verbringen wollte, in der benutzte Müslischalen und zerwühlte Betten Zeugnis ablegten von dem, was im Allgemeinen Umgangsrecht genannt wurde.

Auf seiner rechten Wange klebte noch ein winziges, blutdurchtränktes Stück Toilettenpapier. Nassrasur. Mit steifen Fingern pflückte er es ab.

Im Eis der Scheibe erschien ein dunkles Loch mit verblassenden Rändern. Die Wetterlage versprach als einzigen Trost Beständigkeit: Das Tief lag wie ein Gletscher auf der Polkappe. Es rückte nicht von der Stelle und hielt die Stadt in seinem Klammergriff. Vielleicht ging es noch Wochen so weiter. Gehring schaltete das Licht ein und versuchte, seinen Wagen aus der Parkbucht herauszuzwingen. Nach mehreren Anläufen mit aufheulendem Motor gelang es ihm schließlich. Im Schritttempo fuhr er aus der Wohnstraße auf die breitere, gestreute Köpenicker Landstraße.

Skelettfund im Grunewald. Am anderen Ende der Stadt. Er berechnete die Fahrtzeit mit circa vierzig Minuten und versuchte sich an die mageren Fakten zu erinnern, die man ihm durchgegeben hatte. Schutzpolizei und Kriminaldauerdienst waren schon vor Ort, die Rechtsmedizin und der Tatortfotograf informiert. Vier seiner acht Mitarbeiter befanden sich ebenfalls auf dem Weg Richtung Schildhorn. Um diese Uhrzeit war es besser, das Treffen gleich am Fundort auszumachen. Es würde eine Menge los sein im verschneiten Wald. Er hatte die Pressestelle gebeten, die Meldung so lange zurückzuhalten, bis er sich persönlich ein Bild gemacht hatte. Als sein Navigationsgerät ihn von der Heerstraße auf die Havelchaussee leitete, konnte er am Himmel bereits das fahle Licht der Morgendämmerung erahnen. Im Auto war es warm, und er spürte einen überwältigenden Unwillen bei dem Gedanken, es bald wieder verlassen zu müssen.

Eine Straßensperre. Wütende, graugesichtige Pendler, die auf der engen Fahrbahn wendeten. Blaulicht. Gehring zeigte seinen Ausweis und wurde durchgelassen. Er sah eine Polizistin mit Thermoskanne auf dem Weg zu dem blausilbernen Kleinbus, in dem ein verstörter Mann mit einem Hund saß. Vermutlich der Revierförster. Er parkte ein paar Meter weiter. Erst wollte er an den Fundort. Zwei Kollegen, die Kommissare Manteuffel und Kramer, unterbrachen ihre Unterhaltung und kamen auf ihn zu. Die Begrüßung fiel wohltuend kurz aus. Angelika war noch nicht eingetroffen. Sie beschlossen, nicht zu warten, sondern gleich einem der Männer vom KDD ins Dickicht zu folgen.

Der Wald musste eine majestätische Ruhe ausstrahlen, wenn sie nicht gerade durch die anlaufende Operation einer Mordermittlung gestört wurde. Tiefe Spuren im verharschten Schnee zeugten von regem Wildwechsel. Hasen, Rehe, Wildschweine … Gehring hätte vielleicht die Fährte eines Fuchses von den Abdrücken einer Krähe unterscheiden können, doch zu mehr reichte sein Wissen über die heimische Fauna nicht. Es war so gottverdammt kalt. Glücklicherweise hatte er daran gedacht, zwei Paar Socken und eine lange Unterhose anzuziehen, aber selbst diese Ausstattung reichte nicht. Er spürte, wie seine Wangen taub wurden und die Nasenhaare beim Luftholen knisternd zusammenfroren – es roch nach brennendem Frost, trockenem Schnee und bleichem Licht. Diese Kälte tötete alles, sogar die Gerüche.

Manteuffel, groß, kräftig, auf jeden Fall von der Kondition her besser für diesen ungewöhnlichen Ausflug geeignet als sein schwächelnder Vorgesetzter, fasste zusammen, was bis jetzt bekannt war. Seine sonst dröhnende Stimme klang gedämpft, fast so, als ob sie eine Kirche betreten hätten. Für einen Moment hatte Gehring das Gefühl, in Feindesland einzudringen. Dabei war es nur ein Winterwald. Doch in diesem fahlen Zwielicht kurz vor Morgengrauen wirkte die Umgebung wie eine andere Welt jenseits der großen Stadt. Ehrfurchtgebietend. Einschüchternd. Heilig.

Um 05:22 Uhr hatte der Revierförster Egon Schramm (was um Himmels willen trieb selbst einen Revierförster um diese Uhrzeit an einem Februarmorgen vor die Tür?) einen Notruf abgesetzt. Sein Hund war laut bellend in den Wald gestürmt. Er musste irgendetwas Außergewöhnliches gewittert haben – vermutlich einen Zwölfender, juxte Kramer und lachte. Jedem seiner Witze schickte er ein trockenes Lachen hinterher, als ob er dem dünnen Flachs, den er spann, selbst nicht ganz traute. Kramer war ein zäher, magerer Mann Ende dreißig, der seine frühe Halbglatze damit begründete, dass seine fünf Kinder ihm die Haare vom Kopf fräßen. Fünf Kinder. Als er in Gehrings Team gekommen war, hatte Kramer gleich den ersten seiner brüllend komischen Witze nachgeschoben: Ja, er habe auch noch andere Hobbys.

Egon Schramm, fuhr Manteuffel ungerührt und mäßig erheitert fort, war seinem Hund gefolgt. Quer hinein ins verschneite Dickicht, bis er in einer Senke mit der Ursache des Gebells konfrontiert wurde: einem halb ausgegrabenen menschlichen Schädel.

»Tierfraß?« Gehring hatte das Gefühl, dass sogar seine Kiefer eingefroren wären.

»Haussmann ist schon da«, antwortete Manteuffel mit einem vagen Schulterzucken. Es bedeutete, dass er genauso wenig wusste wie der Leiter seiner Truppe. »Der Boden ist zwanzig, dreißig Zentimeter tief gefroren. Ein Glück, denn es waren wohl schon Tiere dran. Viel können sie im Moment noch nicht sagen, nur dass jemand die Leiche vergraben hat.«

Gehring nickte und stapfte weiter. Damit war die Möglichkeit eines Unfalls oder Suizids ausgeschlossen. Er hätte die Kollegen gerne gefragt, wie lange sie noch durch den Schnee stiefeln mussten, aber er wollte nicht dastehen wie ein Weichei. Die Polizisten an der Straße hatten wattierte Jacken an, Mützen mit Ohrenschützern, dicke Handschuhe und Stiefel, um die er sie trotz der plumpen Hässlichkeit glühend beneidete.

»Da vorne.«

Der Kollege vom KDD blieb so abrupt stehen, dass Gehring fast in ihn hineingelaufen wäre. Schnee stäubte wie Puderzucker von den dürren Zweigen. Mehrere Superlites erhellten die Szene. Hinter Baumstämmen tauchten ab und zu geisterhafte Gestalten in Weiß auf, die Spurensicherung durchkämmte den weiteren Umkreis. Eine Kamera klickte, der Fotograf nickte den Neuankömmlingen kurz zu und...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2015
Reihe/Serie Sanela Beara
Sanela Beara
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Deutsche Kriminalliteratur • Deutsche Kriminalliteratur, Sanela Beara, SPIEGEL-Bestseller-Autorin • Deutschland • eBooks • Heimatkrimi • Kindesentführung • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Sanela Beara • Spiegel-Besteller-Autorin • Spiegel-Bestseller-Autorin
ISBN-10 3-641-15506-1 / 3641155061
ISBN-13 978-3-641-15506-3 / 9783641155063
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