Die Lebenden und die Toten (eBook)
560 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0962-0 (ISBN)
Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, heute ist sie die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands. Außerdem schreibt die Pferdeliebhaberin Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.
Nele Neuhaus, geboren 1967 in Münster/Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman "Schneewittchen muss sterben" brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und, unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg, Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 20 Ländern.
Zur gleichen Zeit …
Kriminalhauptkommissarin Pia Kirchhoff hatte Urlaub. Seit letzter Woche Donnerstag, bis zum 16. Januar 2013. Vier ganze Wochen! Ihr letzter richtig langer Urlaub lag fast vier Jahre zurück: 2009 waren Christoph und sie in Südafrika gewesen, danach hatten sie es nur noch zu Kurzreisen geschafft, aber diesmal würde es fast auf die andere Seite des Globus gehen, nach Ecuador und von dort aus mit einem Schiff zu den Galapagosinseln. Christoph war schon öfter vom Veranstalter der exklusiven Kreuzfahrtreisen als Reiseleiter engagiert worden, und sie reiste zum ersten Mal mit – als seine Ehefrau.
Pia setzte sich auf die Bettkante und betrachtete versonnen den schmalen goldenen Ring an ihrer Hand. Der Standesbeamte war etwas irritiert gewesen, als Christoph ihr den Ring an die linke Hand gesteckt hatte, doch sie hatte ihm erklärt, dass sich links schließlich das Herz befände und sie deshalb beschlossen hätten, ihre Eheringe an der linken Hand zu tragen. Das war nur die halbe Wahrheit, denn dieser Entschluss hatte auch mehrere ganz pragmatische Gründe. Zum einen hatte Pia in ihrer ersten Ehe mit Henning den Ehering, wie es in Deutschland üblich war, rechts getragen. Zwar war sie nicht übermäßig abergläubisch und wusste, dass das Scheitern dieser Ehe nichts damit zu tun gehabt hatte, aber sie wollte das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Zum anderen – und das war der Hauptgrund für ihre Entscheidung – war es äußerst schmerzhaft, wenn ihr jemand mit festem Händedruck die Hand gab und dabei beinahe mit dem Ring ihren Finger zerquetschte.
Christoph und sie hatten am Freitag im Standesamt in Höchst, das sich im Gartenpavillon des Bolongaropalastes befand, heimlich, still und leise geheiratet. Ohne Freunde, Familie oder Trauzeugen und ohne es jemandem zu sagen. Erst nach ihrer Rückkehr aus Südamerika würden sie es bekanntgeben und dann im nächsten Sommer ein großes Fest auf dem Birkenhof feiern.
Pia riss sich vom Anblick des Rings los und fuhr damit fort, die auf dem Bett gestapelte Wäsche möglichst platzsparend in zwei Koffern zu verstauen. Dicke Pullover und Jacken würden sie nicht brauchen. Stattdessen Sommerklamotten. T-Shirts. Shorts. Badeanzug. Sie freute sich darauf, dem Winter und dem Weihnachtsfest, dem sie nicht sonderlich viel abgewinnen konnte, zu entrinnen und stattdessen an Deck eines Kreuzfahrtschiffs in der Sonne zu dösen, zu lesen und einfach mal richtig zu faulenzen. Christoph würde zwar viel zu tun haben, aber er hatte auch Freizeit, und die Nächte gehörten ihnen allein. Vielleicht würde sie ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrem Bruder – ja, vor allem ihm und seiner arroganten Frau – Postkarten schicken und ihnen darauf mitteilen, dass sie geheiratet hatte. Noch immer hatte sie den missbilligenden Kommentar ihrer Schwägerin Sylvia im Ohr, als diese von ihrer Trennung von Henning erfahren hatte. »Eine Frau über dreißig wird eher vom Blitz getroffen, als dass sie noch einen Mann findet«, hatte Sylvia pessimistisch geunkt. Tatsächlich war Pia vom Blitz getroffen worden, an einem sonnigen Junimorgen vor sechs Jahren im Elefantengehege des Opel-Zoos. Denn dort waren sie und Dr. Christoph Sander, der Direktor des Zoos, sich zum ersten Mal begegnet und hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt. Seit vier Jahren lebten sie nun gemeinsam auf dem Birkenhof in Unterliederbach und waren recht bald zu dem Schluss gekommen, dass sie dies bis zum Ende ihres Lebens tun wollten.
Das Handy, das unten auf dem Küchentisch lag, fing an zu trillern. Pia lief die Treppe hinunter, ging in die Küche und warf einen Blick auf das Display, bevor sie das Gespräch entgegennahm.
»Ich habe Urlaub«, sagte sie. »Eigentlich bin ich schon so gut wie weg.«
»›Eigentlich‹ ist ein ausgesprochen schwammiger Ausdruck«, erwiderte Oliver von Bodenstein, ihr Chef, der mitunter die nervtötende Angewohnheit besaß, Worte auf die Goldwaage zu legen. »Es tut mir auch wirklich sehr leid dich zu stören. Aber ich habe ein Problem.«
»Ach.«
»Wir haben eine Leiche, ganz bei dir in der Nähe«, fuhr Bodenstein fort. »Ich bin noch in einer Brandsache unterwegs. Cem ist verreist, Kathrin hat sich krankgemeldet. Vielleicht könntest du nur mal kurz hinfahren und dich um die Formalitäten kümmern. Kröger und seine Leute sind schon unterwegs. Ich komme sofort und übernehme, sobald ich hier durch bin.«
Pia überschlug im Kopf rasch ihre To-do-Liste. Sie war gut im Zeitplan, hatte bereits alles organisiert, was für eine dreiwöchige Abwesenheit organisiert werden musste. Die Koffer fertig zu packen war eine Sache von einer halben Stunde. Bodenstein würde sie nicht bitten, wenn er sie nicht wirklich dringend brauchte. Für ein paar Stunden konnte sie aushelfen, ohne sich einen Zacken aus der Krone zu brechen.
»Okay«, sagte sie deshalb. »Wo muss ich hin?«
»Danke, Pia, das ist echt nett von dir.« Die Erleichterung war Bodensteins Stimme anzuhören. »Nach Niederhöchstadt. Am besten biegst du dort von der Hauptstraße nach Steinbach ab. Nach ungefähr achthundert Metern geht ein Feldweg rechts ab, den fährst du rein. Die Kollegen sind schon vor Ort.«
»Alles klar.« Pia beendete das Gespräch, zog den Ehering vom Finger und legte ihn in die Küchenschublade. »Wir sehen uns später.«
***
Wie so oft hatte Pia keine Ahnung, was sie am Leichenfundort erwarten würde. Der KvD von der Wache hatte sie lediglich über den Fund einer weiblichen Leiche in Niederhöchstadt informiert, als sie Bescheid gegeben hatte, dass sie unterwegs war. Kurz hinter dem Ortsausgang bog sie rechts in einen asphaltierten Feldweg ein und sah schon von weitem einige Streifenwagen und ein Rettungsfahrzeug. Beim Näherkommen erkannte sie den blauen VW-Bus der Spurensicherung und andere zivile Fahrzeuge. Sie parkte auf einer kleinen Grasfläche vor einem Buschdickicht, fischte ihre beigefarbene Daunenjacke vom Rücksitz und stieg aus.
»Hallo, Frau Kirchhoff«, begrüßte sie ein junger Kollege von der Schutzpolizei, der an der Absperrung stand. »Sie müssen den Weg runter gehen. Hinter dem Gebüsch rechts.«
»Guten Morgen und danke«, erwiderte sie und folgte dem Weg, den er ihr gewiesen hatte. Die Büsche bildeten mitten im freien Feld ein kleines Wäldchen. Pia bog um die Ecke und traf zuerst Kriminalhauptkommissar Christian Kröger, den Chef der Spurensicherung vom Hofheimer K11.
»Pia!«, rief Kröger erstaunt. »Was tust du denn hier? Du hast doch …«
»… Urlaub«, fiel sie ihm lächelnd ins Wort. »Oliver hat mich gebeten, hier anzufangen. Er kommt gleich, und dann bin ich auch schon verschwunden. Was haben wir hier?«
»Üble Sache«, antwortete Kröger. »Eine Frau wurde erschossen. Kopfschuss. Am helllichten Tag und keinen Kilometer von der Eschborner Polizeistation entfernt.«
»Wann ist das passiert?«, erkundigte Pia sich.
»Ziemlich genau um kurz vor neun«, sagte Kröger. »Ein Fahrradfahrer hat gesehen, wie sie zusammenbrach. Einfach so. Er hat keinen Schuss gehört. Aber der Rechtsmediziner ist der Ansicht, dass sie mit einem Gewehr aus einiger Entfernung erschossen wurde.«
»Ach, ist Henning etwa da? Ich habe sein Auto gar nicht gesehen.«
»Nein, glücklicherweise ist ein Neuer gekommen. Seitdem dein Ex den Chefsessel erklommen hat, hat er wohl keine Zeit mehr für Außeneinsätze.« Kröger grinste. »Was ich nicht sehr bedaure.«
Er hegte eine tiefe Abneigung gegen Henning Kirchhoff, die dieser von Herzen erwiderte, und häufig benahmen sich die beiden zickig wie zwei Diven, was der Gründlichkeit ihrer Arbeit jedoch keinen Abbruch tat. Einzig deshalb erduldeten alle Beteiligten seit Jahren das kindische Kompetenzgerangel der beiden, deren Wortgefechte an diversen Tatorten längst legendär waren.
Nach Professor Thomas Kronlages Emeritierung im Sommer war Henning Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts geworden. Eigentlich hatte die Universität die Stelle für externe Bewerber ausschreiben wollen, aber Hennings Qualifikation auf dem Gebiet der forensischen Anthropologie war so wertvoll, dass man ihm den Chefposten gegeben hatte, um ihn nicht zu verlieren.
»Wie heißt der Neue?«, fragte Pia.
»Sorry, hab ich vergessen«, murmelte Kröger.
Der Mann im weißen Overall, der neben der Leiche hockte, streifte die Kapuze zurück und richtete sich auf. Nicht mehr ganz jung, konstatierte Pia, der kahlgeschorene Kopf und der dicke Schnauzbart erschwerten eine Schätzung. Eine Glatze ließ einen Mann schnell älter erscheinen, als er tatsächlich war.
»Dr. Frederick Lemmer.« Der Rechtsmediziner zog den rechten Handschuh aus und hielt ihr die Hand hin. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Mich auch«, erwiderte Pia und ergriff seine Hand. »Ich bin Pia Kirchhoff vom K11 aus Hofheim.«
Ein Leichenfundort war kein Platz für höfliche Konversation, deshalb beließ es Pia bei der kurzen Vorstellung. Sie wappnete sich innerlich gegen den Anblick, der sie erwartete, und trat näher an die Leiche heran. Die pinkfarbene Wollmütze und das weiße Haar der Toten bildeten surreale Farbflecke auf grauem Asphalt, braunem Schlamm und einer schwärzlichen Blutlache.
»Schindlers Liste«, murmelte Pia.
»Wie bitte?«, fragte Dr. Lemmer ein wenig irritiert.
»Der Film mit Liam Neeson und Ben Kingsley«, erklärte Pia.
Der Rechtsmediziner begriff sofort, was sie meinte, und lächelte.
»Stimmt. Sieht ein bisschen so aus. Der Film war...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2014 |
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Reihe/Serie | Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi | Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestsellerautor • Bodenstein • Deutschland • Dorf • Dorfkrimi • Ermittler • Ermittlung • Felicitas Woll • Fernsehserie • Frankfurt • Gegenwart • Hessen • Horror • Kirchhoff • Krimi • Kriminalroman • Krimiserie • Leiche • Medizinethik • Mord • Nele Neuhaus • Organhandel • Pia Kirchhoff • Polizei • Polizeiarbeit • Provinzkrimi • Rache • Regionalkrimi • Selbstjustiz • Serienkiller • Serienmörder • Taunus • Thriller • Tim Bergmann • verfilmt • Vergeltung • ZDF |
ISBN-10 | 3-8437-0962-9 / 3843709629 |
ISBN-13 | 978-3-8437-0962-0 / 9783843709620 |
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