Das goldene Ei (eBook)
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60414-6 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
[7] 1
Es war ein ruhiger Abend daheim bei den Brunettis, man saß friedlich vereint beim Essen. An seinem Stammplatz Brunetti, sein Sohn Raffi neben ihm; Brunetti gegenüber seine Frau Paola, und neben ihr Tochter Chiara. Eine Platte fritto misto, angereichert mit Gemüse, insbesondere Karotten, Chiaras momentanen Favoriten, hatte die friedliche Stimmung eingeläutet; die Gesprächsthemen taten ihr keinen Abbruch. Schule, Arbeit, der neue Welpe eines Nachbarn, erster Labradoodle von Venedig; eins ging ins andere über in munterem Wechsel, auch wenn es immer irgendwie mit der Stadt zu tun hatte, in der sie lebten.
Als gebürtige Venezianer unterhielten sie sich dennoch auf Italienisch, nicht auf Veneziano. Brunetti und Paola hatten von Anfang an darauf vertraut, dass die Kinder den Dialekt ohnedies lernen würden, von Freunden und auf der Straße. Und so war es auch: Den Kindern ging Veneziano genauso mühelos über die Lippen wie ihrem Vater, der damit aufgewachsen war. Paola wiederum hatte den Dialekt – auch wenn sie das nicht an die große Glocke hängte – als Kind nicht von ihren Eltern, sondern nur bisweilen von den zahlreichen Dienstboten im Palazzo Falier aufgeschnappt, weshalb sie ihn weniger gut beherrschte als die anderen. Überhaupt nicht peinlich war es ihr hingegen, dass sie von ihrer Kinderfrau nahezu das Englisch einer Muttersprachlerin gelernt hatte und dass es ihr gelungen war, diese Sprache an ihre beiden Kinder weiterzugeben. Unterricht durch [8] einen Privatlehrer und Sommerferien in England taten ein Übriges.
Familien haben ähnlich wie Religionen Regeln und Rituale, mit denen Außenstehende wenig anfangen können. Auch sind ihnen Dinge wichtig, die von Mitgliedern anderer Gruppen nicht im gleichen Maße geschätzt werden. Wenn den Brunettis etwas heilig war – während Religion für sie eher ein leeres Ritual bedeutete –, dann war es die Sprache. Wortspiele und Witze, Kreuzworträtsel und Reihumgeschichten bedeuteten ihnen ebenso viel wie Kommunion und Firmung den Katholiken. Verstöße gegen die Grammatik mochten als lässliche Sünden durchgehen; ungelenke Ausdrucksweise hingegen galt als Todsünde. Die Kinder wären nie auf die Idee gekommen, diesen Glauben in Frage zu stellen; vielmehr strebten sie nach den höheren Weihen.
So stellte denn Chiara, kaum waren die Teller abgeräumt, von denen sie den Fenchelsalat mit Orangen gegessen hatten, ihr Wasserglas mit Nachdruck auf den Tisch und sagte: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
»Clorindas und Giuseppes Blicke trafen sich, und sie sahen im Glück vereint auf ihr Baby hinab«, steigerte Paola mit viel Gefühl in der Stimme den Einsatz.
Raffi warf seiner Mutter und Schwester einen Blick zu, legte den Kopf schief, fixierte das Gemälde an der Wand gegenüber und erklärte dann: »Und so geschah es. Die Radikalkur versetzte selbst die Ärzte, die sie durchführten, in Erstaunen: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit kam ein Mann mit einem Baby nieder.«
Brunetti ließ sich nicht lumpen: »Bevor er in den [9] Kreißsaal musste, brachte Giuseppe noch heraus: ›Sie bedeutet mir nichts, meine Liebe. Du bist die wahre Mutter meines Kindes.‹«
Chiara, die den Beiträgen der anderen mit wachsendem Interesse gelauscht hatte, nahm den Faden auf: »Nur eine felsenfeste Ehe konnte derlei Prüfungen trotzen, aber Clorinda und Giuseppe einte eine Liebe, die über alle Begriffe ging und jedes Hindernis überwand. Für einen Augenblick jedoch wankte Clorinda in ihrem Glauben. ›Ausgerechnet mit Kimberley? Meiner Busenfreundin?‹«
Damit gab sie den Ball an Paola zurück, die mit der Stimme eines unbeteiligten Erzählers erklärte: »Um das Fundament der Wahrhaftigkeit, auf dem ihre Ehe gründete, nicht zu erschüttern, kam Giuseppe nicht umhin zu gestehen, dass sein Kinderwunsch ihn zum Äußersten getrieben hatte. ›Es hatte nichts zu bedeuten, meine Liebe. Ich habe es für uns getan.‹«
»›Du Scheusal‹, schluchzte Clorinda, ›mich so zu verraten! Und was ist mit meiner Liebe? Was ist mit meiner Ehre?‹« Dies war Raffis zweiter Beitrag, den er mit den Worten schloss: »›Und noch dazu mit meiner besten Freundin.‹«
Fasziniert von dieser Vorlage, meldete Chiara sich außer der Reihe: »Er senkte beschämt den Kopf und sagte: ›Wollte Gott, es wäre nicht Kimberleys Kind.‹«
Paola schlug, um Aufmerksamkeit heischend, mit der Hand auf den Tisch und rief: »›Aber das ist unmöglich. Die Ärzte haben doch gesagt, Kinder seien uns verwehrt.‹«
Verdrossen, weil er übergangen worden war – und auch noch von seiner Frau –, strengte Brunetti sich besonders an, [10] wie ein schwangerer Mann zu sprechen: »›Und doch: Ich trage ein Kind unter dem Herzen, Clorinda.‹«
Dann trat Stille ein, und alle überlegten fieberhaft, ob sie irgendetwas Haarsträubendes draufsetzen konnten, um Klischee und Melodram noch zu steigern. Als klar war, dass niemand dem mehr etwas hinzuzufügen hatte, stand Paola auf und sagte: »Zum Nachtisch gibt’s Ricotta-Zitronenkuchen.«
Als die Eltern später noch beim Kaffee im Wohnzimmer beisammensaßen, fragte Paola: »Weißt du noch, wie Raffi zum ersten Mal mit Sara hier war und sie uns alle für verrückt gehalten hat?«
»Kluges Mädchen«, meinte Brunetti nur. »Gute Menschenkenntnis.«
»Hör auf, Guido; sie war wirklich schockiert.«
»Im Lauf der Jahre hat sie sich an uns gewöhnt.«
»Das kann man wohl sagen«, räumte Paola ein und lehnte sich auf dem Sofa zurück.
Brunetti nahm Paola die leere Tasse ab und stellte sie auf den Sofatisch. »Spricht da die künftige Großmutter aus dir?«, fragte er.
Sie fuhr auf und knuffte ihn. »Sag so was nicht einmal im Scherz.«
»Möchtest du etwa nicht Großmutter werden?«, stellte Brunetti sich dumm.
»Ich möchte Großmutter eines Kindes sein, dessen Eltern einen Universitätsabschluss und Arbeit haben«, antwortete Paola plötzlich ernst.
»Ist das so wichtig?«, fragte Brunetti ebenso ernst zurück.
[11] »Wir haben immerhin beides, oder?«, wich sie aus.
»Üblicherweise beantwortet man Fragen mit Antworten, nicht mit weiteren Fragen«, bemerkte er, stand auf und ging in die Küche, wobei er nicht vergaß, die beiden Tassen mitzunehmen.
Wenige Minuten später kam er mit zwei Gläsern und einer Flasche Calvados zurück. Er setzte sich neben Paola und schenkte ein. Dann reichte er ihr ein Glas und nahm einen Schluck aus seinem.
»Wenn sie einen Abschluss und Arbeit haben, sind sie zwangsläufig älter, wenn Kinder kommen. Vielleicht auch klüger«, sagte Paola.
»Waren wir das?«, fragte Brunetti.
Sie überging die Frage. »Mit einer anständigen Ausbildung wissen sie mehr, und das könnte hilfreich sein.«
»Und die Arbeit?«
»Die ist nicht so wichtig. Raffi ist klug, er dürfte keine Schwierigkeiten haben, etwas zu finden.«
»Er ist klug, und er hat gute Beziehungen«, stellte Brunetti klar, auch wenn er Paola Macht und Reichtum ihrer Familie nicht unter die Nase reiben wollte.
»Gewiss«, räumte sie ein. »Aber Klugheit ist wichtiger.«
Brunetti sah das auch so und begnügte sich mit einem Nicken sowie einem weiteren Schlückchen Calvados. »Neulich hat Raffi mir erzählt, dass er Mikrobiologie studieren will.«
Paola stutzte. »Ich weiß nicht einmal, worum genau es da geht«, sagte sie und lächelte ihn an. »Ist dir das schon mal aufgefallen, Guido, all diese Begriffe, die wir täglich im Munde führen: Mikrobiologie, Physik, Astrophysik, Maschinenbau. [12] Wir reden davon, wir kennen sogar Leute, die auf diesen Gebieten arbeiten, aber ich könnte nicht erklären, was die genau machen. Du?«
Er schüttelte den Kopf. »Bei den alten Disziplinen ist das ganz anders – Literatur, Philosophie, Geschichte, Astronomie, Mathematik – da weiß man, was sie tun, oder zumindest, worum es geht. Historiker versuchen herauszufinden, was in der Vergangenheit geschehen ist, und dann versuchen sie herauszufinden, warum.« Er nahm sein Glas und drehte es versonnen zwischen den Handflächen wie ein Indianer, der Feuer macht. »Bei Mikrobiologie kann ich mir höchstens vorstellen, dass man sich mit kleinen Lebewesen beschäftigt. Mit Zellen.«
»Und darüber hinaus?«
»Weiß der Himmel«, sagte Brunetti.
»Was würdest du studieren, wenn du noch einmal von vorn anfangen müsstest? Wieder Jura?«
»Zum Vergnügen, oder um einen Job zu bekommen?«, fragte er.
»Hast du Jura studiert, um einen Job zu bekommen?«
Diesmal ging Brunetti darüber hinweg, dass sie eine Frage mit einer Frage beantwortet hatte. »Nein. Ich habe Jura aus Interesse studiert, und erst später wurde mir klar, dass ich bei der Polizei arbeiten wollte.«
»Und wenn du nur zum Vergnügen studieren könntest?«
»Altphilologie«, antwortete er, ohne zu zögern.
»Was, wenn Raffi sich hierfür entscheiden würde?«
Brunetti überlegte. »Es würde mich freuen«, sagte er schließlich. »Die meisten Kinder unserer Freunde sind arbeitslos, egal, was sie studiert haben, also könnte er ebenso [13] gut aus Spaß an der Sache studieren und nicht im Hinblick auf irgendeinen Job.«
»Und wo sollte er studieren?«, fragte Paola, ganz Mutter.
»Nicht hier.«
»Hier in Venedig oder hier in Italien?«
»Hier in Italien«, sagte Brunetti, auch wenn er sich dies selbst nicht gerne sagen hörte.
Sie warfen sich einen Blick zu, schicksalsergeben: Kinder werden erwachsen und ziehen in die weite Welt...
Erscheint lt. Verlag | 28.5.2014 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Golden Egg |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Gehörloser • Guido • Hauser • Hauser, Kaspar • Italien • Kaspar • Kindesvernachlässigung • Krimi • Mord • Schlaftabletten • Venedig |
ISBN-10 | 3-257-60414-9 / 3257604149 |
ISBN-13 | 978-3-257-60414-6 / 9783257604146 |
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