Der Engelsbaum (eBook)
640 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-14510-1 (ISBN)
Lucinda Riley wurde in Irland geboren und verbrachte als Kind mehrere Jahre in Fernost. Sie liebte es zu reisen und war nach wie vor den Orten ihrer Kindheit sehr verbunden. Nach einer Karriere als Theater- und Fernsehschauspielerin konzentrierte sich Lucinda Riley ganz auf das Schreiben - und das mit sensationellem Erfolg: Seit ihrem gefeierten Roman »Das Orchideenhaus« stand jedes ihrer Bücher an der Spitze der internationalen Bestsellerlisten, allein die Romane der »Sieben-Schwestern«-Serie wurden weltweit bisher über 30 Millionen Mal verkauft. Lucinda Riley lebte mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im englischen Norfolk und in West Cork, Irland. Sie verstarb im Juni 2021.
Kapitel 1
David Marchmont, der den Wagen bei heftigem Schneefall die schmale vereiste Straße entlangsteuerte, blickte zu seiner Beifahrerin hinüber.
»Es ist nicht mehr weit, Greta. Sieht so aus, als würden wir’s gerade noch rechtzeitig schaffen. Morgen früh ist diese Straße wahrscheinlich unpassierbar. Kommt dir irgendetwas bekannt vor?«, fragte er vorsichtig.
Greta wandte sich ihm zu. Ihre elfenbeinfarbene Haut hatte trotz ihrer achtundfünfzig Jahre keine Falten, und aus ihrem Gesicht leuchteten riesige blaue Augen, in denen weder Erregung noch Wut zu erkennen war. Das Feuer in ihnen war lange erloschen; sie wirkten so ausdruckslos und unschuldig wie die einer Porzellanpuppe.
»Mir ist klar, dass ich einmal hier gelebt habe, aber ich erinnere mich nicht daran. Tut mir leid, David.«
»Kein Problem«, tröstete er sie und wünschte sich gleichzeitig, den ersten grässlichen Anblick seines Elternhauses nach dem Brand – er hatte immer noch den beißenden Geruch von verkohltem Holz und Rauch in der Nase – aus seinem Gedächtnis löschen zu können. »Marchmont ist fast vollständig renoviert.«
»Ja, David, ich weiß. Das hast du mir letzte Woche, als du zum Abendessen bei mir warst, erzählt. Es gab Lammkoteletts, und wir haben eine Flasche Sancerre getrunken. Du hast gesagt, dass wir im Haupthaus schlafen würden.«
»Genau«, bestätigte David, der verstehen konnte, dass Greta sich an Details der Gegenwart klammerte, weil die Vergangenheit vor ihrem Unfall für sie nicht zugänglich war. Während er den Wagen über die glatte, leicht ansteigende Straße lenkte, auf der die Reifen kaum Halt fanden, überlegte er, ob es eine gute Idee gewesen war, Greta zu Weihnachten herzubringen. Es hatte ihn überrascht, dass sie nach jahrelangen erfolglosen Bemühungen seinerseits, sie aus ihrer Wohnung in Mayfair zu locken, seine Einladung nun angenommen hatte.
Nach drei Jahren umfassender Renovierungsarbeiten hatte er das Gefühl gehabt, dass es der richtige Moment sei, sie mitzunehmen. Und zu seiner Verwunderung schien sie dieses Gefühl zu teilen. Immerhin konnte er ihr ein warmes, gemütliches Haus bieten. Ob Wärme angesichts der Umstände auch auf der emotionalen Ebene möglich war, wusste er nicht …
»Es wird schon dunkel«, bemerkte Greta. »Und dabei ist es erst kurz nach drei.«
»Ja, hoffentlich ist es, wenn wir ankommen, noch hell genug, um Marchmont zu sehen.«
»Wo ich früher gewohnt habe.«
»Ja.«
»Mit Owen, meinem Mann, deinem Onkel.«
»Ja.«
David war klar, dass Greta die Details der Vergangenheit, an die sie sich nicht mehr erinnerte, einfach auswendig gelernt hatte wie für eine Prüfung. Und er war ihr Lehrer gewesen, dem die Ärzte geraten hatten, die traumatischen Ereignisse unerwähnt zu lassen, jedoch Namen, Daten und Orte zu nennen, die ihr möglicherweise den Schlüssel liefern konnten. Wenn sie sich bei seinen Besuchen unterhielten, glaubte er manchmal, ein kurzes Flackern in ihren Augen zu sehen, aber er war sich nicht sicher, ob das etwas mit seinen Schilderungen zu tun hatte oder tatsächlich mit ihrem Gedächtnis. Nach all den Jahren sprachen die Ärzte – die einmal prognostiziert hatten, dass Gretas Erinnerung allmählich wiederkehren würde, weil auf den zahlreichen CT-Aufnahmen ihres Gehirns seit dem Unfall nichts Auffälliges zu erkennen war – nun von »selektiver Amnesie«, verursacht durch traumatische Ereignisse. Ihrer Ansicht nach sträubte Greta sich gegen die Erinnerung.
David lenkte den Wagen vorsichtig um eine gefährliche Kurve. Wenig später würden die Tore von Marchmont in Sicht kommen. Obwohl er juristisch der Eigentümer war und ein Vermögen für die Instandsetzung des Hauses ausgegeben hatte, fungierte er letztlich nur als eine Art Verwalter. Nach dem fast vollständigen Abschluss der Renovierungsarbeiten waren Gretas Enkelin Ava und ihr Mann Simon, auf die das Anwesen bei seinem Tod übergehen würde, vom Gate Lodge ins Haupthaus Marchmont Hall gezogen. Einen günstigeren Zeitpunkt hätte es kaum geben können, weil sie in ein paar Wochen ihr erstes Kind erwarteten. Vielleicht, dachte David, ließen sich die Jahre einer Familiengeschichte mit so vielen tragischen Wendungen durch ein neues, unschuldiges Leben endlich auslöschen.
Noch komplizierter wurde alles dadurch, dass sich auch nach Gretas Gedächtnisverlust noch Dinge ereignet hatten … Dinge, vor denen er sie aus Angst vor der möglichen Wirkung auf sie geschützt hatte. Wie sollte sie mit dem Ende der Geschichte fertigwerden, wenn sie sich nicht an die Anfänge erinnerte …?
Was bedeutete, dass er, Ava und Simon bei Gesprächen mit Greta einen Eiertanz aufführten. Obwohl sie ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen wollten, mussten sie gleichzeitig immer aufpassen, was sie in ihrer Gegenwart sagten.
»Siehst du’s schon, Greta?«, fragte David, als er den Wagen durch das Tor steuerte und Marchmont in Sicht kam.
Das Haus, dessen Grundstein bereits in elisabethanischer Zeit gelegt worden war, erhob sich vor Hügeln, die sanft zu den Black Mountains anstiegen. Darunter mäanderte der River Usk durch das breite Tal, zu dessen beiden Seiten die Felder von frisch gefallenem Schnee glitzerten. Die rötlichen Ziegel des alten Gemäuers wurden an der Front von Dreifachgiebeln gekrönt, und in den längs unterteilten Fenstern spiegelten sich die letzten rosigen Strahlen der Wintersonne.
Das alte knochentrockene Holz im Innern und der Dachstuhl waren schnell den gierigen Flammen zum Opfer gefallen, doch die Außenmauern hatten dem Feuer getrotzt. Das lag, wie die Leute von der Feuerwehr ihm erklärten, zum Teil an dem glücklichen Umstand, dass etwa eine Stunde nach Ausbruch des Brandes ein heftiger Regenschauer niedergegangen war. Die Natur hatte Marchmont Hall vor der völligen Zerstörung bewahrt, so war immerhin etwas übrig geblieben, das man wieder aufbauen konnte.
»David, es ist noch viel schöner als auf den Fotos, die du mir gezeigt hast«, flüsterte Greta. »Verschneit sieht es aus wie auf einer Weihnachtskarte.«
Als David den Wagen direkt vor der Eingangstür abstellte, nahm er durch ein Fenster den Schein der eingeschalteten Lampen sowie die glitzernden Lichter eines Weihnachtsbaums wahr. Die Atmosphäre unterschied sich so sehr von seiner Erinnerung an sein kaltes, strenges Elternhaus, dass ihn plötzlich ein Gefühl der Euphorie überkam. Vielleicht hatten die Flammen tatsächlich die Vergangenheit weggebrannt, im übertragenen wie im eigentlichen Sinn. Wäre nur seine Mutter noch am Leben gewesen, um diese bemerkenswerte Verwandlung zu sehen!
»Ja, ich finde es auch hübsch«, pflichtete er ihr bei, während er die Autotür öffnete, worauf sich eine kleine Schneelawine vom Dach löste. »Lass uns reingehen. Koffer und Geschenke hole ich später.«
David lief um den Wagen herum und machte die Beifahrertür auf. Beim Aussteigen versanken Gretas Füße mitsamt Slippern knöcheltief im Schnee. Als sie zuerst den Blick zum Haus hob und dann auf ihre Füße im Schnee senkte, regte sich plötzlich eine Erinnerung in ihr.
Hier war ich schon mal …
Sie blieb, erschrocken darüber, dass tatsächlich etwas mit ihrem Gedächtnis passierte, stehen und versuchte verzweifelt, diesen Erinnerungssplitter festzuhalten. Ohne Erfolg.
»Komm, Greta, hier draußen holst du dir den Tod«, sagte David und streckte ihr den Arm hin.
Nach einer herzlichen Begrüßung durch die Haushälterin Mary, die seit über vierzig Jahren in Marchmont arbeitete, brachte David Greta in ihr Zimmer, wo sie sich ein wenig hinlegte. Er konnte sich vorstellen, dass der Stress der Entscheidung, zum ersten Mal seit Jahren ihr Zuhause zu verlassen, sowie die lange Fahrt von London sie körperlich wie geistig erschöpft hatten.
Dann ging er zu Mary, die gerade den Teig für Mince Pies ausrollte, in die völlig neu eingerichtete Küche. David ließ den Blick stolz über die glänzenden Granitarbeitsflächen und die modernen Einbauschränke wandern. Die Küche war Davids einziges Zugeständnis an die Moderne. Bei allen anderen Räumen hatte sich die Renovierung an den ursprünglichen Plänen orientiert, eine Herkulesaufgabe, zu deren Lösung wochenlange Recherchen in Bibliotheksarchiven und eigene Fotos nötig gewesen waren. David hatte Heerscharen örtlicher Handwerker angeheuert, die alles, von den Fliesenböden bis zu den Möbeln, dem Marchmont von früher so ähnlich wie möglich gestalteten.
»Hallo, Master David«, begrüßte Mary ihn mit einem Lächeln. »Jack hat vor zehn Minuten angerufen. Wegen des Schnees hat der Zug Verspätung. In einer Stunde müsste Jack mit Tor da sein. Er hat den Land Rover genommen, also dürften sie kein Problem mit dem Herkommen haben.«
»Gut. Na, wie gefällt dir dein neues Reich?«, erkundigte er sich.
»Toll. Alles ist noch so schön und frisch«, antwortete Mary in ihrem weichen walisischen Tonfall. »Kaum zu glauben, dass es ein und dasselbe Haus ist. Ich hab’s jetzt in der Küche so warm, dass ich selten das Feuer im Kamin anzünden muss.«
»Und deine Wohnung ist auch gemütlich?«, fragte David. Nach dem Tod ihres Mannes Huw einige Jahre zuvor hatte sie sich in ihrem Cottage einsam gefühlt, weshalb David vom Architekten im geräumigen Speicher eine Wohnung für Mary hatte einbauen lassen. Nach allem, was passiert war, beruhigte es ihn, jemanden im Haus zu haben, wenn Ava und Simon einmal verreisen mussten.
»Ja, danke. Von da oben hat man einen...
Erscheint lt. Verlag | 8.12.2014 |
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Übersetzer | Sonja Hauser, Ursula Wulfekamp |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Not Quite an Angel |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amnesie • eBooks • englisches Herrenhaus • Frauenromane • Frauenunterhaltung • Frauenunterhaltung, Wales, Englisches Herrenhaus • Geschenk für Mütter Mama Mutti • Geschenk Muttertag • Großbritannien • Liebesromane • London • Muttertag • Neuausstattung • Romane für Frauen • spiegel bestseller • spiegel-nr.-1-bestseller • Vierzigerjahre • Wales |
ISBN-10 | 3-641-14510-4 / 3641145104 |
ISBN-13 | 978-3-641-14510-1 / 9783641145101 |
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