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Die vergessene Mitte der Welt (eBook)

Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403017-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die vergessene Mitte der Welt -  Stephan Wackwitz
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Fünf Jahre hat Stephan Wackwitz in Georgien gelebt und auch seine Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan bereist. Es sind uralte Kulturländer am östlichsten Rand Europas und zugleich höchst lebendige Staaten, die sich seit ihrer Loslösung von der Sowjetunion in den frühen 90er Jahren auf einem abenteuerlichen und kurvenreichen Weg in die Moderne befinden. Stephan Wackwitz erlebte in Georgien dramatische politische Machtwechsel und den permanenten Kampf um Demokratie und Menschenrechte. Er beobachtete, wie ein immenser Bauboom das Gesicht der Städte für immer veränderte. Vor allem aber spürte er mit großer Sensibilität den besonderen Atmosphären im Herzen des eurasischen Kontinents nach, wo sich nicht nur Westen, Osten und Süden, sondern auch alle Zeiten magisch zu mischen scheinen. »eines der klügsten und schönsten Bücher, die ich im letzten Jahrzehnt über den Kaukasus gelesen habe.« Olga Grjasnowa, Die Welt

Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, verbrachte 26 Jahre im Ausland und lebt heute wieder in Berlin. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«, »Walkers Gleichung«), kulturhistorisch-autobiographische Bücher über Tokio, Osteuropa und den Kaukasus sowie historisch-biographische Bücher über seinen Großvater (»Ein unsichtbares Land«) und seine Mutter (»Die Bilder meiner Mutter«). Literaturpreise: Wilhelm-Müller-Preis 2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012 Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016

Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, verbrachte 26 Jahre im Ausland und lebt heute wieder in Berlin. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«, »Walkers Gleichung«), kulturhistorisch-autobiographische Bücher über Tokio, Osteuropa und den Kaukasus sowie historisch-biographische Bücher über seinen Großvater (»Ein unsichtbares Land«) und seine Mutter (»Die Bilder meiner Mutter«). Literaturpreise: Wilhelm-Müller-Preis 2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012 Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016

Es ist ein Verdienst von Stephan Wackwitz dem bleibenden Reiz der Region in einer beeindruckend präzisen historischen Tiefendimension nachgespürt zu haben.

Mit umfassender Belesenheit und Bildung macht Wackwitz sich ans landes- und gefühlskundliche Forschen, wodurch er Atmosphären und Architekturen überhaupt erst lesbar macht und analytisch erschließt.

Mit leichter Hand erzählt er Geschichtliches, packend berichtet er über Politisches […]. Vor allem aber beschreibt er mit klugem Blick, wie Architektur aussieht, die einer Ideologie gehorcht.

Das Schreiben von Essays ist eine Kunst, und kaum ein anderer deutscher Autor beherrscht sie so gut wie Stephan Wackwitz.

Stephan Wackwitz gehört zu den besten deutschsprachigen Essayisten. (…) Die Neuentdeckung einer großen Landschaft.

eines der klügsten und schönsten Bücher, die ich im letzten Jahrzehnt über den Kaukasus gelesen habe.

Es gibt im gegenwärtigen Deutschland wohl keinen zweiten Autor, der wie Stephan Wackwitz Kopf- und reale Reisen so elegant in Einklang zu bringen vermag.

Wackwitz erkundet die Städte als aufmerksamer urbaner Wanderer, der in seinem geistigen Gepäck historisches Wissen und eine hohe selbstreflexive Bildung mit sich führt.

8½


Ein Samstagmorgen in Tiflis, Oktober 2011. Die offene Tür meines Schlafzimmers führt auf eine für mich und meine Zwecke viel zu große Veranda, wo Palmen und Gartenstühle verstauben. Eine Katze aus der Nachbarschaft hat sich in der Nacht auf das Plastikdach verirrt (fällt mir jetzt ein) und in meine Träume undeutlich hineingelärmt. Der Himmel ist jetzt schon so blau wie seit Wochen tagein, tagaus von morgens bis abends. Herbstliche Frühsonne liegt auf den Höhenzügen über Tiflis. In Baseballschlagweite von meinem Bett entfernt steigt ein Hügel auf die gut doppelte Höhe des achtstöckigen Apartmenthauses, in dessen oberster Etage ich seit drei Wochen mich einrichte und zurechtfinde. Der Hang ist überwachsen mit Architektur, die so selbstgebastelt aussieht, wie sie ist. Denn hier verwirklicht sich der Bauherr meist eigenhändig. Zwischen Gärten, Bäumen, Treppen, Gassen, Rohren, Zäunen, Hecken und Sträuchern stehen Hütten (und sogar ganze Villen) in verschiedenen Do-it-yourself-Baustadien, nach schwer nachvollziehbaren Kriterien da und dort hingesetzt, erweitert und aufgestockt. Seit dem frühen Morgen wird repariert, gebessert und gehämmert. Baugerüste sind allgegenwärtig. Aus Blech zusammengelötete Schornsteine rauchen. Zementmischer sind in Betrieb, Kreissägen. Schuppenartiges zeigt sich, unfertige Häuserskelette aus Stahlbeton, Bauruinen. Hähne krähen, Hunde schlagen an.

 

Autos bewegen sich auf Geröllstraßen aufwärts. Romantisch verschlampte Backsteinhäuser in der soliden Bauweise der dreißiger Jahre liegen, vom allgemeinen Um- und Ausbau noch unberührt, als Relikte sowjetischer Vorzeit in verwachsenen Gärten. Gleich daneben ragt der gleichsam keinen Spaß mehr verstehende Postmodernismus einer zeitgenössischen Bauwirtschaft: renommierende Solitäre, die mit pistazienfarbenem, gelbem oder hellrosa Verputz, mit auffallenden Gauben, Panoramafenstern und perfekten Ziegeldächern demonstrieren, dass man hier mit der Zeit geht und ihre Zeichen zu deuten weiß. Das sind die Eigenheime und Wohlstandsmonumente einer noch nicht lang arrivierten Tifliser upper middle class. Veranden öffnen sich in spektakulären Höhen. Dort oben muss der Blick unvergleichlich sein in das kilometerbreite, löwenfarbene Trockenstromtal, an dessen Ausgang Tiflis liegt.

 

Ein weißer Schmetterling flattert von einer kompliziert verzweigten Fernsehantenne ab, fliegt schaukelnd vor einer feuerrot überwachsenen Hauswand aufwärts und verliert sich nach oben aus meinem Gesichtsfeld. Wäsche trocknet und regt sich im leichten Wind. Ein eisernes Geländer und die Silhouette einer bergab gehenden Frau zeichnen sich vor einer hellen Wand ab, sie trägt ihre Handtasche in der Armbeuge. Geländer, Frauensilhouette und Handtasche sehen von hier unten aus wie eine Tuschzeichnung von Saul Steinberg. Taubenschwärme kreisen. Eine Elster schwingt sich von einem Dachfirst in die Tiefe, gleitet wieder aufwärts, landet in den Zweigen eines Walnussbaums, dessen letzte Blätter gelb in der Sonne leuchten, reckt ihre langen Schwanzfedern kurz in die Höhe und putzt in ihrem Gefieder herum. Eine orthodoxe Kapelle steht zwischen Pinien am Hang. In der Ferne hinter ihr erstrecken sich sizilianisch kahle Höhenzüge, nur mit Nadelbäumen, Macchia und Hochspannungsmasten bestanden und durchzogen von Schluchten – fast schon ernsthafte Berge.

 

Elektrooberleitungen an grauen Betonpfosten führen hinauf zum Hügelkamm. In jeder noch so schmalen Lücke und noch nicht bebauten Ecke stehen herbstlich sich färbende Pappeln, Kastanien und Obstbäume. Veranden sind mit rotem Weinlaub und blauschwarzen Trauben überwachsen. Die schon fast blätterlosen Zweige der Kaki-Bäume sind so schwer mit ihren orangefarbenen Früchten beladen, dass man sich nicht denken kann, wer so viele Kakis jemals abernten und essen mag; und es erntet sie offenbar auch niemand ab. Palmen, Yuccas. Oleanderbüsche. Topfpflanzen. Zypressen verbreiten als haushohe schwarzgrüne Spindeln ihre schwer greifbare gravitas und scheinen etwas zu bedeuten. Das Schicksal vielleicht oder den Tod, geht es einem durch den Sinn; oder auch einfach nur das irgendwie Mittelmeerische. Im lappigen Blattwerk niedrig verzweigter Feigenbäume hängen die süßen, graublauen Früchte als Tropfen oder Säckchen. Und im gefiederten Laub der Granatapfelbüsche leuchten die dunkelrot bauchigen Kugeln, die man bei uns nur in großstädtischen Feinkostläden sieht. Hier wachsen sie wild. Man hält die Farbflecken der Feigen und der Granatäpfel im letzten Grün für Blüten, wenn man flüchtig aus dem Fenster sieht.

 

An einem Samstag vor vier oder fünf Wochen (ich wohnte noch im Hotel) bin ich eingestiegen in eine weiter östlich gelegene Sektion des langgestreckten Hügels, den ich von meinen Fenstern aus sehe. Eine Staffel aus grobem Beton schien zunächst nur zu privaten Grundstücken und Häusern zu führen. Vor deren Eingängen es dann aber mit überraschenden Biegungen doch weiterging, immer tiefer gleichsam ins Innere dieses seit vielen Generationen intensiv und kleinteilig bewohnten und bewirtschafteten Bergrückens. Unter Bäumen lagen winzige Gärten im Schatten. Dann wieder der weite Ausblick auf die Stadt und das Steppenland in der Ferne, bis zum schon ganz schneebedeckten Hochgebirge am äußersten Horizont. Katzen kreuzten meinen Weg oder lagerten auf niedrigen Mauern. Autos waren in schmalen Sträßchen geparkt – man konnte sich nicht vorstellen, wie sie jemals wieder zurückfinden würden in den Verkehrsstrom der Großstadt. Ich kam nach zehnminütigem Steigen auf einer ebenen Höhenstraße an und sah zurück auf das Stadtpanorama. Eine russische Kirche, sehr weiß und reich an Fensterbögen und Zwiebeltürmen, stand zwischen Bäumen über dem Abhang. Und auf der gegenüberliegenden Straßenseite begann das Geröll-, Dornbusch- und Pinienland, das die Stadt auf steilen Höhenzügen rings umgibt.

 

Ich wollte zum Fernsehturm. Es war eine denkbar verkehrte Idee. Der Fernsehturm von Tiflis, den man von so gut wie überallher in dieser Stadtlandschaft am Horizont stehen sieht, ist eine der grazilsten und abenteuerlichsten Konstruktionen, die dieses Architekturgenre im letzten Jahrhundert (als es von Stuttgart bis Duschanbe Weltläufigkeit und Fortschritt symbolisierte) hervorgebracht hat. Der rotweiß lackierte Zentralpfeiler trägt in Höhe des Goldenen Schnitts den runden Turmkorb mit dem Antennengestänge darüber; zwei dünnere Pfeiler zweigen unter ihm ab, und auf mittlerer Höhe schwebt eine Plattform für meteorologische Forschungen. Nachts ist der Turm, als sei das seine eigentliche Funktion, unaufhörlich belebt durch computergesteuerte Lichtspiele unzähliger LCD-Leuchten, mit denen er ganz übersponnen ist. Lichtfontänen und -ejakulationen schießen in die Höhe, spiralige Umdrehungen jagen sich, dann wieder begibt sich allgemeines Flimmern. Es sind stumme Schauspiele der Energieverschwendung am nächtlichen Stadthimmel, in schneller und bei näherem Hinsehen entschieden hysterisch wirkender Folge. In den frühen Morgenstunden flackern dann, als sei der Turm von seinen nächtlichen Exzessen erschöpft, nur noch ein paar der Leuchtdioden ratlos vor sich hin. Ein Taxifahrer erzählte neulich, während wir spätabends unter der phantasmagorisch überinstrumentierten Weihnachtsbeleuchtung des Rustaweli-Boulevards dahinfuhren, in der Schewardnadse-Zeit sei die Hauptstadt nachts bedeckt gewesen von allgemeiner Finsternis, in der die verschiedensten Gefahren umgingen. Neben dem Fernsehturm und seiner monumentalen Stromverausgabung ist auch ein Riesenrad farbig beleuchtet und belebt; am Tag dreht es sich fast unmerklich langsam durch den wolkenlosen Himmel.

 

Dort also wollte ich hin. Und ich war ahnungslos genug, es auf einem irgendwie direkten Weg durch die Macchia versuchen zu wollen. Turm und Riesenrad schienen über mir ja ganz nah, und tückischerweise ging es zu Beginn auch auf sehr befestigten und soliden Betontreppen gemächlich und sicher aufwärts. Ein Kinderspiel. Junge Liebespaare saßen knutschend auf den zahlreichen Absätzen und Aussichtsplattformen meines bequemen Anstiegs, lösten sich schuldbewusst voneinander, wenn sie mich kommen sahen, und blickten verlegen vor sich hin, wenn ich an ihnen vorbeiging (als hätte ich, nur weil erwachsen, ihnen irgendetwas zu verbieten). Ich machte mir auch noch überhaupt keine Sorgen, als das solide Treppenbauwerk nach enttäuschend kurzer Erstreckung – es kann nicht viel länger als einen halben Kilometer in den Hang hineingeführt haben – sich abrupt in einen unbefestigten Pfad verwandelte, der aber weiterhin recht geplant oder zumindest viel begangen wirkte und in kluger Streckenführung und zum Teil fast ebenerdig durch die mit Kiefern, Dornbüschen und verdorrten Gräsern wechselhaft bewachsene Landschaft führte.

Die Aussicht war sensationell – muss man das erwähnen? Sie ist es ja überall auf den Bergen um Tiflis. Wenn ich nach zwanzig Minuten Aufstieg immer öfter stehen blieb, dann beileibe nicht nur, weil ich inzwischen immer kurzatmiger geworden war. Sondern vor allem, um das eine oder andere Wahrzeichen von Tiflis im Tal zu identifizieren und mich am Wiedererkennen der Stadtlandschaft von hier oben zu erfreuen. Auch kam mir beruhigenderweise ein Trupp schweißüberströmter junger Männer in Sportkleidung entgegen, die lachend und freundlich grüßend offensichtlich von irgendeinem Ertüchtigungsausflug zurückkehrten (hatten sie da oben irgendwo gejoggt, um Himmels willen?). Und ich gab mich in der nächsten halben Stunde...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2014
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alexander Tamanjan • Armenien • Aserbaidschan • Baku • Demokratie • Eriwan • Essay • Eurasien • Georgien • Ian Jeffrey • Kaukasus • Lawrenti Berija • Louis Aragon • Menschenrechte • Michael Saakaschwili • Osteuropa • Paris • Reportage • Tiflis • Walter Benjamin
ISBN-10 3-10-403017-0 / 3104030170
ISBN-13 978-3-10-403017-3 / 9783104030173
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