Auf Treu und Glauben (eBook)
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60200-5 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
[7] 1
Brunetti hielt es nur noch mit letzter Willenskraft am Schreibtisch aus, als Ispettore Vianello bei ihm eintrat. Der Commissario hatte sich einen Bericht über Waffenschmuggel im Veneto zu Gemüte geführt, in dem Venedig nicht ein einziges Mal vorkam, sich dann ein Schreiben vorgenommen, dem zufolge zwei neue Rekruten an die Squadra Mobile überstellt werden sollten, bevor ihm klar wurde, dass sein Name gar nicht auf dem Verteiler stand; und schließlich hatte er noch einen ministeriellen Bescheid zur Neuregelung von Frühpensionierungen überflogen. Mehr war angesichts der Dicke des Dokuments nicht drin gewesen. Das Opus lag vor ihm, während Brunetti aus dem Fenster starrte und hoffte, es würde jemand hereinkommen und ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten, oder es würde regnen, oder er fände Einlass in den Himmel und entginge so der stickigen Hitze in seinem Büro und überhaupt dem Elend des Augusts in Venedig.
Und so erschien ihm Vianello, der mit der aktuellen Gazzetta dello Sport unterm Arm bei ihm auftauchte, als die Erlösung. »Was ist das denn?«, fragte Brunetti pikiert und zeigte auf die rosafarbene Zeitung. Natürlich kannte er das Blatt, nur war ihm schleierhaft, wie Vianello damit herumlaufen konnte.
Der Inspektor warf einen zerstreuten Blick auf die Zeitung. »Die hat jemand auf der Treppe verloren. Ich wollte sie nachher unten im Bereitschaftsraum abgeben.«
[8] »Ich dachte schon, die gehört dir«, sagte Brunetti grinsend.
»So schlecht ist die auch wieder nicht.« Vianello nahm Platz und warf die Zeitung auf Brunettis Schreibtisch. »Als ich das letzte Mal hineingesehen habe, war ein langer Artikel über die Polomannschaften bei Verona drin.«
»Polo?«
»Offenbar haben wir sieben Polomannschaften in diesem Land, oder auch allein schon in der Gegend von Verona.«
»Mit Ponys und weißer Kleidung und Polohelmen?«, fragte Brunetti belustigt.
Vianello nickte eifrig. »Da waren Fotos dabei. Marchese hier und Conte da, dicke Villen und Palazzi.«
»Bist du sicher, dass dir die Hitze nicht zu Kopf gestiegen ist? Verwechselst du das nicht mit etwas, das du, was weiß ich, in Chi gelesen hast?«
»Chi lese ich schon gar nicht«, verwahrte sich Vianello.
»Kein Mensch liest Chi«, stimmte Brunetti zu, dem noch nie ein bekennender Chi-Leser begegnet war. »Der Klatsch wird durch Moskitos übertragen und sickert einem ins Gehirn, wenn man gestochen wird.«
»Und mir soll die Hitze zu Kopf gestiegen sein«, meinte Vianello nur.
Die beiden schwiegen, in Schlaffheit vereint, keiner brachte auch nur die Energie auf, wenigstens über die Hitze zu stöhnen. Vianello beugte sich vor, bog einen Arm nach hinten und zupfte an seinem Baumwollhemd, das ihm am Rücken klebte. »Auf dem Festland ist es noch schlimmer«, sagte er schließlich. »In Mestre hatten sie gestern 41 Grad in den Büros nach vorne raus.«
[9] »Ich dachte, die haben eine Klimaanlage?«
»Rom hat sie angewiesen, die nicht einzuschalten, damit es nicht wieder zu einer Überlastung des Netzes kommt wie vor drei Jahren.« Vianello hob die Achseln. »Hier sind wir jedenfalls besser dran als die Kollegen in ihrem Kasten aus Glas und Beton.« Er sah nach den offenen Fenstern, durch die das Licht des Vormittags strömte. Die Vorhänge bewegten sich lustlos, aber immerhin.
»Und die stellen die Klimaanlage wirklich nicht an?«, fragte Brunetti.
»Haben sie jedenfalls behauptet.«
»Würde ich nicht glauben.«
»Ich auch nicht.«
Wieder schwiegen sie, bis Vianello sagte: »Ich wollte dich was fragen.«
Brunetti sah ihn an und nickte: Das war einfacher, als etwas zu sagen.
Vianello strich mit einer Hand über die Zeitung und lehnte sich zurück. »Hast du eigentlich schon mal«, fing er an und unterbrach sich, als suche er nach dem richtigen Wort, »dein Horoskop gelesen?«
Brunetti überlegte kurz. »Nicht bewusst.« Auf Vianellos fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Das heißt, ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals eigens die Zeitung danach durchgeblättert hätte. Aber wenn sie jemand auf dieser Seite offen liegen lässt, werfe ich schon mal einen Blick darauf.« Vergeblich wartete er auf eine Erklärung. »Warum?«, hakte er schließlich nach.
Vianello rutschte auf seinem Stuhl herum, stand auf, strich seine Hose glatt und setzte sich wieder. »Es geht um [10] meine Tante, die Schwester meiner Mutter. Die letzte, die noch lebt. Anita. Sie liest neuerdings täglich ihr Horoskop. Ob die Voraussage eintrifft oder nicht, ist ihr gleichgültig, da steht ja eh nie was Genaues, oder? ›Sie werden eine Reise unternehmen.‹ Wenn sie am nächsten Tag zum Rialto-Markt geht, um Gemüse einzukaufen: Da hat sie ihre Reise.«
Vianello erwähnte seine Tante nicht zum ersten Mal: Sie war die Lieblingsschwester seiner verstorbenen Mutter und seine Lieblingstante, offenbar, weil sie von allen in der Familie den stärksten Willen besaß. In den fünfziger Jahren hatte sie einen Elektrikerlehrling geheiratet, der wenige Wochen nach der Hochzeit auf der Suche nach Arbeit in Richtung Turin verschwunden war. Sie wartete fast zwei Jahre lang, bis sie ihn wiedersah. Zio Franco hatte Glück gehabt und schließlich bei Fiat Arbeit gefunden, wo man ihm ermöglicht hatte, die Meisterprüfung abzulegen.
Zia Anita zog nach Turin, und sie lebten dort sechs Jahre. Nach der Geburt ihres ersten Sohns zogen sie nach Mestre, wo Zio Franco seinen eigenen Betrieb aufmachte. Die Familie wuchs, der Betrieb wuchs: Beides gedieh prächtig. Erst Ende der Siebziger hängte Zio Franco sein Geschäft an den Nagel und zog zur Überraschung seiner Kinder, die alle auf der terraferma aufgewachsen waren, nach Venedig zurück. Gefragt, warum keins ihrer Kinder mit ihnen nach Venedig wollte, hatte Zia Anita geantwortet: »Die haben Benzin im Blut, kein Salzwasser.«
Brunetti wollte sich gern anhören, was Vianello ihm von seiner Tante zu erzählen hatte. Es würde ihn davon abhalten, alle paar Minuten ans Fenster zu treten, um nachzusehen, ob… Ob was? Ob es angefangen hatte zu schneien?
[11] »Seit neuestem sieht sie sich die im Fernsehen an«, sagte Vianello.
»Horoskope?«, fragte Brunetti verblüfft. Er sah nur unregelmäßig fern, gezwungenermaßen, wenn jemand anders in der Familie den Kasten anmachte, und hatte keine Ahnung, was es dort alles zu sehen gab.
»Ja. Oder vielmehr diese Kartenleger und Wahrsager, die behaupten, sie können deine Probleme lösen.«
»Kartenleger?«, konnte er nur wiederholen. »Im Fernsehen?«
»Ja. Da rufen Leute an, und dann liest jemand die Karten für sie und erklärt ihnen, wovor sie sich hüten sollen, oder verspricht ihnen Beistand, wenn sie krank sind. So habe ich es jedenfalls von meinen Cousins gehört.«
»Pass auf, dass du nicht die Treppe runterfällst? Hüte dich vor einem großen dunkelhaarigen Fremden?«, fragte Brunetti.
Vianello zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe es selbst nie gesehen. Kommt mir lächerlich vor.«
»Nein, nicht lächerlich, Lorenzo«, erklärte Brunetti. »Seltsam, mag sein, aber nicht lächerlich.« Und nach kurzem Nachdenken: »Vielleicht auch gar nicht mal so seltsam.«
»Warum?«
»Weil sie eine alte Frau ist«, sagte Brunetti. »Wir neigen zu der Annahme – wenn Paolo oder Nadia jetzt hier wären, würden sie sagen, ich sei voreingenommen –, dass alte Frauen leichtgläubig sind.«
»Hat man sie aus diesem Grund nicht auch als Hexen verteufelt?«, fragte Vianello.
Brunetti hatte zwar einmal große Teile des [12] Hexenhammers gelesen, aber trotzdem nie begriffen, warum damals ausgerechnet alte Frauen verbrannt worden waren. Vielleicht, weil viele Männer dumm und böse sind, oder aber alte Frauen schwach und ohne Fürsprecher.
Vianello wandte seine Aufmerksamkeit dem Fenster und dem Licht zu. Brunetti spürte, der Ispettore wollte sich nicht drängen lassen; früher oder später würde er von allein mit seinem Anliegen herausrücken. Fürs Erste ließ Brunetti ihn das Licht studieren und nutzte die Gelegenheit, seinen Freund zu beobachten. Vianello vertrug Hitze ohnedies nicht gut, schien aber in diesem Sommer noch mehr darunter zu leiden als sonst. Sein verschwitztes Haar war dünner, als Brunetti es in Erinnerung hatte. Und sein Gesicht wirkte aufgequollen, besonders um die Augen.
Vianello riss Brunetti aus seinen Betrachtungen: »Meinst du, alte Frauen sind wirklich gutgläubiger?«
Brunetti dachte darüber nach. »Ich weiß es nicht. Du meinst, gutgläubiger als unsereiner?«
Vianello nickte und wandte sich wieder dem Fenster zu, als wollte er die Vorhänge zwingen, sich ein wenig mehr zu bewegen.
»Nach dem, was du mir im Lauf der Jahre von ihr erzählt hast, scheint sie mir gar nicht der Typ für so etwas zu sein«, sagte Brunetti schließlich.
»Stimmt schon. Deswegen ist es ja so beunruhigend. Sie war immer der klügste Kopf der Familie. Mein Onkel Franco ist ein guter Mensch, und er war ein sehr fleißiger Arbeiter, aber er wäre nie von sich aus auf die Idee gekommen, seinen eigenen Betrieb aufzumachen. Mal davon abgesehen, dass er gar nicht die Fähigkeiten dazu besaß. Das ging [13] alles von ihr aus; sie hat ihm auch die Bücher geführt, bis er in den Ruhestand ging und sie wieder hierhergezogen sind.«
»Hört sich nicht nach einer Frau an, die morgens als...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2012 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | A Question of Belief |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Betrug • Betrüger • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Guido • Italien • Korruption • Krimi • Mord • Sommer • Südtirol • träge Justiz • Venedig |
ISBN-10 | 3-257-60200-6 / 3257602006 |
ISBN-13 | 978-3-257-60200-5 / 9783257602005 |
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